Der Messerwerfer am Ende des Weges

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Aus dem Nichts platschten heute Morgen hundertmillionentausendkommavier Hektoliter Wasser auf Playa del Inglés herunter. Mein Überlebensinstinkt, der seit meiner vielbeklatschten Landung hier eine ausgesprochen ruhige Kugel geschoben hatte, schaltete sofort in den Alarm-Modus. Er schoss sämtliche Warnleuchtraketen auf einmal ab, liess alle verfügbaren Sirenen heulen und brüllte in einem fort: „Renn oder stirb! Renn oder stirb!“

In meinem Kopf gings zu und her wie in „Apocalypse now“, nur dass sich mir keine Vietnamesen mit Maschinengewehren im Anschlag in den Weg stellten, sondern Angehörige der schwarzafrikanischen Ethnie mit riesigen Sonnenbrillengestellen im Arm, die als Letzte Worte gleich „Cheap!“ oder „Kauf?“ röcheln würden.

Die Suche nach einem Platz im Schärmen erwies sich aber nicht nur wegen ihnen als mühselige Angelegenheit. Denn als ich von einer „Rosthühnchen“-Beiz zum nächsten „Leberkäs“-Spunten hastete, erhärtete sich, was sich schon 1914 und 1939 angedeutet hatte: Beim Besetzen von fremden Territorien kennen gewisse Typinnen und Typen keinen Pardong (wobei, bevors Leserbriefe hagelt: Auf den Stühlen sassen gewiss auch Österreicher und Schweizer. Ich bin mit 50 Prozent an einem Volkswagen beteiligt und mit diesem sehr zufrieden. Andrerseits: Wenn jemand, wie vorgestern Abend erlebt, dem Hotelgärtner hingerschi und vürschi erläutert, womit und wie oft er die Fische im Teich zu füttern habe, handelt es sich dabei garantiert nicht um einen Finnen).

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Ich dachte schon, das sei es jetzt also gewesen, muchas gracias, als ich ganz zuhinterst, am Ende der Restaurantmeile, ein menschenleeres Restaurant entdeckte. An der Theke des „Cafe Juan“ lehnte ein hagerer Mann mit schütteren grauen Haaren und einem Schnauz, der

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Tom Selleck

neidvoll hätte erblassen leichen lassen.

In seinen uralten Jeans und seinem ausgewaschenen schwarzen Leibchen, mit vielen Tattoos auf den Armen und, vor allem, mit seinen blauen Augen, die zweifellos schon mehr gesehen hatten als die Augen von all den Touristen auf der Insel zusammen, schien er auf etwas zu warten, ohne zu wissen, auf was.

Ich setzte mich an ein Tischchen und wartete auf die Bedienung. Und wartete, und wartete, und wartete. Als ich schon wieder gehen wollte, kam der Mann zu mir und fragte mich sächselnd, ob ich etwas zu trinken haben wolle. Ja, gerne, antwortete ich, ein Minderalwasser wäre tiptopp, worauf der Mann für grob geschätzte zwei Monate im Dunkel des Lokals verschwand.

Als er wieder zum Vorschein kam, entschuldigte er sich dafür, dass es mit der Lieferung so lange gedauert habe. Eigentlich sei der Chef für die Bestellungen zuständig; er mache normalerweise nur den Abwasch und die Tische sauber und fege den Platz und leere die Aschenbecher, aber der Chef habe gestern Abend wieder einmal zuviel gebechert, weshalb nun wohl oder übel er im Service einspringen müsse, sagte der Mann.

Dann stellte er mir das Wasser hin, wandte sich zum Gehen, machte zwei Schritte, drehte sich nochmal um und fragte: „Sie sind aus der Schweiz, nicht wahr?“ Ich bejahte, worauf der Mann wieder näher kam und sagte, er stamme aus der ehemaligen DDR und lebe jetzt schon seit 21 Jahren auf Gran Canaria.

„Aha“, sagte ich – und ahnte irgendwie, dass das noch nicht alles gewesen sein konnte.

Es war noch nicht alles gewesen. Bei Weitem nicht.

