Auf der Homeoffinsel (53)

Freitag, 15. April 2021, 6.50 Uhr

Ich war nach dem Powerbummel gerade dabei, es mir in der „Klamotte“ am Strand unten gemütlich zu machen, als sich von Südosten her ein Bleichgesicht näherte. Der plusminus 45-jährige Mann trug einen Hut und eine jener ultraschmalen Sonnenbrillen, mit denen Lance Armstrong an den Tours de France jeweils die Fenster zu seiner Seele abdunkelte. Aus dem Ausschnitt des T-Shirts quoll soviel Haar, dass ich mich fragte, ob er sich ein Murmeltierfell auf die Brust getackert habe.

Ausser dem Kellner und mir war niemand da. Der Fremde nahm am Nebentisch Platz und bestellte una Servessa. Er wirkte etwas nervös: sein rechter Oberschenkel hob und senkte sich wie das Füessli einer auf Seriefeuer gestellten Nähmaschine.

Der Kellner stellte das Bier vor ihn hin. Grazie, sagte der Gast, und nahm einen grossen Schluck. Es folgte, was immer folgt, wenn Leute den ersten Schluck Bier genommen haben: ein geniesserisches „Aaah“ und das Abwischen des Mundes mit jener Hand, die nicht das Glas hält.

Dann schaute mein Nachbar zu mir hinüber.

(Beim nächsten Satz wird die Fangemeinde von Rosamunde Pilcher juchzen.)

Als sich unsere Blicke kreuzten, schenkte er mir ein schüchternes Lächeln. Wenig später teilte er mir mit, wie schön es hier doch sei und wollte er wissen, ob ich schon länger auf der Insel lebe.

Ich erwog kurz, eine akustische Mauer aus solidem Schwermetall zwischen ihm und mir hochzuziehen. Nach einem diskreten Hinweis aus jenem Bereich des Gehirns, in dem der Anstand seiner Arbeit nachgeht, liess ich die Airpods aber auf dem Tisch liegen.

Stattdessen beantwortete ich die zwei Fragen mit je einem knappen „Yup“ in der Annahme, damit hinreichend zu signalisieren, dass ich nur sehr peripher an einer Konversation interessiert sei. Daraufhin breitete der Mann sein komplettes Leben vor mir aus:

Geboren und aufgewachsen in einem Kaff an der belgisch-deutschen Grenze, ein Bruder, eine Schwester, Vater früh auf Nimmerwiedersehen verschwunden, Mutter allesimgriffhabend, Medizinstudium (abgebrochen)–> dies und das (Mc Donald’s, Pizzabote)–> Lehrer–> IT, freiberuflich, seit ewig wohnhaft in Kriens, geschieden, zwei erwachsene Kinder, spätes Outing, Wetter, Fasnacht, Einkaufstourismus, Armin Laschet, Billigflüge, Nikotinpflaster, Öffnung der Terrassenbeizen, Grossraumbüros, Medien, Onlineshopping, FC Zürich: Ohne Punkte und Kommas legte er mir in seinem Mischmaschdialekt dar, was ihn jemals beschäftigt hatte, was ihn heute umtreibt und was ihm im Hinblick auf die Zukunft Sorgen bereitet.

In seine Ausführungen flocht er mehr oder weniger raffiniert ein, dass er diese „Unterhaltung“ eigentlich lieber an einem ruhigeren Ort als in einer Beiz führen würde. Trotzdem fühlte ich mich von ihm nicht bis über die Grenze des gerade noch Erträglichen hinaus belästigt. Ich war jedenfalls noch ein ganzes Stück davon entfernt, meine Kontaktfrau bei der #MeToo-Hotline zu alarmieren.

Der Küchentischpsychologe in mir diagnostizierte jedoch Bemerkenswertes. Zusammengefasst lief sein ad hoc-Gutachten darauf hinaus, dass es sich bei diesem Zeitgenossen um einen sehr einsamen Menschen handeln muss, der im verzweifelten Bemühen um einen wie auch immer gearteten Kontakt jeweils so lange an anderer Leute Nerven herumsägt, bis sie aus lauter Mitleid chly Zeit mit dem armen Teufel verbringen.

Oder aber (und wahrscheinlicher): zahlen und gehen, obwohl sie erst damit begonnen hatten, die Aussicht auf das in der Sonne glitzernde Meer und den blauen Himmel zu geniessen und ungeachtet der Tatsache, dass vor ihnen noch ein halber Liter agua con gas vor sich hinperlt.

Während ich hastig Münz aus dem Portemonnaie klaubte, riet mir der Experte, dem ewigen Single in spe im Sinne eines emotionalen Entgegenkommens wenigstens ein Lied zu widmen, was ich selbstverständlich gerne tue:

Auf dem Rückweg kam ich an einem Haushaltwarengeschäft vorbei. Beim Anblick der Messer im Schaufenster realisierte ich, welcher Gefahr ich möglicherweise gerade entronnen war.

In den Handbüchern von FBI-Profilern drehen sich zig Kapitel um Leute, die schon im Laufgitter die Hamster der Geschwister mit Frauenfürzen sprengten, um das ständig anderweitig beschäftigte familiäre Umfeld auf ihre sozialen Defizite hinzuweisen zu versuchen.

Machte sich der Vater meines neuen Bekannten – vielleicht ein Landwirt, der ahnte, was in absehbarer Zeit mit den Schafen und Kühen passieren würde – deshalb aus dem Staub?

Kurz, bevor diese Menschen konfirmiert werden, geht in ihrer Nachbarschaft ein Haus nach dem anderen in Flammen auf ausser jenem, in dem sie wohnen.

Das würde die Züglete in die Zentralschweiz erklären.

Sobald sie den Kater nach der Jungbürgerfeier ausgeschlafen haben, folgen Handtaschendiebstähle, Raubüberfälle, Vergewaltigungen (warum nicht bei Pizza-Auslieferungen?), erste Tötungsdelikte in – wer weiss? – Kriens und schwupp, geraten sie auf die schiefe Bahn.

Jede „Aktenzeichen“-Zuschauerin und jeder „Criminal Minds“-Junkie weiss: Wen die Mordlust einmal gepackt hat, sucht immer wieder nach frischer Beute; auch und ganz besonders in anonymen Gaststätten. Dort höckelt fast immer ein potenzielles Opfer, das niemand vermissen würde.

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Lesetipp (weil sich über den letzten soviele freuten): Drei superduper Bärlauchrezepte.

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2 Kommentare

  1. Grosses Kino. Du müsstest deine Texte mal öffentlich vorlesen. Schonmal daran gedacht?

    Danke für die Blumen.

    Ja, solche Überlegungen gabs schon. Ich bin nicht sicher, ob mündlich funktionieren würde, was schriftlich tiptopp geht. Aber: Ich bleibe dran.

  2. Ach, lieber Hannes, Du knapp dem Ableben Entgekommter

    Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Ich mag Deine Aufsätze. Nicht nur des Inhalts wegen, sondern vor allem auch Deiner Sprachspiele und Deiner Fantasie wegen.

    Ich wünsche Dir einen genussvollen und gefahrenarmen Inselendspurt und freue mich, Dich bald einmal bei einem Terrassenkaffee im heimischen Burdlef wiederzusehen.

    Jetzt, wo wieder mehr als zwei Leute miteinander an einem Tisch sitzen dürfen, wird das kein Problem sein. Machen wir!

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