Die neue Virklichkeit (45)

Die grosse Zeit der Imnachhinein-Besserwisser: Wenn die Schweiz im Sommer zum zweiten Mal gedownlockt würde, wäre daran nach Ansicht der Oberlehrer der Nation primär der Bundesrat schuld.

Mit meinen eigenen Augen habe ichs nicht gesehen. Aber es gibt keinen Grund, an den Erzählungen von Freunden, die da waren, zu zweifeln.

Als sie berichteten, wie es in einem Burgdorfer Geschäft für Waren aller Art zu- und herging, als es am Montag zum ersten Mal wieder geöffnet war, lief es mir kalt über den Rücken: Vor der Türe seien sich die Kundinnen und Kunden bis auf den Parkplatz auf den Füssen herumgestanden. Drinnen habe ein Gedränge geherrscht wie sonst nur beim Ausverkauf bei H&M. Trennscheiben an der Kasse hätten ebenso gefehlt wie Masken vor den Mündern der Angestellten.

Der grossen Lockdown-Lockerung, die der Bundesrat für den 11. Mai in Aussicht gestellt hat, blicke ich deshalb mit einiger Skepsis entgegen. Wenn die primitivsten Vorsichtsmassnahmen schon in einem Laden ignoriert werden, der ohne übermässigen Aufwand coronakompatibel betrieben werden kann – worauf muss man sich dann beim Hochfahren eines ganzen Landes gefasstmachen?

Für mich passt das einfach nicht zusammen: Einerseits halten sich Millionen von Leuten beinahe zwei Monate lang an die Verordnungen der Regierung. Sie stellen ihre Alltage von Grund auf um, verlegen ihre Arbeitsplätze ins traute Heim, gehen nur wenn nötig nach draussen und kümmern sich um Mitmenschen, von denen sie bis vor Kurzem höchstens den Nachnamen kannten.

Aber an dem Tag, an dem die Baumärkte ihre Schiebetüren entriegeln, belagern Tausende und Abertausende dieser vermeintlich vernünftigen und verantwortungsbewussten Zeitgenossen schon in aller Herrgottsfrühe die Obis, Hornbachs, Jumbos und Do-its, weil der Kauf eines neuen Akkubohrers keinen Tag länger Aufschub duldet.

Sie stürmen die Gartencenter und Landifilialen, als ob es ab morgen keinen Mulch und keine Schüfeli mehr gäbe, und wenn sie auch nur gerüchteweise vernehmen würden, dass ein Coiffeur in Sargans zwischen 14.45 und 15 Uhr noch einen Termin frei hat, würden sie auf der Stelle in Richtung Ostschweiz losfahren.

Diese Leute werden vor ihrer Lieblingsbeiz also schon bald mit zwei Metern Abstand voneinander warten, bis ein Tisch frei wird? Sich die Hände desinfizieren, bevor sie auf den Markt gehen, um jede Zucchetti einzeln auf ihre Reife abzutatschen? Bei Museumsbesuchen auf die Markierungen am Boden achten?

Aber gewiss doch.

Wegen dieser Lockerungen – beziehungsweise: wegen der Art und Weise, wie die Menschen damit umgehen – könnte Ende Juli gemäss Experten die zweite Infektionswelle über die Schweiz schwappen. Daraufhin würde die Nation erneut ins Wachkoma versetzt.

Für jene, welche dafür massgeblich mitverantwortlich sein werden, wäre das dann der ultimative Beweis dafür, dass der Bundesrat im Kampf gegen Covid-19 alles falsch macht, was er falschmachen kann.

7 Kommentare

  1. Klar, Berset und Sommaruga sind überfordert. Darum konnten sie sich ja auch nicht gegen die bürgerliche Mehrheit durchsetzen, die den Laden schnellstmöglich wieder hochfahren wollte. Wer trägt die politische Verantwortung, wenns in die Hosen geht?

    Klar: Berset und Sommaruga. Das wusste Frau Matura-Blocher bereits im Dezember.

  2. Und wenn man auf die ganz Klugen gehört hätte, ja was wäre, wenn, wenn?

    Es ist eine Illusion, dass wir noch immer meinen, alles immer vorhersagen können zu müssen.

  3. Ja klar, „schlussement“ wissen wir es dann alle besser????…

    …aber würden wir es in Echtzeit, dreidimensional und in Multicolor auch besser machen?????

    Wir müssen lernen mit dem Ungewissen umzugehen, es so zu nehmen wie es kommt und das Beste daraus zu machen.

  4. Ja, schon. Aber den Lockdown verlängern ad infintum ist auch nicht möglich.

    Aber ich weiss auch nicht, was das Beste ist. In Foren und auf FB dagegen tummeln sich die Besserwisser hordenweise.

  5. Danke Hannes, du schribsch genau was i o dänke.

    Bi scho gspannt wie au die Lüt de i de Gartebeize ungerwägs si. Ah ihrne Vierertischli hocke, mit Abstand enang zueproschte u we si de zahle u gö ungerwägs no am Heiri u am Gritli no sälü säge wüu die ja ou do si. Obs de 2m drzwüsche si…

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