Die tote Frau vom Waschmaschinen-Mann

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Auch die ältesten Hotelangestellten können sich nicht erinnern, im Pool des „Playa d’Oro“ jemals eine so schöne Leiche gesehen zu haben: Strohblondes Haar, sonnengetönte Haut, ein knallgelbes Bikinihöschen – würde die Frau noch leben, hätte der Sabber der Männer das Becken längst überlaufen lassen.

So aber, mit diesen dunkelvioletten Würgemalen und den panisch aufgerissenen Augen, die blicklos in den wolkenlosen Himmel starren, hat sie die tausend Kubikmeter Wasser für sich alleine.

Missmutig beobachten Paolo Cruz und Daniele Corrida von der Policia Playa del Inglès, wie ein pummeliger Gerichtsmediziner die Tote wie eine Luftmatratze zum Rand des Beckens schiebt. In kleinen Wellen schwappt das lauwarme Wasser über den starren Körper und von dort in die Nasenlöcher des Forensikers.

„Nach Spuren zu suchen, können wir uns schenken“, murmelt Corrida. „Die sind längst weggespült.“ Sein Kollege spuckt auf den rostroten Steinboden. „Egal. Das geht auch ohne. In diesem Hotel leben soviele Leute – da muss irgendjemand irgendetwas gesehen haben.“

Schnaubend stemmt sich der Arzt aus dem Pool. Er packt den glitschigen Torso unter den Achseln, hievt ihn hoch und legt ihn unter den süss duftenden Blüten eines Jacarandabäumchens in den Schatten. Dann lässt er sich vom Hausdienst weisse Leintücher bringen, um die Leiche vor den Blicken der Touristen zu verbergen. Diese haben sich im Glauben, es handle sich um einen Teil des Animationsprogramms,  im Planschbereich des „Playa d’Oro“ eingefunden. Und beobachten nun mit einer Mischung aus Grauen und Gwunder, wie das so läuft, nach einem Mord.

Paolo Cruz und Daniele Corrida schlendern zur Rezeption, um herauszufinden, wie die Frau hiess und in welchem Zimmer sie logiert hatte. Mit spitzen Fingern nestelt der Portier in einer Beige fotokopierter Identitätskarten und Pässe herum. Schliesslich zieht er ein Papier hinaus: „Ist sie das?“, flötet er. „Das ist sie“, antwortet Cruz.

„Nele Schmitz. Aus Düsseldorf. 302“, sagt der hochaufgeschossene und etwas geierhaft wirkende Mann hinter dem halbrunden Kunststoffmarmortresen. Er interessiert sich für die Uniformierten offensichtlich mehr als für den Grund ihres Auftauchens in seinem Horst. „Wenn ich Ihnen sonst noch behilflich sein kann, melden Sie sich einfach. Ich habe um punkt 18 Uhr Feierabend. Für nachher habe ich noch keine Pläne“, ruft er den Ordnungshütern nach.

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„Guten Tag“, sagt Paolo Cruz zu dem Mann, der zehn Minuten später die Türe öffnet und aussieht, als ob er die Nacht in einer laufenden Waschmaschine verbracht hätte. „Sie sind…“

„…Schmitz. Berndt Schmitz. Mit dt und tz. Was wollnse?“

„Ich bin Paolo Cruz von der Polizei von Playa del Inglés. Das ist mein Kollege Daniele Corrida. Wir haben gerade Ihre Frau aus dem Hotelpool gefischt.“

„Aha. Und wo ist sie jetzt?“

„Unten. Hatte Ihre Frau Feinde?“

„Wieso ‚hatte‘?“

„Sie ist tot.“

„Ach so. Nee. Nicht, dass ich wüsste.“

„Wo waren Sie letzte Nacht?“

„Hier, im Zimmer.“

„Und heute Morgen?“

„Ich bin in dem Moment aufgewacht, in dem Sie anklopften.“

„Ist sonst noch jemand hier?“

„Nö.“

„Sie sind also seit gestern Abend alleine.“

„Ja.“

„Wieso?“

„Nele wollte unbedingt an eines dieser Konzerte im Hotelgarten. Ich hatte Kopfschmerzen und Durchfall.“

„Und seither haben Sie sie nicht mehr gesehen?“

„Nein.“

„Kam Ihnen das nicht merkwürdig vor?“

„Wieso auch? Nele kann tun und lassen, was sie will.“

„Sind Sie eifersüchtig?“

„Wir führen eine offene Ehe, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Trotzdem – ich muss Sie das fragen. Ist reine Routine: Haben Sie Ihre Frau umgebracht?“

„Angenommen, ich hätte: Glauben Sie ernsthaft, dass ich Ihnen das einfach so auf die Nase binden würde?“

„Dürfen wir uns kurz umsehen?“

„Muss das sein? Ich bins ja nicht gewesen.“

„Gut. Entschuldigen Sie die Störung. Einen schönen Tag noch.“

 „Keine Ursache. Ihnen auch.“

Cruz und Corrida streichen Berndt Schmitz mit dt und tz von ihrer Liste der Verdächtigen, die somit noch genau null Namen umfasst.

