Couple Dänemark (VI)

19 670 Sonnenaufgänge habe ich schon erlebt. Die meisten verliefen recht unspektakulär, andere bekam ich nicht mit. Einige von ihnen hätten sich als Sujets für jene Poster geeignet, die Mädchen sich früher übers Bett hängten. Manche hätten zumindest auf Facebook für das eine und andere „Ah“ und „Oh“ gesorgt. In einem Fall stieg die echte orangegelbe Kugel in genau der Minute aus dem Meer, in dem sie im übertragenen Sinn krachend auf dem Grund meines Herzens zerschellte.

Bis gestern hätte man also sagen können: In Sachen „Sonnenaufgang“ ist mir nichts Menschliches mehr fremd. Aber dann…dann kam der heutige Morgen.

Um 6 Uhr stand ich mit dem Kafibecher in der einen und einer Zigi in der anderen Hand am Strand von Fjerrtislev an der Nordwestküste Dänemarks. Um 6.10 sagte etwas in mir, ich solle mich einmal umschauen. Dieser Stimme werde ich noch lange dankbar sein: Ganz weit hinten sah ich, wie die Sonne sich flirrend über den Boden erhob. Darunter hing eine kleine Wolke, aus der es zu regnen schien. Das Wasser fiel jedoch nicht auf die Erde, sondern schien in der Luft hängenzubleiben. Sehr viel weiter vorne, nur hundert Meter von mir entfernt, zog sich sich, wie mit einem riesigen Lineal gezeichnet, ein dünner Strich Nebel über den Campingplatz. Er bedeckte die oberen Hälften der Wohnwagen am Waldrand.

Ich stellte mir vor, wie in diesem Moment ein Vater mit seinem Sohn aus dem Camper steigt. Nachdem er die Türe geöffnet hat, streicht eine feuchte Kälte über sein Gesicht. Um ihn herum ist alles grau. „Scheiss Nebel!“, flucht er (gedämpft, um die Nachbarn nicht zu wecken). „Pack dein Zeug zusammen. Wir fahren nach Hause“, sagt er zu seinem Buben. Dieser versteht die Welt nicht mehr: „Wie, Nebel?“, flüstert er von unten nach oben. „Ich kann von hier aus beinahe die bayrischen Berge sehen.“

„Klappe!“, zischt der Vater aus seiner Miniwolke zurück. „Ich halte mir gerade die Hand vor die Augen, aber alles, was ich verschwommen sehen kann, ist der Ehering deiner Mutter, die ÜBRIGENS IMMER NOCH IM BETT LIEGT UND WIEDER MAL TUT, ALS OB SIE DAS ALLES NICHTS ANGEHEN WÜRDE!“.

Im Schlafraum des Wohnwagens steckt sich die Mutter die Kopfhörer des Sohnes in die Ohren und verschwindet mit einem ihr völlig unbekannten Rapper aus Düsseldorf unter die Decke.

„Los jetzt! Wir gehen! Lieber ein Jahr in Böblingen als auch nur noch eine Viertelstunde hier! Von Nebel stand im Internet kein Wort“, sagt der Vater zum Sohn. Der Kleine weint erst ganz leise. Dann legt er sich auf den Boden und zetert los. „Da ist kein Nebel“, schluchzt er. „Da ist überhaupt nichts. Es ist alles genauso wie gestern und vorgestern und immer, und überhaupt ist Böblingen doof und du bist noch doofer!“

Bevor die Sache eskaliert, passiert ein Wunder: Die Sonne hat während der Unterhaltung der beiden soviel Kraft gewonnen, dass der Kondensstreifen, der den Vater eben noch umhüllt hat, verdampft. „Oh“, murmelt der Alte. Wortlos geht er in den Camper zurück, zu seiner Frau und dem Rapper.

Der Kleine steht auf, wischt sich die Tränen aus den Augen, guckt in den Himmel und strahlt. Dann bummelt er los zum Planquadrat F6 in die Reihe 4. Dort warten bestimmt schon seine neuen Freunde aus Holland auf ihn. Papi und Mami werden es ihm bestimmt nicht übelnehmen, wenn er eine Weile wegbleibt, um mit ihnen zu spielen.

Mein Schatz und Tess und ich hingegen haben durchs Band weg den Frieden. Auf der Fahrt nach Fjerrtislev kamen wir gestern an einem Fjord vorbei, auf dem Chantal stehpaddeln und in dem Tess bädlen konnte. Über die Bucht zieht sich eine Brücke, die wegen des Schiffsverkehrs allpott hochgeklappt wird. Zum Entsetzen des Hundlis tauchte neben Chantals Brett plötzlich eine fussballgrosse Qualle auf. Süüferli schob Tess‘ Chefin das gspässige Wesen mit dem Paddel aus der Nähe des Strandes ins tiefere Wasser zurück.

Auch hier, in Nordjütland, ist es uns vögeliwohl. Um uns herum ist nichts als Natur. Neben mir pickt gerade ein Spatz Essensresten auf. Immer wieder fliegen Gänseschwärme in perfekt choreografierten Formationen über das Land. Sie erinnern irgendwie an die Patrouille Suisse, sind aber umweltkompatibler unterwegs als unsere Vorzeigestaffel und finden ihre Ziele erst noch auf Anhieb.

Eine Frage will ich mir heute unbedingt noch beantworten lassen: Wieso heisst ein so wunderschönes Fleckchen Erde „Jammerplatz“?  

Klar ist: Am Nebel liegts nicht.

1 Kommentar

  1. Sehr schön geschrieben! Leider gab es wohl früher auch an den schönsten Orten Schiffsunfälle! Vielleicht war gerade wegen des Nebels viel Leid zu „bejammern“!

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