Auf der Homeoffinsel (28)

Sonntag, 28. Februar 2021, 6.20 Uhr

Wie jeden Sonntag bleibe ich länger als üblich im Bett liegen, um über den Raum und die Zeit und gewisse Dinge dazwischen nachzudenken.

Gründe dafür gibt es genug. Bei zweien handelt es sich um Fotos.

Die eine

schickte mir Chantal gestern Morgen per Whatsapp.

Ich hatte keine Ahnung, an welchen Ort Tess mit ihr gerade unterwegs war, und mochte sie auch nicht danach fragen. Tess kann sich schliesslich chauffieren lassen, wohin sie will.

Ein halbe Stunde danach wusste ich es dennoch. Denn dann übermittelte mir Marvin Portmann, der Geschäftsführer des Hotels Stadthaus an meinem Zweitwohnsitz, die andere Aufnahme:

Tess war mit Chantal also nach Burgdorf gefahren, um in der ihrer Oberstadt posten zu gehen. Dort traf sie mit Marvins Sohn einen langjährigen Fan.

Ich schickte Chantal Marvins Schnappschuss sofort. Vermutlich poppte er in dem Moment auf dem Bildschirm ihres iPhones auf, in dem sie den Laden, in welchem sie einkaufen war, verliess, Marvin samt Junior sah und mit ihnen zu plaudern begann.

Als mir das bewusst wurde, begann es in meinem Kopf zu „wärche“, wie der Ämmitauer sagt, und zwar in einem Mass, dass das Gehirn mit der Arbeit bis jetzt nicht fertig wurde.

Eine Frage beschäftigt mich besonders: Wie hätte sich das vor 30 Jahren abgespielt?

Abgesehen davon, dass in dem Fall eine Primarschülerin am Steuer ihres Autos einen neben ihr sitzenden Hund fotografiert hätte, der erst in einem Vierteljahrhundert geboren würde: es wäre auch technisch und finanziell mit etwelchem Aufwand verbunden gewesen und hätte, um zumindest ähnlich zu enden, einer – eben – unheimlich anmutenden zufälligen Synchronisation des Raum/Zeit-Kontinuums bedurft, wobei selbst dann nicht gesagt gewesen wäre, dass sich die Dinge letztlich so zusammengefügt hätten, wie sie nun, 30 Jahre später, vollautomatisch miteinander verschmolzen.

(Wenn das kein simpler Satz war: was wäre dann einer?)

Chantal hätte den Film, sobald er irgendwann voll gewesen wäre, aus der Kamera genommen, zum Entwickeln gebracht und nach ein paar Tagen die Abzüge geholt. Einen davon hätte sie mir vielleicht, vielleicht aber auch nicht (Porto!), per Post nach Gran Canaria geschickt, wo ich ihn zwei Wochen oder so später erhalten hätte.

Weiter hätte Marvin am selben Morgen seinen Fotoapparat mit auf den Marktbummel nehmen und, wenn auch sein Film in 24 oder 36 bunte oder schwarzweisse Papiere verwandelt worden wäre, auf die Idee kommen müssen, mir auf demselben Weg eine Kopie der Bub-mit-Tess-Aufnahme zukommen zu lassen.

Beim Betrachten der Bilder hätte ich mich sehr über die Grüsse aus der Heimat gefreut. Zur Erkenntnis, dass sie etwas miteinander zu tun haben könnten, wäre ich aber kaum je gelangt.

Heute senden wir Fotos, die wir vor zwei Sekunden geschossen haben, mit einer so abartigen Geschwindigkeit rund um den Erdball, dass die Empfänger sie betrachten können, bevor wir unser Handy nach dem Abdrücken in der Hose verstaut haben. Wir brauchen nicht nach Adressen zu suchen, Couverts zu kaufen, Marken draufzukleben und zum Briefkasten zu laufen.

Das alles läuft, wie endlos viel anderes, praktisch von selber, und wir denken, während wir es laufen lassen, keine Sekunde darüber nach, dass alles, was wir mit unseren Smartphones, Tablets und artverwandten Gerätschaften in grösster Achtlosigkeit anstellen, vor vergleichsweise sehr kurzer Zeit bestenfalls eine Vision war und im Grunde genommen ein unfassbares Wunder darstellt.

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