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Unzählige Verdächtige und ein Streber

Als die Türe zum Zimmer des Waschmaschinenmannes lautlos ins Schloss fällt, dämmert den Fahndern, dass diese Ermittlung in echte Arbeit ausarten wird. In den drei Häusern, die zum „Playa d’Oro“ gehören, dürften ihrer Schätzung nach fünf- bis achthundert Menschen untergebracht sein.

„Ganz genau sind es…Moment…670 Damen und Herren, zum Teil mit Kindern“, klärt der der Concierge die Polizisten, überglücklich über das unverhofft schnelle Wiedersehen, nach einem Blick in die Gästeliste auf.

„Ich hätte heute eben doch frei nehmen sollen“, brummt Daniele Corrida.  „Aber nein: Carla will erst am Freitag mit mir aufs Land fahren. Also nehme ich am Freitag frei.“

„Carla? Ich dachte, das sei…“

„…wir probierens nochmal. Das heisst: Sie probiert es nochmal.“

„Sie hat ein grosses Herz, deine Carla.“

„Wem sagst du das? Die Frage ist aber: Was machen wir jetzt?“

„Das müsst ihr schon selber miteinander…“

„…ich meine hier. Jetzt. Wegen dieser…Sache.“

„Jetzt klopfen wir die restlichen Räume ab.“

„Spinnst du? Dafür benötigen wir…(lässt die Augen über die unzähligen bunten Balkone an der blendend weissen Fassade gleiten)…Tage. Wochen!“

„Hast du einen besseren Vorschlag?“

„Wir könnens ja telefonisch versuchen.“

„Telefonisch?!?“

„Wir gehen zum Empfang und sagen unserem neuen Freund, er soll uns in ein Zimmer nach dem anderen durchstellen. Wenn du den ein bisschen an deiner Uniform schnuppern lässt, telefoniert der für uns bis Mitte nächsten Jahres.“

„Und dann? Angenommen, es nimmt überhaupt jemand ab: Was sagst du dann? <Guten Tag, hier spricht Daniele Corrida von der örtlichen Polizei. Ich möchte Sie nur kurz fragen, ob sie etwas mit der Leiche zu tun haben, die unten beim Pool liegt.>?“

„In der Art habe ich mir das vorgestellt, ja.“

„Siehst du: Deshalb bin ich der Chef und nicht du. Telefonisch Zeugen befragen, oder vielleicht sogar mögliche Täter; ich glaubs ja nicht¨“

„Reg dich wieder ab. War ja nur ein Vorschlag.“

„Jeder Polizeischüler im ersten Semester weiss, dass nicht nur wichtig ist, was die Leute sagen. Was zählt, ist, wie sie es sagen. Ob sie dabei schwitzen wie die Affen oder mit den Füssen scharren. Ob sie einen anschauen oder aus dem Fenster gucken. “

„Dann setzen wir uns eben beim Eingang an einen Tisch und fragen jeden, der hereinkommt oder hinausgeht…“

„…halt die Klappe. Wir gehen jetzt in die Zimmer.“

„Und wenn niemand da ist? Ich meine: 38 Grad, keine Wolke weit und breit – die sind doch alle am Strand jetzt, oder in der Stadt, oder was weiss ich; jedenfalls sind sie ganz sicher nicht hier.“

„Dann schreiben wir auf, wo wir ein zweites Mal vorbeischauen müssen, und machen den Rest am Abend, oder morgen früh.“

„Fantastisch. Sonst haben wir ja nichts Gescheiteres zu tun.“

„Nein, haben wir nicht.“

„Streber.“

„Ich versuche nur, meinen Job anständig zu machen.“

„Eben. Das interessiert doch keine Sau, wer diese Frau…“

„…ihren Mann schon, glaube ich.“

„Übertrieben traurig sah er aber nicht aus; musst du zugeben. Auf mich wirkte er eher wie jemand, der soeben erfahren hat, dass es zum Abendessen Nudeln statt Spaghetti geben würde.“

