Auf der Homeoffinsel (43)

Sonntag, 21. März 2021, 6.05 Uhr

Manchmal, wenn Gäste da sind, läuft unten am Pool Musik. Wie ein langer, ruhiger Fluss fliessen durch mein Büro im 12. Stock dann stundenlang in Samt und Seide gebettete Hits aus dem letzten Jahrtausend.

Manche dieser Lounge-Versionen entbehren nicht eines gewissen Etwas. Einige hätten uneingespielt bleiben können, ohne, dass die Menschheit von Mangelerscheinungen geplagt worden wäre.

So oder so lässt es sich auf diesen Klangteppichen entspannter arbeiten als in Hotels, in denen vom Morgen bis am Abend Presslufthämmer dröhnen und Bohrer kreischen, weil deren Besitzer die Touristenflaute dazu nutzen, ihre Häuser auf Vordermann zu bringen in der mit schwindender Kraft aufrechterhaltenen Hoffnung darauf, dass irgendwann wieder einmal Besuch kommt.

Interessant ist (ämu für mich; es mag Leute geben, die derlei in einem weniger ausgeprägten Masse beschäftigt): keines der Lieder, die in Playa del Inglés den Soundtrack meiner Zimmerstunden bilden, bleibt im Kopf hängen, wenn es verklungen oder unmerklich ins nächste übergegangen ist.

Ein – wenn nicht gar der – Grund dafür mag sein, dass es in Spanien keine Ohrwürmer gibt, beziehungsweise: dass es den Spanierinnen und Spaniern in der sich nun auch schon wieder über 1,4 Millionen Jahre erstreckenden Geschichte ihres Landes nicht gelungen ist, das Wort „Ohrwurm“ zu erfinden und im Wortschatz zu verankern (und das als Angehörige einer Seefahrernation).

Dabei wäre nichts leichter als das: auf Spanisch heisst „Ohr“, wie jeder Iberer mühelos im Fremdwörterduden nachschlagen könnte, „oído“ und Wurm „gusano“. Aber statt von einem oídogusano sprechen die Leute zwischen den Piri Pyrr Phyrä Bergen im Norden und Gibralter und auf den zu ihrem Königreich gehörenden Inseln lieber von einer „melodia pegadiza“, was soviel bedeutet wie „klebrige“ oder „ansteckende“ Melodie.

Wenn man lange genug mit aller gebotenen Openmindigkeit darüber nachdenkt, treffen sie den Kern der Sache damit mindestens so gut wie wir schollenverbundenen Schweizer mit unserem Wurm, wenn nicht sogar präziser.

Dafür haben wir an der Fussball-WM 2010 gegen sie gewonnen, aber das nur der Vollständigkeit halber, und um das letzte Wort zu haben.

Ihre mannigfaltigen sportlichen Defizite machen die Spanienden mit menschlicher und meteorologischer Wärme, kulinarischem Esprit, Doping und Musik jedoch locker wett.

Viele Lieder, die aus heruntergekurbelten Autofenstern und Beizenboxen an meine oídos dringen, hätten auf dem Festland womöglich das Zeug zu Hits (gehabt), wenn die Künstlerinnen und Künstler sie massenkompatibel auf Englisch statt in ihrer Muttersprache eingesungen hätten.

Offenhörbar kam für sie der Stolz jedoch vor dem Stutz. Das ist ganz besonders in dieser Branche nicht selbstverständlich und veranlasst den Bewohner eines Kontinents, auf dem die deutschstämmigen Modern Talking, Tokio Hotel oder Scorpions trotz (oder amänd gar wegen?!?) ihres Schulenglisch Millionen von Platten verkauften, zum respektvollen Lüften seines imaginären Hutes.

Über allen thronen seit gefühlt immer die Héroes del Silencio. Deren „Entre dos tierras“

ist allerdings keine Neuentdeckung, sondern zig Menschen in der Schweiz bestens bekannt: es gehört zum unfassbar breitgefächerten Repertoire zweier Plattenaufleger aus Burgdorf, die heuer aus Gründen noch nicht bis zum Anschlag ausgebucht sind (+41 76 537 74 84).

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