Auf beiden Seiten des Abgrunds

Möglicherweise hat tatsächlich jeder Mensch Anspruch auf ein bisschen Glück – auch wenn nur wenig darauf hindeutet, dass diesem Menschen etwas Menschliches innewohnt.

Der mutmassliche Vierfachmörder von Rupperswil sitzt vor einem ordentlichen Gericht. Und verbringt seine Zeit ansonsten im Gefängnis. Das mag für „normale“ Leute nicht der Inbegriff von „Glück“ sein. Der 33-jährige Schweizer, der sich diese Woche vor dem Bezirksgericht Lenzburg verantworten muss, verdankt diesen Umständen aber vermutlich sein Leben.

Weil ich regelmässig als Gerichtsberichterstatter für die Berner Zeitung tätig bin, wurde ich in den letzten Tagen mehrfach gefragt, wie der junge Mann wohl bestraft werde. Ich antwortete darauf jedesmal das Gleiche: Ich wisse über den Fall nicht mehr als jeder andere Medienkonsument und masse mir als Nichtjurist grundsätzlich nie an, ein Urteil vorauszusagen.

Meine Gesprächspartner hatten da weniger Skrupel: „Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte man den nach der Verhaftung erschossen“, sagte ein flüchtiger Bekannter, während er seelenruhig sein Gipfeli ins Kafi tunkte. Ein anderer empfahl die sofortige Kastration – und zwar nicht auf die chemische Art und Weise, sondern mit einem rostigen Messer und ohne Narkose -, ein dritter setzt seine Hoffnungen auf die Mitinsassen des Angeklagten: „Die machen den früher oder später sowieso kalt.“

Köpfen, hängen, auf dem elektrischen Stuhl grillieren, tagelang mit glühenden Zangen zu Tode quälen, ertränken, erwürgen oder steinigen: Die Liste der an Stammtischen und in Onlinekommentaren vorgeschlagenen Vergeltungsmassnahmen liesse sich endlos verlängern.

Ein Country-Musiker aus dem Berner Oberland, der mit seiner Single „Meersöili“ einen Achtungserfolg verbuchen durfte, postete auf Facebook:

Ich nahm mir zwei Minuten Zeit, um mir den einen und anderen Gedanken zum Thema „Meinungsfreiheit“ zu machen. Dann löschte ich Tom Lee aus meiner Freundesliste.

Auch wenn ich so weit wie nur möglich davon entfernt bin, für Thomas N. etwas aufzubringen, was als Mitgefühl oder Verständnis gewertet werden könnte: Irgendwie habe ich das ungute Gefühl, dass manche Menschen, die nun von jenseits der Grenzen des Rechtsstaates her über ihn richten, in geistiger und moralischer Hinsicht gar nicht so weit von dem entfernt sind, was sie selber zutiefst entsetzt.

„Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“, schrieb Friedrich Nietzsche im vorletzten Jahrhundert.

Selten hatte seine These mehr Gültigkeit als in diesen Tagen.

1 Kommentar

  1. Eine lebenslange Verwahrung zu Minimalkosten und ohne sündhaft teure Therapieversuche wäre mein Ansatz.

    Dieses Individuum ist höchstgradig krank und hat gegen die Regeln der Gemeinschaft verstossen. Die Gefahr, dass er es wieder tut, besteht. Ich bin der Meinung, vor Gericht wird viel zu viel Zeit und Steuergeld daf¨r verschwendet, herauszufinden, beziehungsweise schönzureden, weshalb ein Täter eine Tat begangen hat.

    Zitat Verteidigerin gestern: „Die sexuelle Übergriff habe NUR 20 Minuten gedauert“. Was hier einzig zählt, ist die Tat und das Leid, welches dieses Individuum über die betroffenen Familien gebracht hat. Wie es dazu gekommen ist, ist völlig belanglos und sollte keinen Einfluss auf das Strafmass haben.

    Oder werden vor Gericht demnächst auch die Höhen der Verkehrsbussen für Autofahrer mit einer schwierigen Kindheit verhandelt?

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