„Das war der Schock. Wenn sie schockiert sind, reagieren die Menschen ganz anders als normal. Sobald der Typ realisiert, was los ist, heult er Rotz und Wasser, jede Wette.“

„Ich könnte jetzt etwas Kühles vertragen.“

„Zuerst stochern wir ein wenig in diesem Heuhaufen herum.“

„Aber wirklich nur ein wenig.“

„Wir machen 50 Zimmer. Dann lade ich dich zu einem Bier ein.“

„30.“

„50.“

„40.“

„50.“

„Ok. Gehen wir.“

Verschlossene Türen und „The HAENIS from Switzerland“

Abgesehen vom Licht der Unterwasserscheinwerfer, das die Oberfläche des Swimmingpools wie eine zerknitterte goldene Folie schimmern lässt, und vom Schein der orange-gelben Kerzen auf den rotgedeckten Tischen ist es im Garten des Hotels fast dunkel. Das Geplapper und Gelächter von bestens gelaunten Menschen aus aller Welt flirrt durch die immer noch feuchtheisse Luft. Besteck klappert auf Tellern. Alle paar Sekunden ist das „Pling“ von aneinanderstossenden Gläsern zu hören.

Die Gäste haben den Zwischenfall vom Nachmittag vergessen oder verdrängt oder gar nicht mitbekommen. Sie konzentrieren sich auf ihre Meeresfrüchte und Paëllas und Sangrias und Biere und auf einen jungen Mann mit Gitarre und eine junge Frau am Schlagzeug, die wenige Meter vor ihnen musizieren.

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Laut dem grossen Plakat neben dem Buffet handelt es sich bei dem Duo um „THE HAENIS from Switzerland“. Sie verdanken dieses Engagement dem Umstand, dass Röbi „Roberto“ Fankhauser, der Besitzer des Hotels, seine Wurzeln auch nach 14 Jahren auf Gran Canaria nie ganz vergessen hat und sich via Internet regelmässig über das Geschehen im Bernbiet auf dem Laufenden hält.

Bei einem dieser Online-Streifzüge durch seine alte Heimat entdeckte er „The Haenis„. Bands mit „The“ im Namen, dachte sich Fankhauser, sind, wie The Beatles, The Bee Gees, The Eagles, The Cars oder The The bewiesen, immer gut, weshalb er The Haenis ohne lange zu überlegen für ein einwöchiges Gastspiel im „Playa d’Oro“ verpflichtete.

Das Publikum lauscht der Darbietung mit wohlwollendem Interesse. Wovon der Mann mit dem mediterran wirkenden Dreitagebart und die Frau mit dem herzigen kleinen Hund auf dem T-Shirt singen, erschliesst sich den wenigsten. Aber wer weiss: Vielleicht stürmen „The Haenis“ in vier oder sechs Jahren oder so sämtliche Hitparaden zwischen Reykiavik und Sydney, und dann im Bekanntenkreis beiläufig fallenlassen zu können, „die haben schon in einem Hotel auf den Kanarischen für mich gespielt“: Das hätte schon was.

Etwas abseits vom Geschehen lehnen Daniele Corrida und Paolo Cruz an einer gigantischen Palme. Sie haben die letzten Stunden damit zugebracht, durch die labyrinthartig verwinkelten Hotelkorridore zu gehen, und sich dabei gefühlt, als ob sie durch ein Dampfbad laufen würden. 43 Mal standen sie vor verschlossenen Türen. Sechsmal wurde ihnen geöffnet – und beschieden, man wisse von nichts. Aus dem Zimmer 811 schlug ihnen ein dermassen intensives Gegrunze und Gestöhne entgegen, dass sie beschlossen, beide Ohren zuzudrücken und ihre Mission als für vorläufig beendet zu erklären.

Kaum standen sie wieder draussen, steuerten sie die Bar an. Nach einem grossen, kalten Bier und je zwei Litern Agua Minerale gingen sie zu Gin Tonic mit Eis über. Dabei blieben sie, bis sie gerade noch rechtzeitig bemerkten, dass sie immer noch im Einsatz sind. Daraufhin wechselten sie zurück zum Bier.

„La-la-lalalalaaaa, la-la-la-la“ schallt es von den Tischen zu den Polizisten herüber. Hemmungslos singen Österreicher, Italiener, Franzosen, zwei Finnen, drei Schweden, das eingeborene Personal und ein Schweizer den Refrain des Liedes mit, das der Sänger als „üsi nöi Hitsingle“ angekündigt hatte. Blitzartig sind Corrida und Cruz wieder bei der Sache. Als ob ihre Augen kleine Radarschirme wären, lassen sie ihre Blicke über die Gesellschaft schweifen.

