Irrwisch you were here

An einem Novembernachmittag des Jahres 1981 sassen Dieter und ich, wie fast jeden Mittwoch und Samstag, auf seinem Bett und tranken Bacardi Cola und pafften; Gras er, Camel ich.

Vor Kurzem waren wir beide 16 Jahre jung geworden und unserem Ziel, erwachsen zu werden, um endlich nach Jamaica auswandern zu können, einen weiteren Schritt nähergekommen.

Bei unseren Treffen schlurfte Dieter immer wieder ins Zimmer seines älteren Bruders. Minuten später kam er mit einem quadratischen Karton in der Hand zurück. Süüferli zupfte er eine Vinylscheibe aus dem Umschlag.

Sobald die Platte sich auf dem Teller zu drehen begann, murmelte er, „das muesch jetz lose“, worauf wir in andächtiges Schweigen versanken und losten.

Eric Clapton, Bob Marley, Bob Seger, Fleetwood Mac, Janis Joplin, Joan Armatrading, J.J. Cale, Jackson Browne, Jethro Tull…in jenen Stunden lernten wir eine endlose Reihe von Musikerinnen und Musikern kennen. Viele von ihnen prägen mein Leben mit.

Im November 1981 zeigte mir Dada, wie Dieter im Kollegenkreis hiess, eine Plattenhülle, die mich mehr faszinierte als alle anderen Cover, die er mir schon präsentiert hatte.

Nebelschwaden wabern über ein silbern funkelndes Flüsschen und durch die Äste von laublosen Bäumen, die sich wie Scherenschnitte vom blauen Hintergrund abheben. Krähen – oder Geister – sind keine zu sehen, doch ich bin mir sicher, dass welche da sind. Auf eine seltsame Art wirkt die mystische Szenerie ebenso einladend wie gfürchig.

Diese Platte, dozierte Dada, sei nigelnagelneu. Die Band, die sie aufgenommen habe, heisse Irrwisch und stamme aus dem Kanton Solothurn, aber das mache nichts: schliesslich komme es nur auf die Musik an, und die sei wunderschön.

Wie sich gleich zeigen sollte, war sie viel mehr als das. Dieses Album liess uns bis weit in die Nacht hinein durch Klangwelten schweben, in die uns bis dahin nur Pink Floyd entführt hatten, wenn auch auf ungleich stotzigeren und bisweilen kaum begehbaren Pfaden.

„In Search of“ zu hören war (und ist), wie auf watteweichen Keyboardteppichen durch einen endlos weiten Raum zu gehen, von dessen Wänden kristallklare Gitarrenklänge und makellose Stimmen widerhallen.

Doch der traumhaften Erfahrung folgte ein böses Erwachen: Ein paar Monate danach verlor ich Dieter aus den Augen. Seine Eltern brachten ihn nach „unserem“ Rolling Stones-Konzert in Basel an einen Ort, an dem er lernen sollte, ohne all das Zeug zu leben, das sein Bewusstsein im Laufe unserer Teenagerzeit mehr getrübt haben musste, als wir ahnen konnten (oder wollten).

Wo er gewesen war und wohin ihn sein Weg anschliessend geführt hatte, konnte er mir erst 32 Jahre danach erzählen: Im Sommer 2014 sahen wir uns im Tessin wieder.

Damals dachte ich, ein glücklicher Zufall hätte uns zusammengeführt. Inzwischen glaube ich, dass er mich gesucht hatte, weil er noch einmal mit mir reden wollte.

So oder so hat es dort, wo er jetzt ist, hoffentlich ein grosses Bett, auf dem wir in einer unabsehbar fernen Zukunft zäme musikhören und die Welt in Ordnung diskutieren können.

Irrwisch hingegen…Irrwisch sind nach wie vor da. Nach ihrem ersten Album veröffentlichten sie elf Studio-LPs/CDs („Living in a fools paradise“ und „Far away“ gehören für mich zum Eindrücklichsten, was Schweizer Musiker je hervorgebracht haben), das für Dauerhühnerhaut sorgende Konzeptalbum „Stone and a Rose“ plus zwei Singles. Die Aufnahme ihres „Christmas Concert“ liegt in meinem Notfallköfferchen für die einsame Insel.

