Aus der Hölle

Einmal, sagte die Frau um die 40, habe der Chef ihr geraten, „meine Reize ein bisschen besser zur Geltung zu bringen“; das hebe den Umsatz. Immer wieder habe er von ihr gefordert, den Leuten mehr Waren auf Kredit zu verkaufen. Doch das, sagte sie, sei ihr zuwider gewesen. „Vor allem bei jungen Leuten hatte ich Skrupel.“ An einer Weihnachtsfeier sei der Chef schon nachmittags um 3 betrunken gewesen. Als sie und eine Kollegin die Festivitäten vorzeitig verlassen wollten, habe er versucht, sie zu küssen.

Ein anderer Vorgesetzter habe sie wissen lassen, erzählte die Frau weiter, dass er sich durchaus vorstellen könnte, mit ihr etwas anzufangen – „ausserhalb der Arbeit“, versteht sich. Pausengespräche mit Kolleginnen seien faktisch verboten gewesen.

„Manchmal“, sagte die Frau heute Morgen vor Gericht, „war es die Hölle“.

Irgendwann meldete sich eine junge Frau, die ihr Geld ebenfalls in der Hölle verdiente, per Telefon bei der älteren Frau und teilte ihr schluchzend mit, der Chef habe sie sexuell belästigt. Sie wagte sich nicht mehr nach Hause. Die ältere Frau nahm die jüngere vorübergehend bei sich auf. Wenig später erzählten zwei weitere Mitarbeiterinnen ihr als inoffiziellen Team-Mami dasselbe.

„Jetzt längts!“, sagte sich die ältere Frau. Mit einem eingeschriebenen Brief orientierte sie die Chefs ihres Chefs über die Zustände in ihrem Betrieb. Am selben Tag, an dem die Beschwerde die Chefchefs erreichte, wurde sie ins Büro ihres Vorgesetzten zitiert. Eine Viertelstunde später stand sie, fristlos entlassen, vor der Türe. Die zwei Männer, die sie dorthin gebracht hatten, sagten zum Abschied, sie solle sich hier nie mehr blicken lassen.

Ob der Chef sich tatsächlich an Mitarbeiterinnen vergangen hat, wurde juristisch nie abschliessend erörtert. Zwei Frauen zeigten ihn zwar an. Doch das eine Verfahren wurde mangels Beweisen eingestellt, das andere endete mit einem aussergerichtlichen Vergleich. Beide Frauen – sie arbeiten inzwischen nicht mehr in der Firma – erhielten von vermeintlichen Täter Geld. Wofür und wieviel genau, ist nicht ganz klar.

Die ältere Frau aber lässt sich den Rauswurf nicht einfach so bieten. Sie hat die Firma wegen missbräuchlicher Kündigung verklagt.

Heute fand die erste Verhandlung zur Sache statt. Der Richter fragte die Parteien, ob sie sich allenfalls auch ohne Mitwirkung der Justiz einigen könnten. Ja, sagte der Anwalt der Frau: Wenn die Firma seiner Mandantin 12 000 Franken bezahle, sei die Sache vom Tisch. Nein, sagte die Firma. Die Frau habe ihre Geschichte schon dem Lokalfernsehen erzählt. Andere Medien hätten die Story aufgegriffen. Damit habe die Firma keinen Grund mehr, ihr entgegenzukommen.

Ein Direktor der Firma versicherte, die Mitarbeiterin sei nicht wegen dieses Briefes entlassen worden, sondern, weil sie ihre Leistung nicht gebracht habe. Abgesehen davon habe sie menschliche Dezifite gehabt. Bei einem Mitarbeitergespräch habe man sie gewarnt, dass ihr der Rauswurf drohe, wenn sie sich nicht bessere. Einen Monat später habe die Firma keine Fortschritte erkennen können. Also habe der Chef die Konsequenzen gezogen.

Die Firma liess das Gericht schriftlich wissen, man habe sich fristlos von der Mitarbeiterin getrennt, um ihr soviel Zeit wie möglich zu geben, sich nach einer neuen Stelle umzusehen.

An den Vorwürfen gegen den Chef sei im Übrigen nichts dran, sagte der Chef des Chefs dem Richter. Eine interne Untersuchung habe ergeben, dass es keine Gründe gebe, gegen ihn Massnahmen zu ergreifen.

Der Chef, der der Frau das Leben zur Hölle gemacht hatte, arbeitet immer noch in der Firma.

Als Gerichtsberichterstatter hat man dazusitzen, zu schweigen und zu notieren, was die Leute sagen. Das ist normalerweise kein Problem. Doch heute Morgen hätte ich der Frau gerne zugerufen, sie solle doch froh sein, dieser Firma entronnen zu sein, auch wenn sie jetzt keinen Job mehr hat.

Ob die Kündigung unrechtmässig oder gerechtfertig war, weiss noch niemand. Das Gericht setzt die Verhandlung nächstes Jahr fort. Dann wird auch der Chef  aussagen müssen. Irgendwie kann ich mir heute schon vorstellen, wie seine Version der Geschehnisse klingen wird.

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