Geboren, um zu sterben

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„Shin bekommt wie die anderen im Lager Maisbrei, eingelegten Kohl und Kohlsuppe. Jeden Tag, jedes Jahr. Und immer so wenig, dass er niemals satt wird. Er probiert wie andere verschiedene Methoden, um den Hunger zu dämpfen. Zum Beispiel nach dem Vorbild der Kühe das geschluckte Essen zu erbrechen, um es erneut zu essen…“

Das ist ein Auszug aus dem Buch „Flucht aus Lager 14“. Der Journalist Blaine Harden schildert darin das Martyrium von Shin Dong-hyuk. Dieser wurde in einem nordkoreanischen Straflager geboren – und erlebte 23 Jahre lang die Hölle auf Erden. Irgendwann musste er mitansehen, wie seine Mutter und sein Bruder hingerichtet wurden. Er hatte einem Aufseher die Fluchtpläne seiner engsten Verwandten verraten in der Hoffnung, dafür mit einer grösseren Nahrungsration belohnt zu werden.

Liebe erfuhr er nie. Seine Mutter stellte für ihn nicht mehr dar als die härteste Konkurrentin im Kampf ums Essen. Geborgenheit und Mitgefühl waren ihm fremd. Dass es eine Welt ausserhalb des Lagers gibt, wusste er nicht.

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(Quelle: www.spiegel.de)

Alles, was ihm in der „Schule“ beigebracht wurde, war, sich selbst und andere zu erniedrigen. Ein sechsjähriges Mädchen wurde vom „Lehrer“ zu Tode geprügelt, weil er in seiner Tasche fünf Maiskörner gefunden hatte. „Er befahl dem Mädchen, nach vorn zu kommen und sich vor der Klasse niederzuknien“, heisst es in dem Buch. „Er nahm seinen langen Zeigestock aus Holz, holte weit aus und schlug immer wieder auf den Kopf des Mädchens. Während Shin und seine Klassenkameraden schweigend zusahen, bildeten sich auf dem Kopf des Mädchens kleine Schwellungen. Aus seiner Nase floss Blut. Es stürzte auf den harten Betonboden nieder. Shin und andere Schüler hoben das Mädchen auf und trugen es zu seiner Unterkunft auf der Schweinefarm unweit der Schule. Noch am selben Abend starb das Mädchen.“

Wenn Shins Leben einen Sinn hatte, dann den, rund um die Uhr unter unmenschlichen Bedingungen zu arbeiten und eines Tages vor Hunger und Erschöpfung zu sterben. Er wurde monatelang in ein unterirdisches Verliess eingesperrt und gefoltert. Für das nordkoranische Regime – das die Existenz von Konzentrationslagern abstreitet, obwohl sowohl das Lager 14 als auch andere derartige Einrichtungen

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(Quelle: www.freekorea.us)

auf Satellitenfotos erkennbar

sind – war er ein „Hundesohn“; ein Sklave ohne Rechte, der beim geringsten Verstoss gegen die Lagerordnung erschossen worden wäre.

Als Shin Dong-hyuk 23 Jahre alt war, gelang ihm die Flucht. Über seinen toten Begleiter hinweg robbte er durch den Stachel- und Elektrozaun in die Freiheit. Durch Eis und Schnee schlug er sich nach China durch. In Shanghai fand er mithilfe eines Reporters Unterschlupf im südkoreanischen Konsulat. Irgendwann fasste er zu Blaine Harden so viel Vertrauen, dass er ihm seine Geschichte erzählte.

Und ich? Ich sitze in meiner kuscheligen Wohnung über diesem Dokument des Grauens, blättere mit wachsender Fassungslosigkeit eine Seite nach der anderen um und frage mich, was es wohl kosten würde, ein Exemplar all jenen Zeitgenossen zukommen zu lassen, die gegenwärtig Zeter und Mordio schreien, weils in der Coop-Lasagne ein bisschen Pferdefleisch hat.

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