Die neue Virklichkeit (11)

„Ein Glücksfall für die Schweiz“: Ob er bei Politikern und in der Bevölkerung gut ankommt, interessiert Daniel Koch nur sehr bedingt. Wichtiger sind dem BAG-Spitzenbeamten Zahlen und Fakten.

Sehr geehrter Herr Dr. Daniel Koch

Einerseits kann ich mir kaum vorstellen, dass Sie in diesen Tagen gross dazu kommen, zu lesen, was über Sie geschrieben wird. Falls Sie einmal ein Eggeli Freizeit haben, nutzen Sie das sicher lieber, um mit Ihren zwei Boxern und Ihrem Schlittenhund nach draussen zu gehen oder um – falls es sich um eine mehrstündige Pause handeln sollte – einen Halbmarathon zu laufen.

Andererseits gehören Sie vermutlich ohnehin nicht zu den Leuten, die vor jedem Satz, den sie sagen, und jeder Geste, die sie machen, überlegen, was der Rest der Welt davon hält. Sie reden, wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist, und tun, was Sie für richtig halten. Im Gegensatz zu zahllosen anderen Personen der Zeitgeschichte ist Ihnen der Unterschied zwischen „Sein“ und „Schein“ sehr bewusst.

Ich schreibe Ihnen trotzdem, aber weniger, weil ich will, sondern mehr, weil ich sozusagen von innen heraus muss. Es ist mir ein tiefes Bedürfnis, Ihnen Danke zu sagen.

Spätestens, seit das Corona-Virus auch in der Schweiz wütet, sind Sie in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit eine Art Feldherr, der die Nation im Kampf gegen den Eindringling anführt. Diese Rolle haben Sie ganz bestimmt nicht gesucht – in wenigen Wochen werden Sie, zumindest theoretisch, pensioniert – aber Sie füllen sie aus, als ob Sie in Ihrem Leben nie etwas anders getan hätten, als sich scheinbar übermächtigen (und in diesem Fall sogar unsichtbaren) Gegnern zu stellen.

In einem gewissen Sinn trifft das sogar zu: Bevor sie vor 18 Jahren für das Bundesamt für Gesundheitswesen (BAG) zu arbeiten begannen, wirkten Sie 14 Jahre lang als Arzt für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Im Einsatz für das IKRK mussten Sie im Bürgerkrieg von Sierra Leone mit ansehen, wie Kindersoldaten die Hände abgehackt wurden. In Uganda behandelten Sie Menschen, die Opfer unvorstellbarer Gräueltaten geworden waren.

Wer Solches er- und überlebte, zählt nicht eilig seine Überstunden zusammen, um ein paar Wochen früher als geplant in den Ruhestand flüchten zu können, wenn er bemerkt, dass tödliche und hochansteckende Bazillen Kurs auf die Schweiz nehmen. Der spürt, dass es auf der Kommandobrücke ab sofort jemanden braucht, der nicht nur über unendlich viel Fachwissen verfügt, sondern dem auch – oder vor allem – ein grosses Mass an Gelassenheit eigen ist, um Millionen von Menschen von Anfang an spüren zu lassen, da oben sitze jemand, der weiss, wovon er spricht.

Dieses beruhigende Gefühl, sehr geehrter Herr Koch, vermitteln Sie uns, seit Corona in der Schweiz zu wüten begann. Fast rund um die Uhr erläutern Sie als Pandemieexperte Medienschaffenden und damit uns allen den aktuellen Stand der Dinge, ohne etwas zu beschönigen oder zu dramatisieren. Hochkomplexe Zusammenhänge vermitteln Sie auf eine Art und Weise, die jeder und jede versteht. Und wenn Sie einmal etwas nicht wissen, sagen Sie frank und frei, dass Sie das nicht wissen. Auch das schafft Vertrauen.

Wenn Sie vor den Mikrofonen der Radio- und TV-Anstalten sitzen, ist Ihnen zweifellos bewusst, dass Ihnen in Wohnungen, Büros, Altersheimen und Spitälern in diesem Moment zig Leute voller Sorgen, Ängste und Hoffnungen zuhören.

