„Möge diese Frau alles Glück der Welt haben“

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904 Texte habe ich in diesem Blog schon verfasst. 735 mal wurden sie kritisch oder lobend kommentiert. Dazu erreichten mich im Laufe der Jahre Aberdutzende von gemailten Reaktionen in allen Schattierungen von a wie „abartig!“ bis W wie „Wältklass!“. Vor diesem Hintergrund ging ich davon aus, dass mich in Sachen „Leserpost“ nichts mehr überraschen könnte.

Aber oha: Das Echo auf den gestern veröffentlichten 905. Beitrag war nicht nur überraschend, sondern schlicht überwältigend.

Die Geschichte von der Frau, die einen Weg aus der Alkoholabhängigkeit sucht und die mich gebeten hatte, sie dabei ein bisschen zu unterstützen, schlug (und schlägt nach wie vor) alles in diesem Forum Dagewesene: Sie wurde bis jetzt über tausendmal angeklickt, und in meinem Mailfach türmt sich Zuschrift auf Zuschrift.

Aktuell liegen mir 54 Briefe von Leserinnen und Lesern vor. Sie sind allesamt unter Pseudonym verfasst, was mühelos nachvollziehbar ist: Bis auf zwei Personen lassen sämtliche Schreiberinnen und Schreiber durchblicken, dass sie das Problem meiner „Hauptdarstellerin“ entweder aus eigener Erfahrung oder von Suchterkrankungen im Verwandten- und Freundeskreis her bestens kennen.

Es würde zu weit führen, jede Mail Wort für Wort zu veröffentlichen. Manche Briefe ähneln sich inhaltlich dermassen, dass sie von ein und derselben Person verfasst zu sein scheinen. In anderen werden intimste Details geschildert – als Stichworte mögen „Gewalt in der Familie“ oder „Schwere körperliche Schäden“ genügen – die meiner Meinung nach auch dann nicht an die Öffentlichkeit gehören, wenn auf Anhieb keinerlei Rückschlüsse auf die Absender möglich sind.

Wir leben in einer kleinen Welt: Eine einzige spezielle Formulierung oder die Schilderung bestimmter Umstände können in diesen internetten Zeiten genügen, um jemanden zu outen und damit existenziell zu gefährden. Die Mails so lange umschreiben, bis sie garantiert niemandem mehr zugeordnet werden können, will ich aber auch nicht, weil dann ein Teil ihres „Charakters“ verloren gehen würde.

Was in diesen Briefen geschrieben wurde, gehört nur den Absenderinnen und Absendern – und jetzt, zumindest teilweise, auch mir. Für dieses buchstäblich blinde Vertrauen – das mich, wie ich gerne zugebe, ebenso rührt wie in Einzelfällen überfordert – danke ich allen von Herzen.

Auszüge:

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Herr A. (verheiratet, zwei Kinder): „Nichts hat mich in den vergangenen Monaten so glücklich gemacht wie die Erkenntnis, nicht der einzige Mensch weit und breit zu sein, der scheinbar chancenlos gegen den Alkohol kämpft. Was ich schon versucht habe, damit aufzuhören…und wie oft ich mir schon gesagt habe, ich gehe gleich morgen früh zum Arzt, um mit ihm über mein Problem zu reden… Jetzt weiss ich, dass meine Sucht fast etwas ‚Normales“ ist. Nur schon dieses Wissen tut mir sehr gut und hilft mir weiter.“

Herr B. (verheiratet, in Trennung lebend): „Der Alkohol hat mein Leben total kaputtgemacht. Ich habe schon mehrmals daran gedacht, Schluss zu machen, doch am Ende war ich immer zu feige dazu. Die offenen Worte dieser Frau machen mir Mut, nach vorne zu schauen. Was sie kann, kann ich auch.“

Frau C. (keine Angaben zur Person): „Danke. Dankedanke!!“

Herr D. (verheiratet, ein erwachsenes Kind): „Ich fand meinen Bierkonsum (ca. 5 Liter am Tag) lange Zeit nicht so schlimm. Langsam merke ich, dass es doch schlimm ist. Ich finde es auch immer peinlicher, wenn mein Sohn nach Hause kommt und mich mit einer Flasche in der Hand sieht..“

Frau E. (in einer zunehmend unglücklichen Beziehung lebend): „Ich hab gerade einem befreundeten Psychiater telefoniert und mit ihn einen Termin abgemacht. Hoffentlich klappts!!! Super, diese Frau!“

Frau F. (keine Angaben zur Person): „Wer eine solche Familie hat wie die Frau, von der Sie schreiben, braucht in seinem ganzen Leben keine anderen Geschenke mehr.“

Herr G. (geschieden, in einer neuen Beziehung lebend): „Nach meiner Scheidung habe ich tonnenweise Betroffenheitsliteratur gelesen. Keines dieser (teuren!!) Bücher hat mir geholfen. Sie waren entweder zu theoretisch oder zu esotherisch. Die bodenständige Schilderung dieser Frau ist etwas anderes. Richten Sie ihr bitte aus, sie soll so weitermachen. Das kommt sicher gut mit ihr. Ich hoffe es jedenfalls schwer für sie und ihre Familie!“

Frau H. („schon alt“): „Möge diese Frau alles Glück dieser Welt haben, um aus dieser Sache herauszukommen.“

Frau I. (keine Angaben zur Person): „Ich kann nicht verstehen, wieso die Frau nicht zu den Anonymen Alkoholikern gehen will. Wie der Name schon sagt, sind dort ja alle anonym, da kann ihr nichts passieren. Auf die andere Art sehe ich natürlich auch, dass so etwas auf dem Land schwieriger ist als in der Stadt. Wies aussieht, macht sies aber auch so sehr gut. Ich drücke ihr die Daumen, damit es so weitergeht.“

Herr K. (geschieden): „Ich sage nur: Chapeau!“

Herr L. (geschieden): „Anfang August gehe ich in eine Alkoholklinik. Das ist mein dritter Versuch. Beim ersten Mal bin ich einfach davongelaufen, beim zweiten Mal hatte ich schon beim Austritt ein schlechtes Gefühl. Wenn es jetzt nicht funktioniert, weiss ich auch nicht mehr. Scheiss Alk!“

Frau M. (kürzlich arbeitslos geworden): „Wäre, hätte, müsste und könnte – ich weiss, wie das mit den Ausreden ist. Man findet tatsächlich immer ‚etwas’, um den Schlussstrich nicht ausgerechnet heute ziehen zu müssen. Noch schlimmer sind nur die ewigen Lügereien. Man verbringt sein Leben damit, sich und anderen etwas vorzumachen. Wie anstrengend das ist, merkt man erst, wenn mans nicht mehr tun muss.“

Frau K. (verheiratetet, drei Kinder): „Ich möchte dieser Frau soviel sagen und weiss doch nicht genau, was. Beim Lesen ihrer Zeilen fühlte ich mich, wie wenn ich meine eigene Geschichte vor mir sehen würde. Dieses Verdrängen ‚Vernütigen’ und ‚Verstecken’ kommt mir so bekannt vor. Dabei hilft das doch alles nichts, und am wenigsten einem selber. Man muss sich der Realität stellen, genau wie die Frau. Ich finde das bewundernswert.“

Herr L. (keine Angaben zur Person): „Konfuzius sagt, ‚auch der weiteste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.'“

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