Erik hört Stimmen

Eigentlich beginnt die Saison auf dem Strandcamping in Nyborg erst am Samstag. Dem Schweizer Ehepaar mit dem herzigen Hund stellte die Chefin, die gerade dabei war, den Shop beim Eingang des Platzes einzurichten, trotzdem einen Bungalow zur Verfügung.

Nun haben der Mann und die Frau es sich im Häuschen Nummer 10 gemütlich gemacht. Wasser, Strom, Heizung: alles funktioniert. Der Vierbeiner fühlt sich wie zuhause. Nachdem er schnüffelnd jeden Quadratzentimeter des Areals erkundet hat, erholt er sich auf seinem Schaffell von den Strapazen des Tages.

Der Polarwind fegt Sand über das Gelände und treibt graue Wolken über die Südküste Dänemarks. Die Wohnwagen, die von ihren Besitzern den Winter über stehengelassen wurden, sehen aus wie gestrandete Wale.

Sanft legt sich die Nacht auf das Land. Die Lichter im Laden sind erloschen. Ermüdet von der langen Reise und gesättigt von all den Eindrücken, die sie unterwegs sammeln durften, verkriechen sich die zwei einzigen Menschen weit und breit früh ins Bett.

„Muss töten.
Muss töten.
Muss töten.“

Sosehr Erik sich auch bemüht und solange er sich auch schreiend die Ohren zuhält: Die Stimme in seinem Kopf wird nicht leiser. Zum ersten Mal hörte er sie vor einer Stunde in einem Restaurant in Nyborg. Erst glaubte er – wollte er glauben – , dass sie aus dem Fernseher über der Bar dröhnte. Er bat den Kellner, den Apparat auszuschalten.

Das Bild verschwand, die Stimme blieb.

Sie murmelte immer dasselbe. Sie schien ihn zu leiten. Als ob er von einer unsichtbaren Schnur gezogen würde, lief er durch die Gassen der Stadt. Er kam an einem Einkaufszentrum vorbei und an einem kleinen Laden und überquerte achtlos einen Kreisel.

Plötzlich stand er vor einer Barriere. Er zog sein Handy aus der Hosentasche und aktivierte die Taschenlampe. Der Lichtstrahl streifte über ein Schild mit der Aufschrift „Camping“. Erik wusste: Hier war er richtig. Zufrieden grinsend, ging er an der Abschrankung vorbei.

„Muss töten.
Muss töten.
Muss töten.“

In diesem Moment lässt ihn ein Knirschen unter seinen Füssen zusammenzucken. Ohne es zu merken, hat er einen Kiesweg betreten. Dieser führt zu einer Hütte, von der er nur die Umrisse erkennen kann. Im ersten Moment denkt er, sie stehe leer. Doch dann jault in dem Häuschen ein Hund auf.

Erik schleicht weiter. Jetzt bellt das Tier wütend. Eine Frau zischt „Tess! Ruhig! Es ist alles gut.“ Ein Mann murmelt etwas Unverständliches. Der Hund verstummt.

„Muss töten.
Muss töten.
Muss töten.“

Die Stimme macht Erik wahnsinnig. Das bisschen Verstand, das in seinem Hirn verzweifelt gegen sie angekämpft hatte, kapituliert.

Mit seinen Zehen stösst Erik gegen etwas Hartes. Er tastet sich mit einem Fuss vor und stellt fest, dass er vor einer Treppe steht. Unendlich vorsichtig steigt er die wenigen Stufen hoch. Dann streckt er wie ein Blinder die Hand aus, um sich zu orientieren. Seine Fingerkuppen streichen über Holz und Glas und berühren schliesslich ein eiskaltes Stück länglichen Metalls.

Millimeter um Millimeter drückt er den Griff nach unten. Im Haus ist es – abgesehen vom Schnarchen des Mannes – still. Sachte drückt Erik die Türe auf. Gleichzeitig zieht er aus seiner Manteltasche das grosse Steakmesser, das er in dem Lokal vor einer halben Ewigkeit beinahe unbewusst eingesteckt hatte.

„Muss töten.
Muss töten.
Muss töten.“

Seine Augen gewöhnen sich schnell an die Finsternis. In einem der Zimmer sieht er das Paar unter dicken Decken liegen. Daneben hat sich der Hund ausgestreckt.

Noch fünf Schritte, und Erik ist am Ziel.

Noch vier.

Noch drei.

„Muss töten.
Muss töten.
Muss töten.“

Noch zwei.

Seine Waffe fest umklammernd, steht er neben dem Bett.

Das letzte, was Erik in seinem Leben sieht, sind weisse Zähne, die von unten her auf ihn zuschiessen. Das letzte, was er fühlt, ist ein grauenhafter Schmerz, als die Muskeln und Sehnen in seinem Hals wie Papierschlangen reissen. Das letzte, worüber er staunt, ist, wieviel Blut innerthalb einer Sekunde aus einem menschlichen Körper sprudeln kann.

Das letzte, was er hört, ist nicht die Stimme in seinem Kopf, sondern jene einer ihm wildfremden Frau:

„Feini Meite“, flüstert sie.

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