Damals, bei Winnie

cd_defekt

Klar komme er mit, sagte er, als ich in jenem Herbst weit nach Feierabend wieder einmal bei ihm im Laden stand, mich durch die neusten CDs hörte und ihm beiläufig sagte, ich habe ein vöriges Billet für das Konzert der Dire Straits im Hallenstadion. Ich soll dann einfach vor dem „Bären“ warten, sagte er; er hole mich ab.

Am 14. Oktober 1991 fuhren wir zusammen nach Zürich, um Mark Knopfler und seine Jungs auf ihrer „On every street“-Tournee ein minimunziges Stück weit zu begleiten.

Ob wir uns nachher noch einmal gesehen haben, weiss ich nicht mehr.

Woran ich mich hingegen genau erinnere, ist, dass wenig später erst zwei und dann immer mehr Blumen vor seiner geschlossenen Ladentüre lagen. Am „Bären“-Stammtisch fragte ich, was da los sei, in dem Haus da hinten, und erfuhr: Winnie Jauch hat sich umgebracht.

Für mich und zig andere musikbegeisterte junge Leute aus dem Wynen- und Seetal wechselte die Tonart des Lebens von einem Tag auf den anderen vom unbeschwerten Dur zum traurigen Moll. Denn Winnie Jauch war für uns weit mehr als ein Plattenverkäufer gewesen. Er war eine Institution (hätte ihm das jemand gesagt: Er hätte nur seinen spärlich behaarten Kopf geschüttelt und herzhaft gelacht).

Winnie wusste nicht nur immer, wer wann eine neue Platte herausbringt. Er kannte auch jeden einzelnen Song auf jeder CD – CDs waren damals gerade dabei, die Vinyltonträger vom Markt zu fegen – und konnte einem mit hundertprozentiger Sicherheit voraussagen, ob einem die Scheibe gefallen würde oder nicht.

Darüberhinaus hatte er – und ich vermute heute stark, dass genau das ein Teil seines Problems war – auch fast rund um die Uhr ein offenes Ohr für die Sorgen und Sörgelchen seiner Kundschaft.

Eines Abends, als ich nicht wusste, wohin mit meinem Liebeskummer, bummelte ich um 22 Uhr herum nicht ganz zufällig an seinem Schaufenster vorbei. Durch die grosse Scheibe sah ich, wie aus seinem Büro ein schwacher Lichtstrahl durch den Türspalt in den Laden fiel. Ich klopfte ans Glas. Wie wenn er auf mich gewartet – oder, wie ich ebenfalls rückblickend glaube: wie wenn auch er irgendeine Gesellschaft gebraucht hätte – bat er mich herein.

Ohne auch nur einmal auf die Uhr zu blicken, liess Winnie mich meinen Gefühlsballast abladen. Von Satz zu Satz mehr erleichtert, fühlte ich: Das hier war nicht eine alltägliche Plauderei zwischen einem Verkäufer und seinem (guten) Kunden, sondern ein ernsthaftes Gespräch unter…jetzt hätte ich beinahe geschrieben: „Freunden“, aber das hätte es nicht ganz getroffen.

Freunde waren wir nicht. Wir hatten zwar einen ähnlichen Musikgeschmack, konnten endlos über zu lange Schlagzeugsoli und göttliche Keyboardpassagen diskutieren und hätten miteinander auch ziemlich sicher drei Wochen Ferien verbracht, ohne uns zu streiten.

Doch trotz (oder gerade wegen) seiner enormen Menschenkenntnis und ungeachtet seines umgänglichen Wesens wahrte Winnie bewusst oder unbewusst stets eine gewisse Grunddistanz zu seinen Mitmenschen. Auch an jenem Abend, an dem ich ohne Vorwarnung ein tonnenschweres Paket voller Probleme auf seinem Tresen deponierte, gab er mir nicht das Gefühl, eine Art Blutsbruder vor mir zu haben.

Aber er hörte mir zu und liess mich ahnen, dass er sehr wohl wusste, wovon ich sprach, als ich ihm von meiner abgrundtiefen Enttäuschung erzählte.