Ursprünglich sei er Artist, fuhr der Mann fort. „Messerwerfer, Entfesselungskünstler, Westernshows – der ganze Kram halt“, sagte er. Jahrelang sei er mit einem Zigeunerpaar durch Europa getingelt, und während eines Engagements im Euro-Disney bei Paris sei das Angebot gekommen, auf den Kanarischen Inseln zu arbeiten. „Kanarische Inseln – ich als Ossi wusste gar nicht, wo die liegen“, lachte der Mann, aber ein richtiges Lachen war es nicht, mehr ein wehmütiges Schmunzeln.

Auf Gran Canaria hätten sie eine Weile zusammengearbeitet, „aber auf einmal trennten sich die Zigeuner, und ich musste mich entscheiden, ob ich auf der Insel bleiben oder weiterziehen soll“. Er habe sich fürs Bleiben entschieden, eine Freundin gefunden, geheiratet und ein kleines Häuschen bauen lassen, „für 38 000 D-Mark. Damals gabs noch die D-Mark“, sagte er, und wieder lachte er, ohne zu lachen.

Vor fünf Jahren sei seine Frau gestorben, „mit fünfunfuffzich, an Krebs, das ist doch noch kein Alter, Mensch“, erzählte der Mann, der alle Zeit der Welt zu haben schien. Seither sei er alleine und mache mal dies und mal das. Am Anfang habe er sich mit dem Auspressen von Früchten über Wasser gehalten. Später sei er auf eine Pferderanch beschäftigt gewesen. Eines Tages habe er seinen Chef gefragt, ob er kurz freimachen könne, um seine kranke Frau im Spital von Las Palmas zu besuchen.

„Dann kannst du gleich für immer verschwinden“, habe der Chef zu ihm gesagt. Daraufhin sei er für immer verschwunden und auf weiteren Umwegen in der Gastronmie gelandet.

Ob er nicht nach Deutschland zurückwolle, oder wieder als Artist arbeiten, fragte ich ihn. „Nö“, sagte der Mann. Mit Deutschland verbinde ihn nichts mehr. Er habe dort ein paar Kinder, doch die seien längst erwachsen und nach der Wende in alle Himmelsrichtungen verschwunden. Wo sie jetzt seien und was sie jetzt machen: „Keine Ahnung.“

Tische abzuwischen und Aschenbecher zu leeren, sei zwar nicht unbedingt der Traum seines Lebens gewesen; „aber ich habe hier Essen und Trinken frei, das Haus kostet mich pro Monat hundert Euro – was will ich mehr?“

„Deine Kinder sehen. Einmal noch deine Kinder sehen, um zu wissen, was auch ihnen geworden ist“, dachte ich, verkniff mir aber, es zu sagen.

Auftritte als Artist gebe es hin und wieder, fuhr der Mann fort. „Einmal fragte mich jemand abends an der Bar, ob ich ihm auf die Schnelle bei einer Westernshow helfen könne; sein Partner sei kurzfrsitig ausgefallen. Ich hatte schon einiges intus und sagte, das gehe nicht; nicht in diesem Zustand. Doch der andere konnte mich überreden. Wir fuhren quer über die Insel. Die Show selber…naja. Wir steckten mitten in einer gespielten Prügelei, als ich meinen neuen Kollegen aus Versehen einen Volltreffer an den Hinterkopf verpasste. Er flog quer durch den Raum und landete auf dem Tisch eines alten Paares“, erinnerte sich der Mann.

Jetzt, wo er von seine Zeit als Künstler erzählte, lachte er wirklich.

Nur, um ihm weiter zuhören zu können, stellte ich ihm ein paar Fragen, die ihm in den letzten 20, 30 oder 40 Jahren bestimmt schon x mal gestellt worden sind. Geduldig antwortete er, ja, die Messerwerfermesser würden tatsächlich immer mit der Spitze zuerst einschlagen, aber nur, wenn der Werfer mindestens drei Meter von der Scheibe entfernt stehe („Physik, du verstehst.“). Und, klar: Unfälle würden vorkommen, vor allem, wenn das Timing nicht stimme, was meist der Fall sei, wenn das Rad, an dem jemand angeschnallt sei, schneller oder langsamer drehe als vorgesehen. Er habe mal jemandem ein Messer in den Oberschenkel geworfen, aber weiter sei nichts passiert.

Der Mann redete und redete, und als ich mich verabschiedete, fragte er, wie lange ich noch auf der Insel bleibe; es würde ihn sehr freuen, mich wiederzusehen.

Falls mich morgen Morgen jemand suchen sollte: Ich bin im Cafe Juan.

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