Liebe Klassenzusammenkunfts-Organisatorinnen und -Organisatoren

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Ja: Wir gingen eine Zeitlang miteinander zur Schule, und klar: wir hattens immer meist oft ab und zu wirklich sauglatt zäme, und sicher: der Erinnerungen sind viele, und natürlich: gegen einen heiteren Nachmittag auf einem Hallwilerseeschiff und einen geselligen Abend in einer Waldhütte ist nichts einzuwenden, grundsätzlich. Nur…

(Stimme eines ehemaligen Schulkameraden, der seit drei Wochen damit beschäftigt ist, die Einladung für unsere Klassenzusammenkunft zu verfassen und mit allem, was das Grafikprogramm seines PCs hergibt, zu garnieren; hörbar hässig): „…was, ’nur‘?!?“

Es ist nur so: Als wir uns zum letzten Mal sahen, steckten wir bis zu den Hüften in der Pubertät. Unter der Woche schrieben wir voneinander ab, am Samstagabend drehten wir Flaschen, und während wir in grösstmöglicher Unbeschwertheit taten, was Teenager eben tun, wurden wir von Mächten, die unendlich viel stärker waren als wir alle zusammen, fast unmerklich in Richtung eines riesigen Turms mit dunklen Mauern geschubst, von dem wir wenig mehr wussten, als dass wir in ihm den Rest unseres Lebens verbringen würden.

Wir ahnten nur, was auf den Schildern zu den Verliesen in diesem Gemäuer zu lesen sein würde: „Verantwortung!“, „Berufsleben!“, „Ernsthaftigkeit!“ oder schlicht „Erwachsensein!“, und zwar in dieser Schrift

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oder in dieser:

XXII-SCRATCHA

Irgendwann – es muss um das Jahr 1985 herum gewesen sein – war definitiv fertig Lustig. Wir waren im Turm angekommen und hatten unsere Kammern bezogen, um darin zu studieren, Zahlen zu beigen, Sätzchen zu bilden oder uns sonstwie nützlich zu machen. Ein paar wenige verschwanden, bevor die dicke, schwere Holztüre hinter ihnen mit einem krachenden „Wumm“ ins eiserne Schloss gefallen war, von der Bildfläche: Sie wanderten nach Südamerika aus oder in den Tessin oder huschten auf Nimmerwiedersehen in die Küche ihrer neuangemieteten Zweieinhalbzimmerwohnung, wo sie fortan dafür sorgten, dass der kurz nach der Abschlussprüfung zum Ehemann mutierte Kindergartenschatz jeden Tag um punkt 18 Uhr etwas Warmes in den Magen bekommt.

30 Jahre ist das nun her, und je nach Klasse sogar schon 40, und wenn ich daran denke, dass viele von uns heuer 50 Jahre alt oder jung werden, brauche ich nicht übertrieben viel Fantasie, um mir vorzustellen, was in absehbarer Zeit in meinen Briefkasten flattern wird.

Aber zumindest in meinem Fall können sich Organisatorinnen und Organisatoren von Klassenzusammenkünften und Jahrgängertreffen das Porto sparen und das Geld stattdessen in ein Apéro-Chäschüechli investieren. An derlei Meetings nehme ich, wie schon vor 10 und 20 Jahren, nicht teil.

Apero

Das soll, bitte, niemand persönlich nehmen. Ich habe nichts dagegen, mit Menschen zu reden, mit denen ich im letzten Jahrhundert einen grossen Teil meiner Zeit verbracht hatte. Ich hätte auch kein Problem damit, mit jemandem ein Kafi zu trinken, dem ich seinerzeit weiträumig aus dem Weg gegangen war, weil er mich auf dem Pausenplatz verklopft oder – noch schlimmer – mir eines unschönen Sommerabends auf dem Lunapark beim Reinacher Zentralschulhaus, direkt neben einem von Erich Murers körperkontaktförderden Highspeedkarussells, die Freundin ausgespannt hat (an dieser Stelle: Herzliche Grüsse an B.A., die inzwischen ziemlich sicher nicht mehr A. heisst, was mir allerdings, längst glücklich in meinem eigenen wunderschönen Ehehafen ruhend, so egal ist wie, sagen wir, die neue CD von Xavier Naidoo).

Aber ich habe, um es kurz zu machen (Stimme des immer noch an seiner Einladung bastelnden Ex-Kameraden; jetzt stinksauer-frustriert: „kurz?!?“), einfach keine Lust, mich stundenlang über schlüsselbundwerfende, ohrfeigende, zerstreute, überforderte oder hochnäsige Pädagogen von einst zu unterhalten. Diese Tempi sind längst passati und meiner unmassgeblichen Ansicht nach keiner Rede mehr wert.

Sehr viel mehr gibts an derlei Anlässen scheints ohnehin nicht zu besprechen, abgesehen vielleicht von gut zwei Dutzend Lebensläufen samt allen beruflichen Gipfelstürmen und privaten Abgründen, aber bis die bis ins letzte Detail geschildert und von den Umsitzenden angemessen gewürdigt sind („Was? Zwei Kinder?? Und trotzdem 60 Prozent im Laden???“), ist auch der glühendste Nostalgiker abgekühlt, die grösste Gwundernase auf Minimalmass geschrumpft und der letzte Zug nach Burgdorf abgefahren.

Nichts gegen Brücken in die Vergangenheit, nichts gegen Beziehungen zu Leuten von damals – aber bitte nicht von A wie „Ansprache des in Ehren ergrauten alt Rektors“ bis Z wie „Zämetlampefülle“ durchorganisiert und in einem Rahmen, der sich von jenem eines Schulzimmers im Grunde nur optisch unterscheidet: Alle sitzen an ihren Plätzen, niemand kann unbemerkt abhauen und jedermann und jedefrau ist froh, wenn er oder sie nicht allzu negativ auffällt. A schmachtet B an, C lästert mit D über E, F meldet sich ständig zu Wort, und G gibt den Clown. H., I., J., K., L., M., N., O., P. Q. (falls vorhanden), R., S., T., U., V., W., X. (siehe Q.), Y. und Z. zücken im Viertelstundentakt das Handy, um den Lieben zuhause mitzuteilen, es laufe alles, wie erwartet befürchtet und man sei spätestens um Mitternacht wieder da.

Wenn ich wissen will, wies es einem Ex-Gspändli geht, schreibe ich eine Mail oder sage ihm oder ihr via Facebook, Linkedin oder auf einem anderen Kanal Hallo. Dann schreiben oder sehen wir uns, plaudern chli miteinander – und gehen dann wieder unserer Wege; ohne falsche und in aller Regel tiefrosagefärbte Sentimentalität, und ohne uns einen halben Tag und eine halbe Nacht lang vormachen zu müssen, es sei immer noch alles wie früher; wie damals, als alles so lustig und unkompliziert war und wir bis zur Ankunft am Turm davon ausgehen durften, dass es kein Morgen geben und uns die ganze Welt gehören würde.

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