Den bisher letzten Song schuf die Band um Chris und Steff Bürgi während des Lockdowns 2020. In „Normal Life“ fasste sie die Stimmungslage der Nation zusammen:

„Didn’t imagine – how quickly it all can change.
Physical distance – stay at home they say.
Many people are lonely – see there’s no escape.
System is broken – and life’s no more the same.

Every hope we receive is like a sign.
And millions are dreaming in these times
of a normal life – a normal life.
Back to normal life – a normal life – a precious lifeLooking for answers – that really help to explain.
A magical wonder – that takes away the pain.

It’s a matter of time and patience – never lose your faith.
Future’s uncertain – what may come our way.
Every hope we receive in misery
is like a balm for our souls to get free.
Every day every night – we just dream.“

Seit 45 Jahren verzaubert die Truppe aus Kestenholz die Menschen mit ihrem sinfonischen Sphärenpop. Live habe ich sie nur einmal erlebt: 1988 spielten sie vor Marillion im Zürcher Hallenstadion. Ich war bei Weitem nicht der einzige Konzertbesucher, dem es ganz recht gewesen wäre, wenn sie sehr viel länger auf der Bühne hätten bleiben dürfen.

Aber was nicht war, wird demnächst werden. Wenn Irrwisch im Old Capitol in Langenthal am nächsten Samstag auf ihre lange, lange Karriere zurückblicken, scheucht sie niemand nach einer halben Stunde in die Garderobe. Ich freue mich wie ein kleines Kind auf ihr Konzert.

Neben mir steht dann mein Brüetsch, und weit über uns höckelt, hinter einer dichten Rauchwolke nur schemenhaft erkennbar, ganz bestimmt Dada.

Falls jemand bei ihm sitzt, flüstert er ihm irgendwann zu: „Gleich spielen sie ‚First Time‘. Das muesch jetz lose.“

Nachtrag: „First Time“ spielten sie nicht, weil sie ohne Sängerin auftraten. Es war trotzdem ein wunderschöner Abend – für das Publikum und die Band. Die meisten der Anwesenden durften seit Monaten – nein: fast schon Jahren – kein Konzert mehr geniessen. Und feierten nun, in diesem ehemaligen Kino mit seinem unbeschreiblichen Charme, „de perfekt Wederistieg es echli normalere Läbe“, wie mein Brüetsch sagte.

Happig happy

Per Whatsapp, SMS, Mail und via Facebook trudelten im Laufe meines Geburtstages zig Gratulationen bei mir ein. Bei deren Lektüre stellte ich fest, dass Australien und die Schweiz gar nicht so weit auseinanderliegen, wie man das bei einem Blick auf den Globus vermuten könnte.

Zumindest, wenns ums Beglückwünschen geht, sprechen die Menschen Down Under

dieselbe Sprache wie die Leute Up Above:

Alles andere las ich mit Google Translate…

…liess ich mir von Eingeborenen übersetzen…

…oder leitete ich hilfesuchend an die Erbengemeinschaft Jeremias Gotthelf weiter.

Die Botschaft von meinem Brüetsch verstand ich auf Anhieb. Ich stelle sie dem Museum of Modern Art in New York als Leihgabe zur Verfügung:

Würze für das Immergleiche

Es war, wie bei einem Spaziergang von einem Platzregen überrascht zu werden: Am Montag, dem 20. September, orientierte das Newsportal Argovia Today seine Leserschaft darüber, dass das Bundesamt für Landwirtschaft meinen Rosmarinstrauch beschlagnahmt habe.

Diese Geschichte hatte ich Ende August als Schwank aus meinem Leben in diesem Blog veröffentlicht und inzwischen beinahe vergessen.

Weil sie dem Kanal Klicks am Laufmeter bescherte,

zogen Radio Argovia, die Berner Zeitung, der „Blick“, der Tages Anzeiger, 20minuten und Radio Energy zum Teil im Stundentakt nach (zur Zusammenfassung gehts hier entlang).

Für mich war das eine ganz neue Erfahrung: Seit bald 40 Jahren verdiene ich meinen Lebensunterhalt damit, über Menschen zu schreiben. Nun wurde ich auf einmal selber zum Thema.

