Die neue Virklichkeit (21)

Ei-ntönig: Das Thema „Corona“ verfolgt uns bis in die hintersten Winkel unseres Alltags.

Samstagabend, 18.45 Uhr: Über mir knirschts immer lauter. Von Minute zu Minute werden die Spalten in den Balken breiter. Bevor mir gleich die Decke auf den Kopf fällt, lade ich mich bei einer Freundin zu einem Spontankafi ein. Wenig später sitzen wir auf ihrem Balkon. Abgesehen von ein paar Kindern, die auf einem Klettergerüst herumkraxeln, ist das Quartier menschenleer. Langsam versinkt die Sonne hinter den Bäumen. Wir unterhalten uns über Corona, Corona und Corona.

Sonntag, 11. Uhr: Ich sichte das Bisschen Post, das seit Mittwoch im Briefkasten lag. Der Satz „Am 16. März 2020 hat der Bundesrat entschieden, wegen des Corona-Virus die ausserordentliche Lage zu erklären…“ fällt so oder sinngemäss in jedem Schreiben. Entweder bitten mich die Absenderinnen und Absender höflich darum, die noch nicht fällige Rechnung es Bitzeli früher zu begleichen. Oder teilen mir mit, dass das Unternehmen seine Geschäftstätigkeit auf das Minimum heruntergefahren habe, „telefonisch und online im Notfall aber jederzeit erreichbar“ sei.

Sonntag, 14 Uhr: Drei Freunde schauen vorbei. Wir stellen ein Tischli ins Freie, trinken Mineralwasser, Kaffee und Cola Zero, mampfen dazu Salzgebäck und haben den Frieden. Die Sonne scheint, am Himmel ist kein Kondensstreifen zu sehen. Wir geben uns Mühe, nicht über das Thema zu reden, oder ämu nicht nur. Aber welchen Gesprächsstoff auch immer wir anschneiden – nach spätestens zwei Sätzen landen wir, wo wir nicht hingewollt hatten: bei Corona, Corona und Corona.

Sonntag, 18.15 Uhr: Ich telefoniere mit einem ehemaligen Arbeitskollegen. Wir haben uns seit Ewigkeiten nicht mehr gehört und könnten uns aus unseren Privat- und Geschäftsleben deshalb Vieles erzählen. Einziges Traktandum ist Corona, Corona und Corona.

Nein – es gibt kein Entrinnen: Corona ist immer und überall, genau wie das Böse im Uralt-Hit der Ersten Allgemeinen Verunsicherung.

Wenn ich auf youtube ein Video abspielen will, appellieren zunächst einmal Alain Berset, Roger Federer, Christa Rigozzi und weitere Promis in allen vier Landessprachen an meine Solidarität mit den schwächsten Corona-Betroffenen, raten mir, die Hände zu waschen und versichern, dass „die sichere Versorgung der Schweiz mit Lebensmitteln sichergestellt“ sei, bevor der eigentliche Clip startet.

Wenn ich fernsehe, ermahnen mich diverse Sender mit einer Dauereinblendung in der rechten oberen Bildschirmecke, zuhause zu bleiben, um Corona nicht noch mehr Gelegenheiten zu bieten, sich weiterzuverbreiten.

Onlinemedien rechnen mir livetickernd vor, wieviele neue Todesopfer Corona in den letzten Stunden gefordert habe. In der Schweiz gibt es über 2000 Gemeinden. In keiner von ihnen scheint seit Mitte März etwas passiert zu sein, was nicht mit Corona zu tun hatte. Interviews mit Sportfunktionären, Porträts von Kunstschaffenden oder Reportagen aus fernen Landen drehen sich ausschliesslich um Corona. Facebook ist bald nicht mehr zum Aluege: Bei jedem zweitem Beitrag handelt es sich um ein lustiges Zeitvertreibspielchen, einen Aufruf, bei einer Bild- oder Film- oder Buchchallenge mitzumachen oder Verschwörungsschrott.

Wenn ich zum Schloss hochschaue, fällt mir als Erstes ein, dass die Jugendherberge und die Museen da oben wegen Corona noch nicht eröffnet werden konnten. Wenn ich auf den Hofstattplatz hinuntergucke, sehe ich niemanden, weil: Corona. Wenn ich mitten in der Nacht frustriert den Mond anheule, weil alle immer nur über Corona reden, fällt mir als Erstes auf, was für eine schöne Korona er hat.

Wenn ich einkaufen gehe, laufen mir zwischen den Gestellen Männer und Frauen über den Weg, die ich bis dahin wie aus dem Truckli angezogen kannte. Nun wirken sie mit ihren notdürftig gerichteten Frisen und in ihren Jeans und Trainerjacken, als ob sie wegen Corona seit Tagen daheim im Pyjama herumgegammelt wären und sich für den Gang unter die Leute einfach schnell übergestreift hätten, was gerade auf dem Schlafzimmerboden lag.

Dass ein Thema unser Leben bis in die hintersten und finstersten Winkel des Alltags dominiert, hat es wahrscheinlich noch nie gegeben. Nach dem 11. September 2001 diskutierten die Leute in Büros, auf Baustellen, in Beizen und am Familientisch zwar immer wieder über den Terror und dessen Auswirkungen. Das Grounding der Swissair, das Attentat von Zug oder die Pleite der Bank Lehmann-Brothers beschäftigten die Öffentlichkeit monatelang.

Daneben war aber immer noch Platz für anderes. Am Grimselpass wurde eine riesige Felsnase weggesprengt, Apple lancierte den ersten iPod (für die Jüngeren hier:

So sahen sie aus, die kleinen Wunderdinger.),

in den Kinos sorgte „Harry Potter und der Stein der Weisen“ für Umsatzrekorde und am 24. November kamen beim Absturz eines Flugzeugs über Bassersdorf 24 Menschen ums Leben, darunter auch die R&B-Sängerin Melanie Thornton, die in Langenthal ihr neues Album bewerben wollte.

Wenn sich all das heute ereignen würde: Ich glaube, es nähme davon kaum jemand Notiz.

Und falls doch, würde man sich als Erstes fragen, ob die Sprengarbeiten trotz Corona ausgeführt werden können, wie lange das Virus auf diesem Appledings überlebt, ob das Kino das Geld für die Tickets zurückerstatte und welche Sicherheitsvorkehrungen die Rettungskräfte treffen müssen, um sich beim Bergen der Leichen und Trümmer nicht gegenseitig anzustecken.

All das schreibe ich zu Beginn der vierten von noch unabsehbar vielen weiteren Corona-Wochen. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns auch im Juni, Juli, September und November ständig über Corona unterhalten, scheint durchaus zu bestehen.

Vor meinem geistigen Auge sehe ich bereits Familien vor dem Christbaum sitzen und darüber werweissen, ob das Tragen von Schutzhandschuhen auch beim Auspacken der Gschänkli angezeigt sei und wie man die Fleischstücke beim Fondue Chinoise am Elegantesten unter der Maske hindurch in den Mund schiebt.

Aber gut: Je mehr solcher Fragen an Weihnachten 2020 geklärt werden können, desto weniger prägen sie die Feiern der kommenden Jahre.

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