Begegnungen mit dem Bösen

Doch, doch – das gabs: „Der Besenstil ragte aus dem Hals heraus und stand kerzengerade in die Höhe. Der Körper des Mannes war aufgedunsen, der Kopf war schwarz-klumpig, und die wohl schon dritte Generation von Maden war dabei, ihr Werk fortzusetzen.“

Auch das gabs: „Die grossen Brüste der Frau lagen auf einem Holzbalken. Dann kam er und nagelte beide Brüste an diesem Holzbalken fest. Und zwar mit grossen Zimmermannsnägeln. Die Nägel wurden mit grosser Wucht durchs Fleisch bzw. Fettgewebe getrieben.“

Und es gab den Fall eines 32-jährigen Studenten, „der seinen 82 Jahre alten Mentor, mit dem er jahrelang in einer homoerotischen Beziehung zusammengelebt hatte, erwürgte und zerteilte, um sich dann ein Stück frischer, noch warmer Leber einzuverleiben.“

Die drei Beispiele stammen aus dem soeben erschienen Buch „Abgründe“ von Josef  Wilfling. Anfang 2009 ging der Leiter der Münchner Mordkommission – er hatte sich als Aufklärer der Morde an Modeschöpfer Rudolph Moshammer und Volksschauspieler Walter  Sedlmayer einen Namen weit über die deutschen Justizkreise hinaus gemacht – in Pension.  Die bemerkenswertesten Erlebnisse und Erkenntnisse aus 42 Dienstjahren schrieb er im Ruhestand in amtlich-sachlichen Worten ohne jede Sensationsheischerei nieder. Oder zumindest: fast ohne.  

„Wenn aus Menschen Mörder werden“, lautet der Untertitel des Werkes. Es stellt für Kriminalistik-Enthusiasten eine wahre Fundgrube dar; für Freunde des gepflegten Dienstagabendkrimis im ZDF dürfte es eine echte Herausforderung sein, sich durch die 319 Seiten zu kämpfen.

Der Autor behauptet, dass jeder Mensch zum Mörder – oder Totschläger; die Grenzen sind oft nur in Details erkennbar – werden kann. Die vom Eheleben angeödete Ehefrau, der eifersüchtige Gatte oder der frustrierte Teenager, der einfach einmal wissen will, wie das ist, einen Menschen umzubringen: Sie alle führten bis kurz vor ihrer Tat ein Leben, das Freunde und Nachbarn in den TV-Nachrichten zum Drama jeweils als „unauffällig“ bezeichnen. Aus für Aussenstehende nichtigen Gründen mutierten sie innert verblüffend kurzer Zeit zu berechnenden, kalten, gefühllosen Egoisten, für die das Leben von Familienmitgliedern, flüchtigen Bekannten oder Wildfremden keine Bedeutung und keinen Wert mehr hatte.

Doch bei allem Respekt vor der immensen ermittlungstechnischen Erfahrung des Ex-Polizisten: Stimmt das? Schlummert in jedem von uns ein Mörder, der nur darauf wartet, durch irgendeinen Impuls aktiviert zu werden? Oder handelt es sich bei Verbrecherinnen und Verbrechern dieses Kalibers um schwerkranke Menschen, die geheilt und wieder in die Gesellschaft entlassen werden können?

Diese These vertritt der renommierte deutsche Hirnforscher Hans J. Markowitsch. Als ich ihn vor zweieinhalb Jahren interviewte, sagte er zwar, „jeder Mensch ist in der Lage, einen anderen Menschen zu töten“, denn „in jedem und jeder von uns ist ein bestimmtes Aggressionspotenzial angelegt“. Doch deshalb sei noch lange nicht jeder ein potenzieller Totschläger. Denn einerseits werde der Mensch „dazu erzogen, Respekt vor anderen Leuten zu haben“. Darüber hinaus habe er „ein angeborenes Moralbedürfnis“, das ihm sage, es sei „nicht richtig, anderen Menschen Leid anzutun oder sie zu ermorden“. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass der Mensch „in einer gegebenen Situation auf der Basis seiner genetischen Veranlagung sowie auf Grund seiner Erfahrungen und der aktuellen Situation“ handle.

„Wie fremdgesteuert“

Wer jemanden töte, agiere „wie fremdgesteuert“, sagte der Hirnexperte. Als Beleg dafür, dass man oft nicht so selbstbestimmt handeln kann, wie man sich das gerne vorstellt, nannte der Verfasser von „Tatort Gehirn“ einen Gast in einem Restaurant. Er hat grossen Durst, die Gesellschaft, in der er sich befindet, trinkt mehrheitlich Cola, die Frau, die ihm ein Getränk anbietet, ist ihm sehr sympathisch, es ist nichts anderes mehr zu trinken da: das alles sind gemäss dem Fachmann Faktoren, die den Entscheid des Gastes, eine Cola zu trinken oder es bleiben zu lassen, „massgeblich beeinflussen“. Es sei ohne Weiteres denkbar, dass der Gast Minuten später etwas anderes bestellen würde. Aber jetzt, in diesem Moment, entscheide er sich – eben: fremdgesteuert, ohne zu bemerken, fremdgesteuert zu sein – eine Cola.

