Ahnungslos durch die Nacht

Mit zwei Stunden Verspätung fährt der Zug, der uns samt unserem Hund und dem Auto nach Hamburg bringen wird, in Lörrach los, aber das macht nichts; schliesslich hatte niemand ahnen können, dass im Waggon 4, in dem wir das Abteil 3 reserviert hatten, ausgerechnet an diesem Abend für eine Weile der Strom ausfallen würde, aber jetzt ist er wieder da, der Pfuus, und während wir es uns in unserem mobilen Zimmerchen gemütlich machen und einen Happen essen, drückt der Lokomotivführer das Gaspedal (wobei: Gas?) immer tiefer nach unten, und alles ist gut.

Als die Nacht über Süddeutschland hereingebrochen ist, legen sich meine zwei mitreisenden Damen zur Ruhe. Ich schlurfe ein paar Meter weiter nach vorne in den Speisewagen., wo ein Teil der Passagiere gerade damit beschäftigt ist, kalte Stromausfall-Gedenkplatten zu verputzen (die Speisekarte preist auch ein Braten aus dem Ofen an, aber daraus wird heute wohl nichts). Die andere Hälfte verpflegt sich, an Sechsertischchen sitzend, flüssig. An der Bar steht eine ältere Dame vor einem Glas Rotwein.

Ohne, dass ich ihn darum gebeten hätte – aber mit perfektem Timing – hängt sich Rainhard Fendrich in meinem Kopf eine Gitarre um und beginnt zu singen:

Eine Stunde vor Mitternacht hält der Zug in the middle of nowhere. Das Bahnpersonal und der offenbar einzige noch muntere Raucher steigen aus, um ihre Nikotinspeicher aufzufüllen.

In den Lärm des Baggers hinein, der weiter hinten gleichmütig ein gewaltiges Loch in das Perron schaufelt, frage ich einen Mitarbeiter, wann wir in Hamburg ankommen („Keine Ahnung. Halb Sieben, denk ich ma, vielleicht auch um Sieben. Fahrplanmässig wäre um Zehnvor.“), und wieviele Zwischenstopps es bis dahin noch geben würde („Kommt ganz darauf an. Zwei? Drei? Können auch mehr sein, oder weniger.“).

Dass wir nicht auf die Hundertstelsekunde genau rechtzeitig gestartet seien, spiele absolut keine Rolle, erklärt mir der Chef der Truppe. „Sie glauben gar nicht, wieviel Zeit wir haben, um das bis Hamburg aufzuholen.“

Mir wird klar: Dies ist kein Zug wie jeder andere. Er funktioniert quasi ausserhalb des Gesetzes nach einem Plan, den – wenn überhaupt – nur die Menschen kennen, die in ihm arbeiten. Sein Puls schlägt in Stunden, nicht in Minuten.

Dieser Umstand schenkt dem Personal und seinen Gästen Freiheiten, die „normale“ Bahnleute nicht haben. „Neulich musste einer dringend mit dem Hund raus. Also haben wir für ihn und seinen Wauwau einen Stopp eingelegt“, erzählt einer der Uniformierten auf dem Perron.

Dass der Mann den Extrahalt nutzte, um mit dem Vierbeiner seelenruhig einen veritablen Bummel den Schienen entlang zu unternehmen, sei zwar nicht vorgesehen gewesen, habe aber auch niemanden aus der Ruhe gebracht.

23.18 Uhr: Die Frau an der Bar ist vom Wein auf Cognac umgestiegen und lässt ihr Publikum schwerzüngig wissen, sie sei 72 Jahre alt und noch sehr viel besser beieinander als ihr 52-jähriger Sohn, der immer noch bei ihr daheim wohne und so weiter und so fort.

Um 00.36 teilt mir ein Uniformierter mit, wir seien gleich in Darmstadt; dort gebe es die nächste Rauchgelegenheit. Nebeneinander stehen wir, je ein Päckli Zigaretten und ein Feuerzeug in den Händen, im Gang. Der Zug bremst ab, nähert sich dem Bahnhof, passiert im Schrittempo zwei Schilder mit der Aufschrift „Darmstadt“ – und beschleunigt erneut.

„Tja. War wohl nix“, sagt der Uniformierte und verstaut die rotweisse Schachtel achselzuckend in seiner Westentasche. „Letztes Mal gabs hier eine Pause. Ich habe keine Ahnung, was heute…aber ist ja egal“, sagt er.

Wir gehen zurück in den Speisewagen. Er, der Barkeeper und ich sind nun unter uns. Die totalbetrunkene Frau wurde von einer gutmeinenden Mitreisenden in ihr Abteil geleitet.

Der Barmann zählt Münz, der Bähnler trocknet Gläser ab. Ich tippe auf dem Laptop herum. Eigentlich bin ich todmüde, aber die surreale Stimmung hält mich wach. Es ist, als ob Raum und Zeit neu justiert worden wären.

Ein Ruck geht durch den Zug. Wir sind in Frankfurt Main Süd angekommen. Wer noch oder schon wieder wach ist, steigt ungeschminkt, in Trainerhose und T-Shirt und mit verstrubbelten Haaren aus. Schweigend qualmt das Grüppli auf dem verlasssenen Bahnsteig.

Kein Mensch weiss, wann es weitergeht, aber das kümmert niemanden. Wir haben ja Zeit.

Unendlich viel Zeit.

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