Am Ende – Mitternacht war längst vorbei – schenkte er mir eine Platte; „…but seriously“ von Phil Collins. Seither muss ich an Winnie Jauch denken, wenn ich „I wish it would rain down“ höre.

All das ging mir durch den Kopf, als ich vorhin „Rhythm & Blues“ von Buddy Guy aus dem Internet auf meine Festplatte lud. Die Download-Anzeige schlich gerade von „Messin‘ with the kid“ zu „What’s up with that woman“ – da wurde mir bewusst: Der Erwerb von Musik hat nichts Menschliches mehr an sich. Es handelt sich um einen rein technischen Vorgang. Roboter bauen Autos, Chips steuern Flugzeuge, iTunes verkauft Platten.

iTunes hat zwar nonstopp geöffnet und eine ungleich grössere Auswahl, als Winnie Jauch sich je zu erträumen gewagt hätte. iTunes gibt Klangjunkies den Stoff günstiger ab als ein leibhaftiger Dealer. Was iTunes liefert, rauscht nicht und kratzt nicht und hält länger als ewig.

Doch iTunes sagt mir nicht, ich solle von dieser oder jener Scheibe besser die Finger lassen (ganz im Gegenteil: iTunes brüllt ununterbrochen „Kauf! Kauf! Kauf!“). iTunes sagt mir nicht, dass das atemberaubende Solo auf dem dritten Stück nicht vom Originalgitarristen, sondern von einem Studiomusiker eingespielt wurde, und iTunes sagt nicht „Danke!“, wenn ich bezahle.

Vor allem aber sagt iTunes zu niemandem, was ihn oder sie im Moment über alle Massen beschäftige, fühle sich schon bald nur noch halb so wild an. Es, iTunes, wisse aus eigener Erfahrung, dass dieser Schmerz irgendwann ganz vorbei und vergessen sei, auch wenn man sich das jetzt kaum vorstellen könne.

iTunes stiehlt sich allerdings auch nicht klammheimlich aus dem Leben und hinterlässt eine Lücke, die auch ein Vierteljahrhundert später noch zu spüren ist; nicht jeden Tag natürlich und auch nicht jede Woche und nicht einmal jedes Jahr.

Aber manchmal…manchmal schon.

Nachtrag 14. Oktober: Kaum hatte mein Brüetsch diesen Text auf Facebook verlinkt, meldeten sich längst erwachsene Zeitgenossinnen und -genossen, die als Teenager ebenfalls gerne und oft bei Winnie Jauch ein- und ausgingen. Ich habe ihre Kommentare so belassen, wie sie verfasst worden sind.

Bildschirmfoto 2013-10-14 um 05.23.37

Nicole Torretti schreibt: „Jo, das sind no Zyte gsi bim Winnie!“

Stephan Hess: „Wir alle stürmten jeden Samstag seinen Laden und fanden alle mit seiner Hilfe das, wo wir suchten. Gehörte Vinyl oder CDs durften nicht selber wieder einsortiert werden…:-)“

Sarah Hunziker: „Wenni es lied ghört ha,aber ned gwüsst ha wies heisst hanis em winnie vorgsunge und sekunde spöter die passend cd ede hand gha…da gets secher nieh meh….“

Susanne Fritschi: und Claudio Haller: „Jo, de winnie fählt…“

Urs Zurlinden: „R.I.P. winnie!! schön hämer en teil (die einte meh, die andere weniger) vo eusere jugend met der ond i dim lade dörfe verbrenge. onvergässlech!“

Karin Dätwyler-Mosimann: „Er fehlt emer no, und werd glaub i au emer fehle e eusem Dorf.“

Jacqueline Hauri-Zieler: „Ich glaube, jede wo de Winnie kennt het, chönnt es paar schöni gschechte verzöue. Er esch eine gsy wo niemer cha ersetze. Ha jetzt no en CD Player vo ehm. Leider goter nöm aber ich ha en errenerig vom Winnie.“

Verena Hofmann: „Sogar ich met Johrgang 1944 ha de Winnie kennt. Ha ou emol em Lade es Lied vor gsummet won i am Radio ghört ha ond nach paar Tön heter mi agluegt ond gseit: Sweet Dreams vo de Annie Lenox. Sone feine Mönsch gsi.“