Wenn mich jemand fragen würde, ob ich das genossen habe, würde ich sagen, nein. Gestört hat es mich allerdings auch nicht. Irritierend war es auf jeden Fall. Ständig poppten auf dem Bildschirm meines Handys Nachrichten von Leuten auf, die mich darauf hinwiesen, mich und meinen Rosmarin soeben „gesehen“ zu haben:

Auf den routinemässigen Schlummertrunk in der Burgdorfer Oberstadt verzichtete ich gestern trotzdem – oder gerade deshalb. Die Vorstellung, einen ganzen Feierabend lang über Rosmarin, amtliche Verfügungen und das Schwarmverhalten von Medienschaffenden zu reden, erschien mir als nur mässig prickelnd.

Eitel Freude herrschte in den Redaktionen. Etliche Journalistinnen und Journalisten teilten mir mit, dass die Story auf grossen Anklang gestossen sei

„Was ist nur los? Was ist passiert“?: Das fragt sich nicht nur Herbert Grönemeyer in seinem Hit „Alkohol“. Das ging auch mir durch den Kopf, als ich dabei zuschaute, wie sich Medienschaffende aus der ganzen Deutschschweiz über den (zwar längst vernichteten) Strauch auf meinem Balkon hermachten.

Vermutlich war ein behördlich beschlagnahmter Rosmarin in ihren Augen die perfekte Würze für einen Brei, den sie seit Monaten und Jahren primär aus Corona, Klima und Kriegen anrühren (müssen) und der sowohl für sie als auch für ihre Kundinnen und Kunden immer schwerer verdaulich ist.

Eine Freundin schrieb mir dazu:

Eine andere – sie ist ebenfalls Journalistin – meinte:

Rosmarin hingegen: kennen alle, brauchen alle und mögen (fast) alle. Anders als ein Virus oder CO2 kann man ihn sehen, berühren und riechen.

Wer über das Kraut schreibt, braucht dafür keine Wissenschaftler und Politexponenten und Interessenvertreter (die Frauen sind selbstverständlich mitgemeint) nach ihrer Meinung zu befragen, keine Zahlen miteinander zu vergleichen und nichts einzuordnen.

Er oder sie kann einfach loslegen – und das erst noch, ohne zu riskieren, damit eine Debatte loszutreten, die nach den ersten zwei Kommentaren in einen Glaubenskrieg ausartet, in dem es weniger um den Austausch von Argumenten und Ansichten geht, sondern vor allem darum, Andersdenkende möglichst schnell in der Neonazi- oder Gutmenschenecke festzunageln.

Entsprechend sachlich – und bisweilen auch humorvoll – wurde online über den Fall diskutiert:

Erleichternd kam für die Journalistinnen und Journalisten sicher hinzu, dass sämtliche Zutaten, die sie für ihre Beiträge benötigten, fixfertig vor ihnen lagen. Dass die meisten Reporterinnen und Reporter trotzdem zum Telefon griffen, um die eine oder andere Zusatzinformation zu erhalten, hat mich in einer Zeit, in der „Googlen“ mehr und mehr zum Synonym für „Recherchieren“ wird, positiv überrascht.

Aus eigener Erfahrung weiss ich, wie schwierig – nein: mühsam – es für auf Aktualität getrimmte Nachrichtenleute ist, ihrem Publikum eine von anderen zubereitete Geschichte so schmackhaft zu servieren, als ob es ihre eigene wäre.

Am besten aus dieser Affäre hat sich in diesem Fall das Radio Argovia gezogen. Das schreibe ich nicht, weil mein Brüetsch dort arbeitet. Sondern, weil dessen Kollege Oliver Wagner dem Rosmarinstock auf dem Balkon in der Amietstrasse 28 in Burgdorf zwei Minuten lang genau jene Mischung aus Ernsthaftigkeit und Ironie zuteilwerden liess, die ihm als C-Prominenter zustand.

De Rosmarin u i

20. September 2021: Die Geschichte über die Biobombe auf meinem Balkon erfährt unerwartete Fortsetzungen: Das Onlineportal Argovia Today nimmt sich des Falles an. Die Story setzt sich sofort an die Spitze der Klick-Hitparade und gibt diese Platzierung bis am Abend nicht mehr ab.

Fast gleichzeitig bittet mich die Redaktion des Radios Argovia um ein Interview. Oliver Wagner macht daraus einen ebenso unterhaltsamen wie informativen Beitrag.

