Auf der Homeoffinsel (44)

Manche Leute gurken einen schon nach den ersten zwei Worten an.

Dienstag, 23. März 2021, 16.40 Uhr

Mit dem Laptop in der Hand ging ich zum Lift. Nachdem ich auf den Knopf gedrückt hatte, begann es im Schacht zu surren. Dann machte es „Pling“. In dem Moment, in dem ich die Kabine betrat, hörte ich eine weibliche Stimme „Luggi, luggi!“ rufen. Und, dringlicher, noch einmal: „Luggi, luggi!““

Sekunden später stand eine Frau, die ich nie zuvor gesehen hatte (wasserstoffperoxidierte und auf Kim Wilde getunte Haare mit eingebauter Sonnenbrille, weisses XXL-Shirt, fleischkäsefarbene Turnschuhe, Kussmund-Strandtasche oder kurz: Typ Mandy vom „Nail’s & More“ in einer Seitengasse der Düsseldorfer Fussgängerzone, leicht angewelkt) vor mir.

Ich hielt einen Fuss vor die Aufzugoffenhaltlasslichtschranke und liess meine offenbar neue Stockmitbewohnerin zusteigen, obwohl pro Fahrt wegen Corona nur eine Person erlaubt ist und mir die aktuellste Ex vom Bergdoktor als Begleitung sehr viel lieber gewesen wäre, auch wenn sie demnächst schwanger nach New York auswandern wird.

Ausser der Frau war weit und breit niemand zu sehen. Ich begann zu ahnen, dass sie mit „Luggi, luggi“ mich gemeint haben musste.

Doch „Luggi, luggi!“? Mitten in der Zivilisation?

Um sicherzugehen, erkundigte ich mich nach zwei, drei Etagen Schweigens höflich nach dem Verbleib ihres Hundes.

„Hund? Welcher Hund?“

Nichts an ihrem Tonfall wies darauf hin, dass meine Frage sie dazu veranlasst haben könnte, sich spontan auszumalen, wie sie mich asap fast platzend vor Glück ihrer Familie vorstellt.

„Wegen ‚Luggi, luggi!…‘

„Luggi, luggi“ benutze im Ausland jeder, um andere auf sich aufmerksam zu machen, gab sie kurz angebunden zurück. Das sei Englisch und funktioniere überall.

Mit sich hochrollenden Zehennägeln begann der kleine Watson in meinem Gehirn zu kombinieren: „Schau her, schau her!“–> „Look, look!“–> „Luggi, luggi!“

„Auf ‚Hallo‘, oder ‚entschuldigen Sie‘ reagiere ich sofort“, glaubte ich irgendweshalb, sie wissenlassen zu müssen. „Luggi, luggi!“ hingegen klinge für mich mehr nach entlaufenem Haustier.

Englisch gehe immer, wiederholte sie patzig. Das Thema war damit ausdiskutiert.

Sanft ruckelnd kam der Lift zum Stillstand. Ich liess die Frau vor mir ins Freie treten. Auf ihrem rechten Schulterblatt bemerkte ich ein chinesisches Schriftzeichen.

„Hoffentlich heisst das nicht, wie du glaubst, ‚Gib jedem Tag die Chance, zum schönsten deines Lebens zu werden‘ oder so“, dachte ich, „sondern etwas im Sinne von ‚Ein bisschen doof ist niedlich, aber ich bin wirklich oberherzig'“.

Dann guckte ich ihr nochly dabei zu, wie sie an der Kreuzung Restaurant-Fitnessraum-Toiletten den Weg zum Poolbereich suchte. Dieser Teil des Hotels war jetzt, Mitte Nachmittag, verwaist. Sie könnte noch so laut „Luggi, luggi!“ schreien – kein Mensch würde sie beachten.

Hätte sie auf den Boden geschaut, wäre ihr möglicherweise etwas aufgefallen…

…oder auch nicht.

1 Kommentar

  1. Ich glaube, dass ich dieses „luggi, luggi“ künftig vor jeder Vorstellung unserem Publikum zurufen werde. Klingt einfach irrsinnig international und überaus sexy. Ob ich mir dazu allerdings eine Sonnenbrille ins Haar montiere, weiss ich noch nicht. Hingegen werde ich mir folgende Schriftzeichen auf die Stirn tätowieren lassen: 我的智商為35

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