An Pfingften pfum Pfahni

Das Knöchelchen war kaum zu sehen. Ich spürte es nur, als ich darauf biss. Das war gestern Nachmittag.

Etliche Schweissausbrüche und hochpotente Schmerztabletten später steht fest: Ich muss heute zum Zahnarzt.

Heute. An Pfingsten. Am zweiten richtigen Sommertag dieses Jahres; mit Sonne, 30 Grad im Schatten und mit dem vom Schatz fertig montierten

Kugelgrill im Gärtli

vor Augen.

Wobei: Der Tag ist damit nicht nur für mich im Eimer, sondern auch – aber das kann er noch nicht wissen – für den Sonntagsdiensthabenden im Zahnarztzentrum Bern. Denn Leute wie mich auf dem Stuhl vor sich liegen zu haben: Das muss für jemanden, der mit im Weltraum entwickeltem Hightech-Werkzeug auf kleinstem Raum Präzisionsarbeit verrichten sollte, ein Albtraum sein.

Eigentlich hat er nur eine Chance, wenn er mich unmittelbar nach der Anmeldung vollnarkotisiert. Andernfalls wird er es kaum schaffen, dem zuckenden, zappelnden, sich windenden, mit den Füssen ausschlagenden und die Hände um alles Greifbare krampfenden Patienten auch nur eine erste (von hoffentlich mindestens einem halben Dutzend) Spritzen zu verpassen, um mit der eigentlichen Arbeit beginnen zu können.

Und dabei sind die Spritzen das einzige, was mir beim Zahnarzt nichts, aber auch wirklich nicht das Geringste ausmacht.

Woher diese Angst – wir Hypersensibelchen sprechen zwar lieber nicht von Angst, sondern von einer Dentophobie – rührt?

Nun: Als Kind musste ich jeweils zu einem Zahnarzt, der als Notfallchirurg in der Schlacht von Stalingrad eine mindestens ebenso gute Falle gemacht hätte wie in seiner Praxis im oberen Wynental. Kaum hatte er begonnen, einem mit seinen Haken und Bohrern und all den anderen Folterinstrumenten im Mund herumzufuhrwerken, knurrte er auch schon, „tu nicht so blöd!“ Diesen Satz wiederholte er im Zwanzigsekundentakt, während er einen – wie mir schien: Nicht ohne Freude – weiter traktierte, bis man, nach einer Ewigkeit, spülen und aufstehen und die Stätte des Grauens unkontrolliert taumelnd und halb blind vor Tränen verlassen konnte.

Über Tote nichts Böses, ich weiss. Aber falls dieser Zahni nach seinem Ableben an einen Ort gekommen sein sollte, wo ihm Berufsanfänger rund um die Uhr eine Wurzelbehandlung nach der anderen verpassen, obwohl die Betäubungsmittel leider, leider längst ausgegangen sind, rufe ich ihm aus den Diesseits fröhlich zu: „Tu nicht so blöd!“

Einige Zahnärzte, die sich später um mich kümmern mussten, gaben sich ein bisschen mehr Mühe; jedenfalls zeigten sie mir nicht allzu offensichtlich, wieviel Spass ihnen das Quälen von Wehrlosen bereitet. Meinen Dentisten in Freiburg hätte ich sogar um ein Haar auf den Zähnen von Alice Schwarzer für den Versöhnungs-Nobelpreis nominiert. Er erklärte mir zuerst an grossen Bildern, wo was kaputt ist, erläuterte mir anschliessend wie einem Sechsjährigen, was er gleich zu tun gedenke, zeigte mir all seine Instrumente, setzte mir soviele Spritzen, wie ich wollte, und überliess mir seinen Walkman, damit ich abgelenkt war, während er flickte.

Daran, dass aus dem Nobelpreis nichts wurde, ist er selber schuld: Wäre die Rechnung am Ende nur um ein My weniger üppig ausgefallen, wie sie ausfiel, hätte er reale Aussichten auf einen Platz in der Hitparade meiner 1000 nettesten Mitmenschen gehabt. Aber so? Keine Chance.

Und das war noch nicht alles: In Luzern war ich einmal bei einem Zahni, der in seinem stockfinsteren Treppenhaus (oder in seinem mit schweren Vorhängen verdunkelten Behandlungszimmer; ich kann mich nicht mehr ganz genau erinnern) einen Totenkopf stehen hatte. Im ganzen Haus roch es nach Moder und Schlamm und Verwesung und Tod. Als ich…

…jetzt muss ich weg. Das Pochen und Stechen wird wieder stärker.

In Bern schleift ein Mann, den ich noch nie gesehen habe, bereits seinen Bohrer.

Ich bin mir ganz sicher: Er grinst dabei vor sich hin.

Aber nicht mehr lange.

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