„Etwas stimmt hier nicht“, denkt Cruz, während er den Mikrofonständer fixiert. „Etwas passt nicht dazu.“ Tief in seine Gedanken versunken, zuckt er zusammen, als ihm Corrida den Ellenbogen in die Rippen rammt und mault: „Ich bin kaputt. Können wir gehen?“

„Nein“, sagt Cruz. „Wir bleiben noch hier.“

Eine hochgelegte Latte und ein müder Rocker

Um punkt Mitternacht beenden The Haenis ihr Konzert mit einer eingeberndeutschten Hiphop-Version von „Sweet Home Alabama“. Nach dem Schlussakkord steigen die bis in die hinterste Furche durchgeschwitzten Zuhörerinnen und Zuhörer umständlich von den Stühlen, ordnen ihre derangierten Frisuren, unterschreiben die Rechnungen und ziehen sich in ihre Zimmer zurück. Nachdem alle gegangen sind, legt sich eine gespenstische Ruhe über den kleinen Park.

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The Haenis verstauen ihre Instrumente in einer Kammer neben der Küche. Viel Zeit, um sich zu erholen, haben sie nicht: In weniger als elf Stunden steht ihre nächster Einsatz auf dem Programm. Dann sollen sie die Teilnehmerinnen des Kurses „Aquafit 60+“ auf Trab bringen.

Das Musikerpaar erörtert gerade die Frage, wo es zu dieser späten Stunde noch etwas zu trinken bekommen könnte, als es bemerkt, wie sich ihm zwei Fremde nähern.

Ohne sich gross mit Höflichkeitsfloskeln aufzuhalten, blafft der eine der Uniformierten: „Das Bikinioberteil am Mikrofonständer: Ist das eures?“

„Bhüetisgott, nein!“, antwortet der junge Mann verblüfft. „Das hing schon da, als wir kamen. Und überhaupt wäre mir das viel zu gross. Damit kann man ja Wassermelonen verpacken“, fügt die Frau an.

„Auf die Idee, dass es nicht dahingehören könnte, seid ihr nicht gekommen?“, fährt Corrida fort.

„Wie auch?“, fragt der Sänger. „Wir dachten, das sei ein Teil des Equipments. Dekoration oder so.“

„Dann gehört der Krempel da also nicht euch“, stellt Cruz fest.

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„Der Krempel da?“, fragt der junge Mann, und zieht die linke Augenbraue soweit hoch, bis sie beinahe das Dächli seiner Kappe berührt. „Bei allem Respekt: Das sind…“

„…jajaja. Dann halt die Instrumente und Lautsprecher und alles. Und, eben: der Mikrofonständer. Das alles ist nicht euer…Zeug.“

„Wir haben nur Badesachen und Schminkzeug und so mitgenommen“, erklärt die Frau geduldig. „Wir steigen doch nicht mit zig Gitarren und einem Schlagzeug und Verstärkern und Boxen und einem Mischpult ins Flugzeug! Wir sind nicht Pink Floyd.“

„Verstehe.“

„Aber CD’s haben wir dabei; jede Menge sogar, und iPhonehüllen. Wenn Sie ein Weihnachtsgeschenk für Ihre Frau Gemahlin…“

„Danke, nicht nötig“, winkt Corrida ab. „Seit wann seid ihr hier?“

„Seit Mitte Nachmittag. Nach einem Begrüssungsapéro beim Direktor legten wir uns kurz hin. Dann machten wir einen kurzen Soundch…testeten wir die Anlage und…ja…dann gins auch schon los. Das war um punkt 20 Uhr und dauerte bis vorhin. Vier Stunden, inklusive Ansagen und Zugaben.“

„Wisst ihr, wer vor euch hier gespielt hat?“

„Bis gestern waren Bäng Gäng hier. Ganz grosses Kino! In der Schweiz haben die die Latte so hochgehängt, dass alle anderen Bands auf einer Giraffe darunter durchreiten könnten. Krokus zum Beispiel waren weltberühmt, bevor Bäng Gäng kamen. Inzwischen sind sie froh, wenn sie das Volkshaus…“

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„…Bäng Gäng? Komischer Name. Heissen die wirklich so?“, erkundigt sich Cruz.

„Klar.“

„Wenn die spielen, wie sie heissen, möchte ich nicht…aber das ist jetzt nicht das Problem.“

„Sondern?“

„Dieses Bikinioberteil, wie gesagt. Oder besser gesagt: Die Frau, der es gehörte. Sie ist tot. Ermordet.“

Der junge Mann zieht sich reflexartig die Mütze vom Kopf. „Das wussten wir nicht“, sagt er betreten.