Auf Ihren Schultern lastet eine unfassbar schwere Verantwortung. Eine falsche Bemerkung von Ihnen kann eine Panik auslösen und ein missverständlicher Satz den Aktienmarkt erschüttern. Aber wenn man Sie und einen Wettermoderator nebeneinander auf einem Bildschirm zeigen und den Ton abstellen würde: kein Mensch wüsste, welcher der beiden Herren gerade über ein Tiefdruckgebiet und welcher über vier neue Todesopfer informiert.

Sie sind die coolste Socke, die ich je „kennen“lernen durfte, und glauben Sie mir: In den letzten 54 Jahren sah ich von dieser Gattung schon das eine und andere Prachtsexemplar.

Menschen aus Ihrem Umfeld nennen Sie „bescheiden“ und „zuverlässig“ und „bis zu einem gewissen Grad stur“ (das sagte der frühere BAG-Direktor Thomas Zeltner , Ihr ehemaliger Chef). Ruth Humbel, die Präsidentin der nationalrätlichen Gesundheitskommission, stellte fest, Sie seien mit ihrer „ruhigen“ und „sachlichen“ Art „ein Glücksfall für die Schweiz“. Der frühere FDP-Ständerat und Präventivmediziner Felix Gutzwiller konstatiert, Sie würden sich „voll und ganz fürs Land einsetzen, ohne sich in den Vordergrund zu stellen“ (sämtliche Zitate sind der Schweizer Illustrierten vom 22. März entnommen. Zum kompletten Porträt gehts hier entlang).

Der Berner Zeitung fiel auf (das Porträt ist online nicht gratis zugänglich): „Einem asketischen Meditations-Guru gleich scheint es ihm zu gelingen, den kollektiven Puls der Schweizer Bevölkerung um ein paar Schläge pro Minute auf ein erträgliches, gesünderes Mass zu senken.“ Sie würden stets erwarten, dass Entscheide basierend auf Daten und Fakten gefällt würden, ergänzte in der BZ Ihr Ex-Chef Zeltener. Ob Sie damit damit bei Politikern und der Bevölkerung gut ankommen oder nicht, sei Ihnen „egal“. Das mache Sie „zur bestmöglichen Variante eines Staatsdieners“.

Leute, die zu Beginn dieses Monats noch nicht wussten, dass es Sie gibt, verehren Sie als „unser aller Fels in der Brandung“ und loben, „Sie machen einen unglaublich guten Job!“ Für andere sind Sie „ein Charakterkopf der alten Schule“. Eine Leserin formulierte es, vor lauter Begeisterung etwas aus dem grammatikalisch-orthografischen Häuschen geraten, aber zutreffend, so: „Wie sie sich als Person ausweisen mit ihrer ruhigen besonnen Art kompetent und verlässlich authentisch wie sie sich in den Medien auten ist zu den täglichen News die richtige Person welche unser Land jetzt braucht kein grosser Schwätzer aber ein Kämpfer sachlich mit einem Durchhaltewillen“.

Es braucht keine hellseherischen Fähigkeiten, um vorauszusagen: Wer auch immer sich Chancen darauf ausrechnet, im Dezember zum „Schweizer des Jahres“ erkoren zu werden, begräbt seine Hoffnungen besser schon heute als erst morgen. Diesen Titel holt sich heuer keine Sportskanone und kein Star aus der Unterhaltungsbranche und kein Politiker und kein Wirtschaftsführer, sondern der Chef-Bundesbeamte Daniel Koch, und zwar von mehr Pauken und Trompeten begleitet als sämtliche seiner Vorgängerinnen und Vorgänger zusammen.

Der Letzte, der auf diese Auszeichnung spaniflet, sind Sie. Wenn Sie dereinst auf die Bühne gehen, um den Preis entgegenzunehmen, werden Sie – nicht nur „Stand jetzt“, um eine Ihrer Lieblingsformulierungen zu verwenden – kaum mehr sagen als „ich habe doch nur meinen Job gemacht.“

Allen anderen im Saal und an den Bildschirmen zuhause wird jedoch klar sein: Sie retteten unzähligen Bewohnerinnen und Bewohnern dieses Landes das Leben.

7 Kommentare

  1. Grossartig, was er bietet! Er wäre wirklich ein guter Kandidat für den Schweizer des Jahres!

  2. Guet ond treffend gschrebe! Ei Präzisierig han i glich, er bruucht ned mehreri Stond Pause för de Halbmarathon, er lauft de i 1:30… , ou dete es Vorbild…

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