Ein Gehen und Kommen

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Um Punkt 4 Uhr schellte bei Nachbars der Wecker, um 4.15 dudelten die ersten Takte von Bachs Toccata aus ihrem Handy, und fünf Minuten später beganns nebenan zu rumpeln und poltern, und wenns einmal nicht rumpelte und polterte, hörte ich die Frau immer wieder rufen, „Nee, so!“ oder „Lass ma!!“ oder „Das macha ma späta!!!“, und als ich schon dachte, potz, die sind aber noch fit für ihre plusminus 80 Jahre, schlug er vor, den einen Koffer schonmal auf den Gang zu stellen, und in dem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Fischen: die Sachsen haben heute ihren Letzten.

Gutmensch, der ich bin, anerbot ich den beiden, ihr Gepäck in die Rezession zu tragen, aber nichts da: mit einem an Deutlichkeit wenig zu wünschen übriglassenden „Lass ma!“ machte sie sämtliche Hoffnungen ihres Herrn Gemahl auf einen entspannten Auszug aus dem Hotel zunichte.

Mit zwei Plasticsäckli (sie) und zwei Hartschalenkoffern in den Händen und einer Handtasche um den Hals (er) machten sich die zwei auf den Weg in die Lobby. Dort angekommen, stellte sie sich noch kurz auf die Waage (momoll: in der Hotellobby steht eine Waage!), während er sich am Tresen um die Auscheckmodalitäten kümmerte.

Draussen wartete laufenden Motores der Car, und als die beiden eingestiegen waren und ein Plätzli gefunden hatten, winkte er mir offensichtlich unfrohen Mutes kurz zu und dann fuhr der Bus los und im Musikzimmer meines Hinterkopfes schnallte Chris Rea sich die Gitarre um und sang „This ist the road to hell.“

Weil ich das Lied unbedingt zu Ende hören wollte und gerade ein Eggeli freier Zeit hatte, blieb ich noch ein Weilchen im Empfangsraum sitzen und beobachtete, wie Dutzende und Aberdutzende von Menschen, mit denen ich – Achtung: es wird jetzt kurz pathetisch, aber wirklich nur kurz – soeben noch unter einem Dach geschlafen und dieselbe Luft geatmet hatte, aus meinem Bewusstsein verschwanden; oder auch nur aus meinem Unterbewusstsein. Ich habe mit ihnen kein Wort gewechselt und würde jetzt, drei Stunden später, niemanden wiedererkennen, wenn die Polizei mir ein Bild von ihm oder ihr vorlegen würde.

Bei einigen fragte ich mich allerdings, was in der Heimat wohl auf sie wartet; oder wer (wenn überhaupt). Bei anderen stellte ich mir vor, wie sie fernab der Unbeschwertheit, die sie auf dieser Insel in den letzten Wochen geniessen durften, leben. Die alleinerziehende Mutter: wie lange hat sie für den Aufenthalt hier gespart? Das Ehepaar mit seinen drei Kindern: ist die Welt, in die sie zurückkehren, auch nur annähernd so heil, wie sie in Playa del Inglés für kurze Zeit war (oder einfach sein musste)? Der alte Mann an den Krücken: konnte er hier finden, wonach er nach dem Tod seiner Frau zu suchen begonnen hatte?

Gegen 10 Uhr war das Hotel schliesslich geräumt, und jetzt sitze ich mutterseelenalleine mit einem Dutzend anderen Gästen, die erst nächste Woche heimkehren, an der Poolbar, lausche zum grob geschätzt 1,428millionsten Mal „Killing me softly“ und schaue den Neuankömmlingen beim Ankommen zu.

Das erste Grüppli sitzt schon erwartungsvoll an einem grossen Tisch unter einem noch grösseren Palmenblätterdach, wo ihm der obligate Begrüssungsapero kredenzt wird. Eine zweite Horde ellböglet beim Eingang um die besten Plätze beim Verteilen der Zimmerschlüssel, und alle paar Minuten landet in Las Palmas wieder ein Flugzeug voller Träume.

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