Einmal Hölle und zurück

 

„Es ist eine Plage,
es ist eine Qual.“

(„Drachenjagd„, 1. Akt, 1. Szene)

Möglicherweise hatten Schulreisen einmal einen Sinn. Vielleicht tat es den Schülern und Lehrern einst tatsächlich gut, jedes Jahr etwas anschauen zu gehen, das sie sonst nie entdeckt hätten. Das muss zu einer Zeit gewesen sein, in der die Kinder nach Zehnstunden-Schultagen und am Wochenende auf dem heimischen Hof mitchrampfen und die restliche Zeit auf harten Kirchenbänken absitzen mussten.

Doch diese tempi sind passati: Kaum hat Papi die Nabelschnur gekappt, fliegt das Baby mit dem Mami am Bauch nach Indien. Als Zweijähriges erlebt es auf dem Rücksitz der Harley von Mutters aktuellem Lebensabschnittspartner seine erste Rundreise durch die Vereinigten Staaten. In den nächsten Ferien gehts mit demselben Mami, aber mit einem anderen Mann, ab zum Bärenstreicheln in Alaska.

Am Tag der Einschulung haben Luca und Lara gesehen, was es auf der Welt zu sehen gibt. Falls sie sich für Historisches in der näheren Umgebung interessieren sollten: Virtuelle Rundgänge bietet jedes Schloss und Museum auf seiner Website an. Für Zoobesuche genügt eine SMS an den Götti oder den Erzeuger, der sowieso nie weiss, wie er die gerichtlich festgelegten drei Stunden, die er mit seinem Sprössling in allen Monaten mit „L“ verbringen darf, sinnvoll nutzen kann.

Zwischen Speed und Schleckstengel

Abgesehen von den Bäckern und Metzgern wird niemand mehr behaupten, dass Schulreisen etwas Gefreutes sind, auf das man schon Wochen im Voraus planget und über das man noch Monate später mit strahlenden Augen spricht.

Wer regelmässig Zug fährt, kennt sie: Die vor Verzweiflung verzerrten Gesichter der Lehrerinnen und Lehrer, die sich schon frühmorgens auf dem Perron eingestehen müssen, die Kontrolle über die Horde Klein- und Halbwüchsiger verloren zu haben und nur noch hoffen können, die folgenden Stunden mit einer mühsam aufrecht erhaltenen Restwürde zu überstehen; die cool vor sich hinpaffenden Kids, die jedermann signalisieren, dass sie im Fall noch Gescheiteres zu tun hätten, als auf diesem Scheiss Gurten herumzulatschen; ihre Gspändli, die nach dem Aufstehen eine Extraportion Speed eingeworfen haben, um auf diesem Ausflug soviele Nerven zersägen zu können wie möglich; die Klassenkämpfe am Kiosk: Kevin bezahlt sein Marlboropäckli mit einer Hunderternote; Maria kramt für zwei Schleckstengel ihr Münz zusammen und ist pleite, bevor der Trip begonnen hat.

„Lueg, Joshua, da isch no öppis frei“

Die einen sind finster entschlossen, der Welt zu zeigen, was wirklicher Terror ist. Die anderen bemühen sich ausserhalb ihrer geschützten Werkstatt krampfhaft, aber vergeblich, darum, zumindest den Anschein zu wahren, die Lage im Griff zu haben: Willkommen auf der Schulreise 2011, deren mobile Phase primär durch den Umstand geprägt wird, dass es die Lehrerin in den neun Monaten, in denen sie keine Ferien hatte Fortbildungsseminare besuchen musste, wieder nicht schaffte, fünf Minuten für die Reservation eines Zugabteils aufzuwenden, so dass sich all jene Bahnpassagiere, die mit diesem Reisli nicht das Geringste zu tun haben (und auch nicht zu tun haben wollen), unversehens in einer Armee Halbirrer psychisch auffälliger Mitmenschen wiederfinden, die ohne Rücksicht auf materielle und körperliche Verluste um die wenigen freien Plätze kämpfen.

Mitten im Getümmel steht die Lehrerin, der keinem ihrer Schützlinge zumuten will, die zwölfminütige Fahrt nach Bern im Stehen zu absolvieren, weshalb sie ununterbrochen schreit, „Lueg, Joshua, da isch no öppis frei“ und „Hesch gseh, Céline, wenn dä Ma si Laptop uft Ablaag ufe leit, chasch du grad da härehöckle.“

Am Abend dann, wenn die eine Hälfte der Klasse in der örtlichen Ausnüchterungszelle randaliert und die andere Hälfte beschwörend auf Schadensexperten von Versicherungen einredet, am Abend also setzt sich die Lehrerin mit ihrer Freundin, die sie nichts Böses ahnend auf diesem Trip durch die Hölle und zurück begleitet hat, in eine stille Ecke im „Rössli“.

Erschöpft, aber unverletzt blicken die beiden auf den Tag zurück. Nach den ersten paar Litern Rotwein kommen sie zum Schluss, dass die Reise, wenn man lange genug darüber nachdenke, auch seine positiven Seiten hatte: Dass das überfüllte Gurtenbähnli den Berg hochgekommen sei, habe sie „total spannend“ gefunden, sagt die Begleiterin. „Das spontane Zvieri im Restaurant war schampar lässig“, strahlt die Lehrerin.

„Und hast du gesehen? Ich habe auch für Joshua noch ein Plätzli gefunden.“

1 Kommentar

  1. Demnach als kleine Vorwarnung…obwohl dich das wohl gebietstechnisch wohl nicht tangieren wird: Die Klasse meiner Tochter besucht am Montag den Züri Zoo…Anreise selbschtverschtändlich per SBB. Sohn‘ Klasse hat den selben Tag gewählt, allerdings gehn die „dä nöchi nachä“ und sind deshalb nur knappe 10 Min. per Zug unterwegs.

    Dir weiterhin viel Spaß beim Zug fahren und gute Nerven..

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