„Kennen Sie jemanden von diesen…diesen…Bäng Gäng?“, will Paolo Cruz wissen.

„Mit dem Drummer haben wir ab und zu zu tun, ja.“

„Haben Sie seine Handynummer?“

„Natürlich. Soll ich…“

„….selbstverständlich!“

„Um diese Zeit?“

„Das sind Rocker. Die stehen in diesem Moment auf und starten die nächste Orgie.“

„Wenn Sie meinen. Sekunde.“

„Und?“

„Der Schlagzeuger sagt, er habe noch nie ein gelbes Bikinioberteil gesehen, jedenfalls nicht in diesem Hotel, und schon gar nicht am Mikrofonständer.“

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„Ist der Mann zuverlässig?“

„Extrem.“

„Was sagte er noch?“

„Nicht viel. Er war gerade eingeschlafen. Hat den ganzen Tag lang seinen Sohn gehütet. Dann kam die Frau von der Arbeit nach Hause. Dann haben sie noch ein wenig miteinander geplaudert und etwas Kleines gegessen und dazu Springsteen gehört. Dann gingen sie duschen, dann…“

„…ist ja gut. Hat er noch etwas gesagt, was uns interessieren könnte?“

„Nur, dass seiner Band während ihres Aufenthaltes im ‚Playa d’Oro’ jeden Abend Hunderte von Kleidungsstücken zugeworfen worden seien. Wenn sie möchten, könnten sie mit all den Slips und BHs eine Unterwäscheboutiquenkette eröffnen, sagte er. Einmal sei auch ein Schnorchel geflogen kommen, aber das soll ich für mich behalten, wobei:  Wenn ichs weitererzähle, mache das auch nichts; die Hauptsache sei dass er jetzt endlich schlafengehen könne. Dann hängte er auf.“

„Merda.“

„Hören Sie: Wir würden Ihnen wirklich gerne helfen. Aber wir haben einen ziemlich langen Tag hinter uns und möchten jetzt gerne ins Bett.“

„Natürlich. Wenn uns noch etwas einfällt, melden wir uns bei Ihnen, oder umgekehrt. Sie verschwinden ja nicht gleich wieder von der Insel.“

„Oh, nein! Was würden auch die Aquafitleute von uns denken? Aquafitleute sind unberechenbar. Das Internet ist voll von Geschichten über Musiker, die von ausser Rand und Band geratenen…“

„Wieso sind Sie auf einmal so…nervös, junger Mann? So aufgekratzt?“

„Aufgekratzt? Ich? Ich bin einfach nur dure. Game over, wie wir in der Schweiz sagen. Die Hitze! Der Jetlag! Die Aufregung! Wir spielen zum ersten Mal im Ausland, müssen Sie wissen. Was den Beatles der Star Club in Hamburg war, ist für uns vielleicht das Playa d’Oro auf Gran Canaria. Wenn das gut läuft: Tschou, Kulturfabrik Lyss – Goooood evening, Madison Square Garden! Aber zuerst sind jetzt, wie gesagt, die Aquafitleute…“

„…Sie kommen mir vor wie einer dieser Batteriehasen aus dem Fernsehen.“

„Wir kennen nur einen Hasen, und der ist still“: Mit diesen Worten schafft es die junge Frau, das Gespräch noch vor dem Sonnenaufgang zu beenden.

Die Casting-Show und Ärger im Büro

Fluchend versucht Daniele Corrida, die halbantike Kaffeemaschine in Gang zu bringen, als Paolo Cruz grinsend ins Büro stürmt. „Ich habs“, sagt er. „Wir brauchen Filme. Und Fotos.“

Corrida stutzt. „Wovon?“

„Von allem, was seit vorgestern Abend im Hotel passiert ist. Es ist ganz einfach: Jeder Mensch hat heutzutage ein Fotohandy, und jeder Mensch knipst und filmt ununterbrochen, was um ihn herum passiert. Auf einer dieser Aufnahmen ist bestimmt zu sehen, wie das Bikinioberteil zwischen der Zeit, in der diese Bäng Gäng noch ohne Stoff am Mikrofon spielten, und gestern Nachmittag, als The Haenis ihren Kram aufbauten, an den Ständer gekommen ist“, doziert der Polizist.

„Und wie kommen wir an diese Handys? Niemand rückt sein Handy freiwillig heraus“, gibt Corrida zu bedenken.

„Ich lasse mir etwas einfallen. Lass mich nur machen“, sagt Cruz. Er zieht eine Zeitung aus der hinteren Hosentasche und lässt sich in seinen durchgesessenen Bürostuhl fallen. Corrida widmet sich wieder der Kaffeemaschine.

