Damals, im Sommer

Vier Wochen lang gab es von Mittag bis Mitternacht nichts als Fussball, Fussball und Bier ohne Ende: Zwischen dem 8. Juni und dem 8. Juli 1990 sass ich wegen der WM in Italien ununterbrochen in der Gartenwirtschaft des Restaurants Schützenhaus in Reinach und schaute mir mit Adrian Krenn, dem Freund der Wirtin Annemarie Gloor, die Augen wund.

Aus jedem zweiten Auto, das neben uns am Waldrand vorbeifuhr, dröhnte „Un estata italiana“ von Gianna Nannini und Edoaro Bennato.

Meist waren wir alleine. Die anderen Leute hatten Gescheiteres zu tun, als stundenlang mit anderen vor dem TV in der Beiz zu sitzen. Der Begriff „Public viewing“ existierte noch nicht. Grossleinwände gab es nur im Kino. Dass die Menschen ihre Telefone dereinst in der Hosentasche mitführen würden: undenkbar. Internet? Zukunftsmusik. Wer wissen wollte, was von wem gegen wen wie gespielt wurde, guckte unbehelligt von Werbepausen fern, las eine der vielen, vielen Bezahlzeitungen oder hörte Radio.

Roger Milla, Rudi Völler, Frank Rijkaard, Marco van Basten, Salvatore Schillaci, Ruud Gullit: Das sind die Namen, die mir beim Stichwort „Italia 90“ spontan in den Sinn kommen. Und jener von Franz Beckenbauer natürlich, der nach dem deutschen 1:0-Sieg im Finale gegen Argentinien sagte, jetzt sei (das soeben wiedervereinigte) Deutschland „über Jahre hinaus nicht zu besiegen“. Diese Bemerkung geisselte ich mit einem gehässigen Kommentar im Wynentaler Blatt; ob Beckenbauer meine Kritik je wegstecken konnte, habe ich nie erfahren.

Es war ein – wie mir damals schien – unendlich langer und unfassbar schöner Sommer.

Wenig später war Adrian tot. Annemarie gab das „Schützenhaus“ auf und verschwand von meinem Radar. Ich habe keine Ahnung, was aus ihr geworden ist.

Fussball-Weltmeisterschaften waren für mich nachher nie mehr dasselbe. Natürlich: Das Spiel fasziniert mich nach wie vor. Und ja: Ich mag den Deutschen immer noch jeden Gegentreffer und jeden Bänderriss gönnen und klar: Die Brasilianer sind die Besten, mit Abstand, vor allen anderen Südamerikanern und den Portugiesen.    

Aber der Zauber – der ganz grosse Zauber ist verflogen. Fussball ist zu einem jederzeit überall konsumierbaren Produkt geworden; wenn ich will, kann ich mir auf meinem Handy in diesem Moment die Aufzeichung eines Spiels in Weissrussland anschauen. Oder die Wiederholung des WM-Achtelsfinals in Italien.

Nur: Ohne Adrian und sein „gib en use! Gib en doch use!!“, ohne Annemarie und ihre Pommes-Frittes, ohne den alten Fernseher in der Laube und ohne dieses eine Lied, das in dreieinhalb Minuten zusammenfasste, was Millionen Menschen wochenlang fühlten, fehlt einfach etwas. Die Magie. Es ist alles so beliebig geworden. So durchorganisiert. Und so selbstverständlich.

1 Kommentar

  1. Schön… truurig… aber glich schön! Komplimänt, Brüederhärz – mer gspüürt förmlech, wies gsi esch em Sommer 1990!

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