Dieses Prinzip, sagte Markowitsch, gelte auch für Menschen, die morden. Geprägt durch ihr bisheriges Leben und ihre genetische Veranlagung könnten sie nicht frei entscheiden, jemanden zu töten – oder am Leben zu lassen. Wobei: Entscheidungen von dieser Tragweite würden nur in den seltensten Fällen von heute auf morgen getroffen. „Sie fallen meist nach einer monate- oder jahrelangen Zeit, während deren der spätere Mörder immer wieder Kränkungen, Beleidigungen und Zurückweisungen ausgesetzt war. Er fühlt sich immer ungerechter behandelt und wird dünnhäutiger. Sein Realitätsbewusstsein verändert sich so stark, dass er irgendwann in seiner eigenen Welt lebt, in der nur er der Gute ist und alle anderen die Bösen sind“, erklärte Markowitsch damals in der durch und durch friedlichen Ambiance des „Victoria-Jungfrau“ in Interlaken.

„Zum Teil schwer krank“, aber „nicht unheilbar“

Ein Mord sei „sehr häufig die Folge einer bestimmten Folge von Ereignissen in einer bestimmten Situation“, fasste Hans J. Markowitsch zusammen. „Wenn man das rechtzeitig erkennen würde, könnte man sehr viele Menschen vom Töten abhalten.“ Schwerverbrecher seien „zum Teil schwer krank“. Aber nicht unheilbar: „Das Gehirn ist anpassungsfähig. Es kann sich verändern. Und es kann auch verändert werden.“ Die Frage sei, wie weit die Forschung, die Medizin und die Justiz gehen wollten. „Dürfen Ärzte das Gehirn eines Menschen so manipulieren, dass er wieder unter <normalen> Leute leben kann? Oder soll man das Gehirn so lassen, wie es ist, und den Täter bis zu seinem Lebensende in einer Anstalt entsorgen?“ Das, räumte Markowitsch ein, seien „Fragen, die ich nicht beantworten kann. Und auch nicht beantworten möchte.“ Sicher sei nur: „Die Möglichkeit, solche Menschen zu entschärfen, besteht.“

Weder der Praktiker Wilfing noch der Wissenschaftler Markowitsch haben also abschliessende Anworten auf die Frage, wie jemand, der vor Kurzen noch ganz normal im Coop einkaufen war, dazu kommen kann, seiner Frau zwei Wochen später den Hals aufzuschlitzen.

Freundliche Leute

Fest steht: Einem Menschen anzusehen oder anzuspüren, ob er zu den Guten oder den Bösen gehört,  ist nur in Ausnahmefällen möglich. In den 22 Jahren, in denen ich nun schon aus Gerichtsälen berichte, gelang es mir nur selten, das Aussehen und das Wesen eines Schwerverbrechers mit seiner Tat in Verbindung zu bringen. Es kam vor, dass ich mich vor der Verhandlung mir einem Prozessbeteiligten unterhielt, den ich für einen Verteidiger hielt. Und der nachher auf der Anklagebank Platz nahm, weil er seine Freundin erwürgt hatte. Sie hatte während eines Streites zu schreien begonnen. Er wollte sie zur Ruhe bringen und drückte ihr ein wenig den Hals zu. Als er die Hand wegnahm, brüllte sie erneut los. Er befürchtete, sie werde ihn wegen des Griffs an den Hals anzeigen. Also musste sie sterben. Schliesslich war er verheiratet. Und beruflich schon ziemlich weit oben angelangt. Die Leiche entsorgte er im Schwarzsee. Aber zu nahe am Ufer.

Totschläger und Mörder beantworten die Fragen der Richterinnen und Richtern oft freundlich bis zuvorkommend, was nicht nur auch am Coaching ihrer Fürsprecher liegt, die ihnen vor dem Prozess einbläuen, dass sie, wenn überhaupt, nur mit einem netten Auftreten punkten können. Sondern auch daran, dass sie im tiefsten Kern ihres Herzens nett sein. Oder waren. Bis…eben: bis was?

Und Herr Meier?

Der grobschlächtige Typ mit den zusammengekniffenen Augen und dem verächtlichen Grinsen ist selten der Mörder. Meist ist es der nette Typ von nebenan, bei dem aus Gründen, die sich Normalsterblichen auch nach stunden- oder tagelangen Verhandlungen kaum vollständig erschliessen, die eine und andere Sicherung durchgebrannt ist. Der Gärtner halt, dem man „so etwas“ nie zugetraut hätte.

Unabhängig davon, zu wessen Theorie man neigt: Wer sich für das Dunkle und Rabenschwarze im Menschen interessiert, möge für paar Stunden in die „Abgründe“ von Josef Wilfling eintauchen. Wenn man sich von der Lektüre erholt hat, kann man den – ebenfalls nicht leicht verdaulichen, aber wissenschaftlich besser gesicherten „Tatort Gehirn“ von Hans J. Markowitsch besichtigen.

Und dann selber versuchen, einmal nur für sich abzuchecken, ob der nette Herr Meier, dem man am Morgen immer am Briefkasten begegnet, allenfalls….

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