„Horror im Hotel!“, brüllt Cruz die Schlagzeile von der Frontseite entgegen. Dem Artikel im Innenteil ist zu entnehmen, dass im Pool des Playa d’Oro eine tote Frau gelegen habe und dass die Fahndung nach dem Täter  „auf Hochtouren“ laufe. Illustriert ist der Text mit drei Bildern, die offensichtlich von Amateuren geschossen wurden. Das grösste Foto zeigt ein mit einem weissen Laken bedecktes Etwas, ein zweites einen dicklichen Herrn mit hochroten Kopf, der jemanden aus dem Wasser hebt, und das dritte Paolo Cruz und Daniele Corrida auf dem Weg zu Rezeption.

Die Ermittlungen seien „sehr, sehr anstrengend“, wird „eine anonyme Quelle aus Polizeikreisen“ zitiert. „Nur schon all die Zimmer nach möglichen Tätern abzusuchen, war eine fast übermenschliche Anstrengung.“

Cruz blättert weiter. Und weiter. Und weiter. Unten links auf der Seite 18 findet er, was er nicht gesucht hat: Eine Vorschau auf eine Castingshow, die am Wochenende in Maspalomas stattfinden soll. In dem Moment, in dem er den Beitrag liest, ist ihm, als ob in seinem Gehirn ein winziges Puzzleteilchen ganz von alleine an den richtigen Platz fallen würde: „Eine Castingshow! Das ist es!“, ruft er durch das Büro.

Daniele Corrida schaut ihn fragend an.

„Wir lassen den Hotelchef einen Wettbewerb veranstalten. ‚Das Playa d’Oro sucht den Superstar’, oder etwas Ähnliches. Jede Wette: Die jungen Gäste machen mit, und die Alten fotografieren und filmen, als ob es um ihr Leben gehen würde. Der Witz ist: Prämiert wird nicht nur der beste Beitrag auf der Bühne, sondern auch der tollste Film und das schönste Bild. Am Ende lassen wir von der Jury, die – was niemand zu wissen braucht – aus lauter Polizisten besteht, die Handys einsammeln, laden deren Inhalte unauffällig auf einen USB-Stick und schwupp: Haben wir einen gigantischen Berg von Bildmaterial.“

„Nur, um sicher zu sein, dass ich dich richtig verstanden habe“, sagt Corrida. „Du willst bis weit nach deiner Pensionierung Filme und Fotos von wildfremden Leuten anschauen, nur, um herauszufinden, wer eine Touristin ermordet hat, die, ausser ihrem Mann vielleicht, keine Sau vermisst?“

„Ich habs dir schon einmal gesagt: Das ist unser Job. Ganz besonders das ist unser Job. Wenns dir nicht passt, kannst du die gerne den Tunesiern und Algeriern anschliessen, die überall diese billigen Sonnenbrillen und Kettchen verkaufen.“

„Es passt mir ja“, sagt Corrida kleinlaut. „Es ist nur…“

„Von mir aus darfst du dich bei der Zeitung gerne noch einmal über unsere unmenschliche Arbeit beklagen. Als anonyme Quelle bist du für die Reporter Gold wert.“

„Ich…“

„Wir machen jetzt diese Castingshow, und damit basta. Ruf den Hotelchef an und erklär ihm, was wir vorhaben.“

Rote Augen und eine böse Überraschung

Die Castingshow im „Playa d’Oro“ ist ein voller Erfolg – für alle Beteiligten. Eine 15ährige Norwegerin gewinnt mit einer recht eigenwilligen Interpretation von „Killing me softly“ den ersten Preis in Form einer Speedboodfahrt auf dem Meer. Den Fans im Publikum fliegen vor Begeisterung die Vaporisiergeräte aus den Gesichtern. Der Service kommt mit dem Getränkeausschank kaum nach. Die Polizisten laden in aller Eile knapp 10 000 Fotos und Filme auf ihre Sticks.

Über diese Ausbeute beugt sich tags darauf Paolo Cruz. Er ist alleine im Büro; Daniele Corrida ist mit seiner Carla ins Landesinnere gefahren, um auf verschiedenen Märkten für die nächste Woche einzukaufen. Auch in den nächsten Tagen würde er Cruz keine grosse Hilfe sein: Er müsse noch jede Menge Nachtschichten kompensieren, eröffnete er Cruz beim Adjossagen, und nehme deshalb bis Mitte nächste Woche frei.

