Auf der Homeoffinsel (42)

Freitag, 19. März 2021, 6.30 Uhr

Mein Nachtleben in Playa del Inglés ist ein brandneues Thema, mit dem sich noch kein Mensch je beschäftigen musste. Trotzdem – nein, deshalb! – gehört es jetzt auf den Tisch, von Fachleuten in Taskforces analysiert und echten Experten im Internet kommentiert und dann den Kantonen zur Stellungnahme vorgelegt.

Bis sie uns ihre Antworten in zwei Wochen faxen, beobachten wir die Lage mit all der Aufmerksamkeit weiter, die wir auf dem 314. Kilometer unseres Marathonlaufs in der Achterbahnspur noch aufzubringen fähig und willens sind.

Der Möglichkeiten, die Abende hier ähnlich sinnerfüllt zu gestalten wie die Tage, wären hier unzählige: vor Corona gab es im Süden der Insel zig Bars und Pubs und Openairbeizen und Discos und Swingerclubs und Karaokehöllen und Kinos und Locations für die LGBT-Community samt ihrem nichtbinären Anhang sowie regelmässige Gastspiele von international höchstrenommierten Kulturschaffenden.

Doch nun sind die Tempi des zügellosen Frohsinns passati und einsamen Stunden vor dem Fernseher im Hotelzimmer gewichen.

Selbst daraus lässt sich allerdings Lebensbereicherndes ziehen, zum Beispiel auf Entdeckungsreisen durch eine Filmlandschaft, für die neben all den Experimentaldokus auf Arte („Zwischen Kies und Kulturbeutel: die Männer in der Geröllwüste Usbekistans und ihre femininen Seiten“) und Sondersendungen zu unerklärlichen Naturphänomenen wie Schneefall und Eisesglätte im Februar

bisher weder Zeit noch Platz noch Lust war.

Dank des mässig üppigen Senderangebotes (ARD, ZDF und ProSieben) entwickelte ich mich in den letzten Wochen zu einem grossen Fan des „Bergdoktors“. In der beeindruckenden Bergwelt des Wilden Kaisers geht es um „Mutterlügen„, „Die dunkle Seite des Lichts„, „Verlorene Seelen„, „Die Entscheidung„, „Bittere Tränen“ oder den „Preis des Lebens“ aber sobald der bezahlt ist, wird wieder „Alles anders„.

Wie Martin Gruber zwischen der millionenschweren Exfrau, die von ihm ein Kind erwartet, und seinem rehäugigen neuen Gspusi, für das er seinen verstaubten Estrich innerthalb weniger Sendeminuten zu einer schicken Dachwohnung umbauen liess, hin- und herswitcht und dabei nie das Wohl und Wehe seiner Patientinnen und Patienten aus dem Blick verliert: das hat schon etwas, auch wenn ich noch weit davon entfernt bin, den roten Faden, der das alles miteinander verbindet, zu erahnen.

Aber das spielt keine Rolle, solange der Kaffee schrumpft und – bisweilen legen die Autoren der Serie ihre Geschichten fast schon absurd weit von der Realität entfernt an – kein Virus die alpine Idylle verseucht.

Weiter schloss ich von meinem Bett aus Bekanntschaft mit dem „Staatsanwalt“, unter dessen immer gleich dreinblickenden Augen trotz „guter Nachbarschaftimmer gestorben wird.

Wenns mit dem Einschlafen hapert, weil die vom „Bergdoktor“ bis an die Sollreissstelle angespannten Nerven weitervibrieren wie die Enden von Winnetous Pfeilen nach dem Einschlag in des weissen Mannes Brustbein, schaue ich der „Soko Leipzig“ beim Ermitteln zu, bis mich das Sandmännchen ins Land der Träume abführt.

Die Aufgaben und Arbeitsweisen dieser Truppe unterscheiden sich zwar nur in lokalen Nuancen von jenen der Sokos Wismar, München, Köln, Stuttgart und Potsdam. Mit Ina Zimmermann hat sie jedoch eine Kommissarin in ihren Reihen (wobei: was heisst „in ihren Reihen“? – als Chefin!), der ich auch Verbrechen gestehen würde, die ich nicht begangen habe, nur, um ein bisschen mit ihr plaudern zu können.

Mit der Frage, ob sie den „Bergdoktor“ kenne, könnte ich das Eis zwischen uns sicher schnell brechen. Die beiden treffen sich ja jeden Donnerstag zwischen 21.45 und 22 Uhr in der ZDF-Requisite, wenn er sein Stethoskop an die Wand hängt und sie die Pistole aus dem Spind holt.

Sollte es sich zufälligerweise um jenes Eis handeln, welches im Winter auch Leipzig völlig überraschend kaltstellte, gäbe es für uns auf dem Weg in die „längste Nacht“ vor lauter „Herzrasen“ wohl „kein Zurück“ mehr.

Nachtrag am 20. März 2021: Eine Leserin teilt mir soeben mit, ich würde in Sachen Bergdoktor „im Fall überhaupt nicht drauskommen“. Die Schwangere sei „nicht seine Ex-Frau, sondern eine Affäre“. Bei der Rehaugen-Anna handle es sich um „seine grosse On/Off-Liebe“.

Danke für den Hinweis!

1 Kommentar

  1. Du mauserst Dich auf Deiner Insel zum kompetenten TV-Kritiker. Dein bunter Umgang mit der Sprache macht Dich zudem zum ernsthaften Kandidaten für den Nobel-Preis in der Sparte Literatur. Ich wünsche Dir weiterhin vergnügliche TV-Abende.

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