Robert Eichenberger: „Winnie hesch die LP vo dene dütsche Punks wo schwarz esch ond es 18ni droffe stoht?“ „Nei eigentli offiziell ned … aber wenn die meinsch wo i do henterem Trese ha, de steck der si gärn en Plastiksack.:-)“

Marc Torretti: „Esch au das en geile Lade gsi ond de Winnie en tolle Typ!! Er fählt extrem … au nach all dene Johr.“

Sandra Haller-Dal Col: „Ich erlaube mer do au en chliine Biitrag. Wenn no viel, viel meh Lüüt, e so wie e All dene schöne Biiträg dänkt und vor Allem iikauft hätte bem Winnie… Denn wäre secher au di Existenz Sorge chliiner gsi, oder gar ned vorhande gsi…Aber leider hett halt au das Günstig, Günstiger am Günstigste „Dänke“ Ned vor em Winnie halt gmacht mängisch hett er zäme met em Matthias ( HAWE hetts Gschäft a de Stumpistr.) näbedra gha, d’Veränderige im Chaufverhalte i de chlinere Fachgschäft z’Rynech diskutiert…ebeso de Horrändi Mietzins i dem Objekt… So Sache chönne eim s’Läbe haut scho au schwärmache… Aber glöcklech händ Ihn gaaanz secher All di guete, ihn ond d’Kunde zfriedestellende Begägnige/ Gspröch etc.gmacht Aber ebe… Mängisch längt Da elei haut glich ned…“

image
(Bild: Annette Härri)

5 Kommentare

  1. die letschti cd wo i bi ehm kauft han… DJ Miko – Whats Up…. 2 Täg Spöter escher nömme gsi… R.i.P. Winni… Werd dini art und dis lache nie vergesse. Hannes DANKE vell mol för din brecht. esch jedes einzelne Wort wo du gschrebe hesch zu 100% wohr!!!!

  2. Danke Hannes, dass wir hier nochmals die Gelegenheit bekommen, uns an Winnie zu erinnern… (und schon wieder kommen die Tränen, auch nach 16 Jahren!) Es gibt Momente im Leben, da erinnert man sich auch nach Jahren noch, wo man gerade war und was man gerade tat, als man von einem solchen Ereignis erfuhr (Todesnachricht Lady Di, Steve Lee, 9/11) und auch die Todesnachricht von Winnie gehört bei mir dazu. Manchmal beneide ich die Menschen, die Winnie nie getroffen haben. Die müssen auch den Schmerz über seien Verlust nicht ertragen. Winnie, ich werde dich nie vergessen!

  3. Als ich mal wieder bei Winnie CD’s hörte, zeigte er mir ein kleines Fresszettelchen eines Kunden, welcher ein Lied im Radio gehört hatte und nun verzweifelt nach diesem Song suchte. Auf dem Zettel stand ungefähr sowas:
    gen lif in ben lu

    Winnie wusste natürlich sofort, welcher Song gemeint war. Es war without you von Mariah Carey! 🙂

    Er war einfach unschlagbar, kannte den Geschmack seiner Kunden und scheinbar auch jeden Song, egal ob man ihm lediglich Textfetzen hinwarf oder die Melodie nachzupfeifen versuchte oder die Handlung des Videos nacherzählte oder was auch immer…

    In den vergangenen Jahren habe ich in vielen Gesprächen immer wieder erlebt, dass irgendwer sentimental von Winnie und den guten alten Zeiten erzählte. Die Adicolor haben wir schon längst vergessen, Winnie nicht.

  4. Ich kaufte damals meine 1. Cd bei Winnie. Das war Desperado von den Eagles, ist immer noch meine Lieblings-Cd und halte diese in Ehren. Ich vermisse manchmal diese Zeit, das rumstöbern im Laden, jeder Song konnte man summen, Winnie machte ein Griff und hatte die Cd in der Hand.

  5. noch heute erinnern wir uns immer wieder an unseren damaligen cd-gott Winnie. deine erinnerungen an ihn hast du treffend und sehr schön „zu blog“ gebracht. chapeau, hannes!

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.