Endlos ziehen auf Cruz’ angestaubtem Bildschirm glückselige Erwachsene, Teller voller Leckereien, nackte Brüste, exotische Blumen, Speisekarten, gigantische Gummibananen, Esel, sändelende Kinder, Palmenwipfel, Sonnenuntergänge, Segelboote und Papageien vorbei. Dieselben Motive begegnen ihm auch am Wochenende, am Montag, am Dienstag und am Mittwoch.

„Hast du etwas gefunden?“, erkundigt sich Corrida bei seinem Kollegen, als er am Donnerstag erkennbar gut ausgeruht auf die Polizeiwache zurückkehrt. Cruz ist nichts ums Reden zumute. Eigentlich ist ihm um überhaupt nichts zumute. Sein Elan, den Mörder der Frau im Hotel zu überführen, droht langsam, aber sicher, unter der Bilderflut zu versinken.

„Ich arbeite daran“, sagt Cruz kurzangebunden, und klickt sich durch die nächsten Aufnahmen. „Vorbildlich“, grinst Corrida. „Ich verschaffe mir nur kurz einen Überblick auf die Pendenzen, die in den letzten Tagen liegengeblieben sind. Dann bin ich gleich bei dir.“

Doch „gleich“ ist für Daniele Corrida ein relativer Begriff. Die Abbauarbeiten an seinem Pendenzenberg ziehen sich bis in die Abendstunden hin. In dem Moment, als er seinen Laptop zuklappen will, sagt Cruz mit einem seltsam gehässigen Unterton in der Stimme: „Komm mal her.“

Corrida stellt sich neben seinen Chef. Mit den Händen auf den Oberschenkeln abgestützt, betrachtet er ein Dutzend Fotos, die Cruz nebeneinander auf dem Bildschirm angeordnet hat.

„Fällt dir etwas auf?“, fragt Cruz.

„Auf den ersten Blick nicht“, sagt Corrida.

„Und auf den zweiten?“

„Auch nicht.“

„Sag mal: Für wie dumm hältst du mich? Der Typ auf diesem Bild und auf diesem und auf diesem und auf diesem und auf allen anderen Fotos: Das bist doch du. Und die Frau, mit der dieser Typ herumknutscht, ist unsere Tote aus dem Pool!“

„Äääh…“: Mehr fällt Corrida dazu nicht ein.

„Das heisst: Kurz, bevor die Frau getötet wurde, warst du bei ihr. Du warst am Tatort. Mit ihr.“

„Wir haben zwei, drei Gläser miteinander getrunken. Ich war vorher schon nicht mehr nüchtern, und dann…dann…ich weiss wirklich nicht mehr. Filmriss. Blackout. Ich kann mich an nichts erinnern. Deshalb habe ich dir vermutlich nichts gesagt.“

„Erzähl doch nicht solchen Mist!“, bellt Cruz. „Du hast nichts gesagt, weil du Angst hattest, automatisch zu den Verdächtigen zu gehören, sobald ich erfahre, dass du da warst. Mit ihr. Mit dieser Frau. Bist du wahnsinnig geworden?“

„Ich…“, murmelt Corrida.

„Gib mir deine Waffe. Und deinen Ausweis. Du bist bis auf Weiteres suspendiert.“

Corrida händigt seinem Chef das Verlangte aus. „Kann ich dann gehen?“

„Oh, nein, mein Lieber. Zuerst will ich wissen, was da lief, zwischen ihr und dir. Dann will ich wissen, wie lange du im Hotel warst. Dann will ich wissen, ob sie noch gelebt hat, als du gingst. Ich weiss nicht, was ich noch alles wissen will. Aber ich weiss, dass du dieses Gebäude nicht verlassen wirst, bevor ich alles weiss, was ich wissen muss.“

Corrida sackt in sich zusammen. Bis am nächsten Morgen erzählt er seinem Chef und dessen Vorgesetztem, der als neutraler Befrager am Verhör teilnimmt, von seiner Nacht im Hotel. Er lässt nichts aus: Nicht seine Anmachversuche an der Bar, nicht, wie er die Frau irgendwann dazu gebracht hatte, einen gespritzten Weissen mit ihm zu trinken, nicht, wie sie ihm ihr Leid darüber klagte, dass ihre „offene Ehe“ ausschliesslich von ihrem Mann gelebt würde, nicht, wie er sich alle Mühe gab, den alles verstehenden Zuhörer zu mimen und die Frau gleichzeitig bis knapp vor die Grenze zum Koma abzufüllen und nicht, wie er sich schliesslich mit ihr in die Kammer neben der Küche zurückzog, um zu tun, was seiner Meinung nach getan werden musste.

„Du bist ein Narr“, sagt Paolo Cruz. „Du weisst, was jetzt kommt: Ich muss dich verhaften. Dreh dich um und leg die Hände auf den Rücken.“

„Lass ihn.“ Die Frauenstimme ist kaum zu hören.

„Carla? Was…?“

„Lass ihn laufen. Ich habe die Frau getötet. Daniele hat damit nichts zu tun. Das heisst: Doch. Hat er. Aber er wars nicht.“

„Ich verstehe nicht“, sagt Paolo Cruz.

„Das ist doch nicht so kompliziert“, antwortet Carla, und sie klingt leicht genervt. „Ich wusste doch, dass Daniele seine Finger nicht von diesen Touristinnen lassen kann. Seit er bei eurem Verein ist, nutzt er jede freie Minute, um sich in seiner schicken Uniform an fremde Frauen heranzumachen. Nach unserem letzten Streit hat er mir zwar geschworen, die Finger von ihnen zu lassen. Aber das glaubte ich ihm nicht. Deshalb bin ich ihm an jenem Abend ins Hotel gefolgt. Als ich dort ankam, stand er mit dieser Deutschen an der Bar.“

„Und dann…“ wirft Cruz ein.

„Und dann habe ich gewartet, bis sie fertig waren, in ihrem Kämmerlein. Kaum hatte er seinen Spass gehabt, lief Daniele davon. Die Frau lag immer noch da, sturzbetrunken und kaum bei Bewusstsein. Es war ganz einfach: Ich legte ihr meine Hände um den Hals und drückte zu. Drei Minuten später zog ich sie in den Pool. Das war eigentlich das Schwierigste von allem. Die Schlampe war schwerer, als ich gedacht hatte.“

„Wieso hat dich niemand gesehen?“, fragt Cruz.

„Weil die Gäste längst ins Bett gegangen waren. Und die Hotelangestellten waren oben im Saal bereits damit beschäftigt, die Tische für das Frühstück vom nächsten Morgen zu decken.“

„Du kannst das nicht wissen, Carla: Daniele hat den Mord vorhin gestanden. Ich weiss also nicht, wieso du…“

„Ich sage die Wahrheit“, sagt Carla. Vergleich die Fingerabdrücke auf dem Hals mit meinen. Diese kleinen Rillen in der Haut sieht man vielleicht nicht mehr. Aber Fachleuten wird auf den ersten Blick auffallen, dass meine Finger genauso gross oder klein sind wie die Flecken am Hals. Danieles Finger sind grösser.“

„Und was ist mit dem Bikinioberteil? Wie kam das an den Mikrofonständer?“, will Cruz wissen.

„ich habe gesehen, wie Daniele die Frau auszog. Er hatte es wahnsinnig eilig. Kaum hatte er ihr das Badeklaid über den Kopf gestreift, riss er den BH auf und warf ihn weg. Irgendwie landete er auf dem Ständer. Ich habe vergessen, ihn zu entsorgen. Anfängerfehler“, sagt Carla verbittert.

Paolo Cruz wendet sich an seinen Kollegen, der die Diskussion schweigend mitverfolgt hatte: „Stimmt, was Carla sagt?“

„Ja. Leider.“, sagt Daniele Corrida.

„Warum hat du dann vorhin behauptet, du seist es gewesen?“

„Ich wollte Carla nicht belasten. Und letztlich ist das alles ja nur meine Schuld. Ohne mich wäre das alles nie passiert. Carla hat mir meine Seitensprünge schon so oft verziehen und mir Dutzende von neuen Chancen gegeben. Ich wusste, dass sie das diesmal nicht mehr tun würde. Diesmal war das eine Mal zuviel. Sie würde gehen, und ich würde den Rest meines Lebens mit dir auf dieser Wache und fremden Frauen in Hotelbars verbringen. Das ist keine Perspektive. Aber mehr habe ich nicht zu bieten.

Carla hingegen: Sie hat, wie du neulich ja selber gesagt hast, ein grosses Herz. In einer winzigen Gefängniszelle würde es erdrückt.“

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3 Kommentare

  1. War spannende Lektüre 🙂
    Und auch in allen andern Beiträgen, die ich gelesen hab, sehr schöne Schreibe
    DANKE

  2. Danke *:o) Krass korrekte Ferienlektüre! Macht Lust auf mehr… aber Du sollst ja jetzt nicht arbeiten. Nimm Dir ein Beispiel an Corrida. An seinem Arbeitseifer, meine ich.
    Gruss aus dem sonnigen und heissen Bern *;o)
    Görgu

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