21. September 2021: Anruf vom „Blick“. Sie habe via Argovia Today von der Rosmarinsache erfahren. Nun möchte sie bei mir vorbeikommen, um ebenfalls darüber zu berichten, sagt die Praktikantin.

Während ich mir ihr rede, frage ich mich, ob die Medienwelt nun endgültig übergeschnappt sei. Was für mich ein simpler Schwank aus dem Leben war, ist für einige von deren Bewohnerinnen und Bewohnern offenkundig der Stoff, aus dem die Nachrichten und Klicks sind.

Einerseits werden die Redaktionen von ihren Verlagen nadisna zu Tode geschrumpft. Andererseits reist wegen eines (längst entsorgten) Gewürzstrauchs eine Journalistin von Zürich nach Burgdorf. Wie passt das zusammen?

Die Praktikantin sagt, Rosmarin würden sehr viele Leute zum Kochen verwenden. Deshalb gehe sie davon aus, dass ein potenziell vergifteter Rosmarin von öffentlichen Interesse sei.

Ich antworte ihr, von meiner Pflanze sei nie eine Gefahr für Menschen ausgegangen – was auch in meinem Blogbeitrag stehe -, worauf sie antwortet, das wisse sie. Das mit dem „öffentlichen Interesse“ wäre damit eigentlich vom Tisch, aber eben: nur eigentlich.

Weil ich tief im letzten Jahrtausend selber angehender Journalist war, ahne ich, dass die Frau unter einem gewissen Lieferdruck steht. Also willige ich ein.

Um kurz vor 16 Uhr steht die „Blick“-Reporterin vor meiner Wohnung. Auf der Fahrt nach Burgdorf hatte sie einen Topf Rosmarin gekauft, um die Geschichte illustrieren zu können. Nach dem Gespräch und der Fotosession schleppt sie ihn wieder die Treppe hinunter und zum Auto.

Die Wartezeit bis zu ihrem Eintreffen wird mir durch eine Mitarbeiterin der Berner Zeitung verkürzt. Sie erkundigt sich telefonisch nach der Aktion „Kraut“ und veröffentlicht den Online-Artikel noch am selben Abend. Der Tagesanzeiger, der wie die BZ zur TX Group gehört, stellt ihn ebenfalls ins Netz. Die Leserinnen und Leser wissen den Effort zu schätzen:


Der Text wird eifrig kommentiert. Die Reaktionen auf den Eingriff der Pflanzenschutzbehörde fallen mehrheitlich positiv aus.

Der „Blick“ publiziert an diesem Tag nichts zum Thema. Und gerät gegenüber der Konkurrenz weiter ins Hintertreffen.

22. September 2021, frühmorgens: Die BZ veröffentlicht die Story auch in ihrer Printausgabe:

22. September 2021, 13.50 Uhr: Et voilà.

Aus mir unerfindlichen Gründen bekam auch 20minuten Wind von der Sache. Radio Energy verlegte vor lauter Aufregung meinen Wohnort:


Mir wärs ziemlich sehr recht, wenn der Fall nun erledigt wäre. Irgendwie habe ich das Gefühl, mich in den letzten drei Tagen mit nichts anderem als diesem *#@=>$$ :-()! Rosmarinstock beschäftigt zu haben, und dass inzwischen nicht nur meine Saucen nach dem Kraut duften, sondern auch meine Wohnung und die Kleider.

Was, frage ich mich, wäre in der Medienlandschaft wohl los, wenn einmal ein Bakterium oder so in Umlauf geriete, das auch Menschen bedroht?

Nachtrag 22. September 2021, 18.56 Uhr: Eine mir fremde Frau aus Burgdorf ruft an. Sie ist hörbar nicht mehr die allerjüngste. In der Zeitung habe sie gelesen, dass mir mein Rosmarin abhandengekommen sei. Das tue ihr „unendlich leid“. In ihrem Garten habe sie „einen riesigen Stock“. An diesem könne ich mich jederzeit bedienen, bis ich einen neuen Rosmarin erhalte. Sie selber, sagt sie, verwende dieses Kraut „immer“; auch und ganz besonders für Bolognese-Sauce. Auf die Leute, die „im Internet“ in den letzten Tagen geschrieben hätten, Rosmarin gehöre nicht in eine echte Bolo, soll ich einfach nicht hören: „Die haben ja keine Ahnung, wie fein das ist“.

Nachtrag 23. September 2021, frühmorgens: