Immer dieses verdammte Gehyster

Wenn ich schon nicht schreiben darf, will ich auch nicht lesen: Nach diesem Motto lebte ich in den letzten zwei Monaten in fast totaler medialer Enthaltsamkeit. Das einzige, was ich mir an Lektüre gönnte, waren die Krimis, die ich als Mitglied der Krimitage-Jury bewerten durfte. Alle paar Tage warf ich einen oberflächlichen Blick ins Facebook. Zeitungen und Online-Portale konsultierte ich so gut wie nie.

Dass während meines Zölibats eine Schockwelle nach der anderen unbemerkt an mir vorbeigerast war, merkte ich folglich erst mit Verspätung:

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Von all den Dramen, die ich verpasst hatte, nicht zu schreiben:

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Fast ein bisschen wehmütig erinnerte ich mich an die glorreiche Zeit vor zweieinhalb Jahrzehnten, als wir uns jeweils – statt im Büro unerspriessliche Planungssitzungen abzuhalten – gegen Mittag in eine nahe Beiz zurückzogen, um bei zwei, drei oder vier Bier zu beratschlagen, womit wir die Seiten bis am Abend füllen könnten.

In der Regel fiel uns etwas halbwegs Gescheites ein; wenn doch nicht, gabs halt eine üppig bebilderte Reportage aus der Badi oder ein episch langes Interview mit einem Fussballtrainer oder eine Umfrage zu einem Allerweltsthema. Irgendetwas war jedenfalls immer, und daran, dass sich je ein Leser oder eine Leserin darüber beschwert hätte, dass das Gebotene zu wenig schockierend oder zu undramatisch gewesen sei, kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.

Aber gut: Damals gabs noch kein Internet und damit auch keine Newsflashes und Liveticker. Wir konnten die Sachen damals ungleich gemächlicher angehen, als wir das heute zu tun gezwungen sind, wenn wir von der Online-Konkurrenz nicht auf Nimmerwiederlesen abgehängt werden wollen.

Denn Journalismus heute geht oft so: Sobald irgendwo irgendetwas passiert ist, hackt der diensthabende Redaktor oder der im Unterhalt wesentlich günstigere Praktikant einen Text ins System. Fünf Minuten später steht die Nachricht – unabhängig von ihrer Richtig- und Wichtigkeit – als „Eilmeldung“ zuoberst auf dem Onlineportal des Magazins/Blattes/Heftlis.

Andere Journalisten sehen den Artikel, schreiben ihn chli um (oder, samt allen Fehlern, auch nur ab) und speisen sie in ihre eigenen Kanäle ein.

Bei dem Medium, das die Nachricht zuerst gebracht hat, sind gleichzeitich schon Heerscharen von Reportern, Rechercheuren, Dokumentalisten und Rewritern damit beschäftigt, den Primeur zu veredeln: Sie ergänzen ihn mit Zusatzinformationen, forumlieren ihn neu und spitzen seinen Titel solange zu, bis er, wenn auch nicht mehr zur Geschichte, so doch ins redaktionelle Konzept passt.

Auf diese Weise wird aus Angela Merkels Hinfaller in der Loipe binnen höchstens einer Stunde ein Nahtoderlebnis für die deutsche Bundeskanzlerin. Die Berichte darüber werden millionenfach angeklickt, weil „Schock“ darüber steht, oder mindestens „Drama“.

So läuft das mit erstaunlicher Regelmässigkeit nicht nur bei Prominenten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport, sondern auch bei Normalsterblichen von nebenan. Wenn ein Hund ein Kind in die Wade kneift: „Bestie zerfetzt Baby-Bein!“. Wenn auf einem Parkplatz zwei Autos zusammenputschen: „Horror-Crash!“ Wenn der Dorfbach über die Ufer tritt: „Jahrhundert-Flut!“

Dazu kommen, mindestens einmal pro Jahr, eine

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und/oder ein

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Allerlei Experten orakeln auf Zuruf, dass die Menschheit innert weniger Monate dahingerafft sein werde, falls nicht ein Wunder geschehe, und eine hundertprozentige Sicherheit gebe es sowieso nicht, aber wir wollen und können uns jetzt nicht mit Details aufhalten, denn nur zweihundert Kilometer weiter südlich wird schon die nächste Sau durchs Dorf getrieben, und das nicht zum erstenmal, doch weil sie zuverlässig Aufmerksamkeit und damit Klicks und damit Werbeeinnahmen garantiert, zeigen wir jetzt:

DAS BILD, auf dem der ehemalige deutsche Bundespräsident gleich seine von ihm inwischen getrennt lebende Frau küsst

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und liefern dazu grad noch eine grosse Geschichte, weil: Extrem wichtig.

(Wer darüberhinaus auch noch wissen will, wie die historisch unsagbar wertvolle Aufnahme entstanden ist: Hier gehts lang zum Making-of.)

Mir geht diese vor allem von deutschen, österreichischen und britischen, aber auch von Schweizer Kollegen geschürte Endlos-Hysterie um nichts und wieder nichts mehr und mehr auf die Nerven.

Wenn selbst ich als Medienmensch zunehmend Mühe damit bekunde, in der gigantischen Masse der „Dringend!-„, „Eilt!“- und „Exklusiv!“-Meldungen die überflüssige Spreu vom lesenswerten Weizen zu trennen – wie unendlich viel schwerer muss es dann gewöhnlichen Leserinnen und Lesern fallen, Journalismus von Schrott zu unterscheiden?

Als ich noch klein war, trichterten mir meine Eltern ein, niemals im Spass um Hilfe zu rufen, wenn ich im See bade. Denn wer immer Alarm schlage, ohne wirklich in Not zu sein, dürfe nicht damit rechnen, dass ihn im Ernstfall jemand retten komme. Die Leute am Ufer würden sich sagen, auch das sei bestimmt nur ein Scherz und tatenlos sitzenbleiben.

Wenn ich so betrachte, aus welchen Nichtigkeiten manche Medienschaffende in ihrem rund um die Uhr ausgetragenen Kampf um Aufmerksamkeit ständig Notfälle basteln, kann ich mir nicht vorstellen, dass dieses Geschrei noch irgendjemand ernst nimmt.

Andrerseits: Die grossen Internet-Portale wachsen und wachsen. Laut einer Erhebung des Statistik-Portals statista.de sind die meistbesuchten Online-Seiten jene von Bild, Spiegel und Focus. So unterschiedlich deren Zielgruppen zum Teil auch sein mögen – eines haben sie gemeinsam: Schocks und Dramen spielen bei ihnen eine sehr grosse Rolle.

Wie sieht das bei Ihnen aus, liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs? Schätzen Sie den Stoff, der ihnen via Internet frei Haus geliefert wird, oder lassen Sie ihn achtlos liegen? Gehen Sie bei der Online-Lektüre gezielt vor, oder lesen Sie, was immer Ihnen vorgesetzt wird?

Ihre Meinung interessiert mich! Schreiben Sie unten in die Kommentare, wie Sie Medien online konsumieren. Und/oder, was sie ändern würden, wenn Sie der Chef oder die Chefin eines grossen, internetten Medienhauses wären.

4 Kommentare

  1. Es ist immer gut wenn man seinen Lesestoff selbst bestimmt. In den Medien kommen oft Nachrichten über ziemlich uninteressante Themen. Oft ist es auch nur Propaganda. Speziell an Russland und der Olympiade ist das gut zu erkennen. Deshalb habe ich mir ein Zeitschriften Abo gemacht. So bin ich immer auf dem laufenden mit genau den Zeitschriften die ich auch lesen möchte.

  2. Hallo, irgendeiner

    Ich weiss nicht, ob es ein Zufall ist, dass wir uns hier wieder „treffen“. Wir haben uns schon gestern Morgen „gesehen“, als Sie sich – unter demselben Pseudonym – bei meiner Arbeitgeberin in einem nicht übertrieben freundlichen Tonfall darüber beschwerten, dass sie nichts über die Ernennung des neuen Microsoft-Chefs geschrieben habe.

    Zumindest auf diese Mail erhielten Sie – von mir – umgehend eine Antwort samt einem pdf jener BZ-Seite, auf der der entsprechende Artikel zu finden war.

    Was die angebliche „Zensur“ bei Onlineportalen betrifft: Newsnetz löscht rund einen Drittel der 6000 bis 7000 Leserkommentare, die täglich eingehen. Das hat nichts mit „Zensur“ zu tun, sondern nicht selten juristische Gründe. Immerhin sind die Portale für die publizierten Inhalte ihrer Nutzer verantwortlich – und können im Falle eines Falles rechtlich haftbar gemacht werden (mehr zum Umgang von Onlineportalen mit Leserbeiträgen steht in diesem Artikel, den meine Kollegin Lucie Machac neulich in der Printausgabe der BZ und auf Newsnetz veröffentlich hat).

    Zum Schluss noch ein kleiner Tipp am Rande: Mails mit einem echten Absender wirken nur schon optisch freundlicher als anonyme Zuschriften. Wenn jemand nicht zumindest mit seinem Namen und Wohnort dazu stehen kann, was er schreibt, fragt sich mancher Empfänger verständlicherweise, ob es tatsächlich die Mühe wert sei, dem „Vermummten“ zu antworten.

  3. Ich verwende RSS-Feed für interessante Portale. Da ärgert es mich z.B. dass Bernerzeitung alle Meldungen 10x im Feed wiederholt und sich niemand auf entsprechende Mails meldet. Das weiss der tumbe Kunde dann wie viel er den Besitzern des Portals wert ist!

    NZZ lese ich nicht mehr, weil deren Herr König die Leserkommentare noch ärger zensuriert als bei Newsnet. Nur dumme wie ich meinten, der Kunde sei König 😉

  4. Mich interessieren weder News-Portale noch News an sich. Es gibt mehr als genug Interessantes on- und offline zu beobachten und zu studieren.

    Entscheidende Entwicklungen in Gesellschaft, Politik, Wissenschaft oder Wirtschaft vollziehen sich fast grundsätzlich ausserhalb des Fokus der rasenden News-Welt. Diese hat einen viel zu engen Horizont, als dass sie irgendetwas Relevantes aufnehmen und weitergeben könnte (ausser wirklichen Katastrophen, die gibt es ja auch).

    Ein Glück, wenn Menschen aus dem News-Hamsterrad aussteigen können. Das ist nicht trivial, denn dafür muss man dieses erst einmal als solches wahrnehmen. Wenn man keine Distanz zum „Informations“-gespickten Alltag gewinnen kann, dann fällt einem nicht auf, dass News ein leeres Repetitorium sind, das nur scheinbar etwas transportiert.

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