Späte Notwehr

Normalerweise sind die Rollen vor Gericht klar verteilt: Es gibt einen Täter und ein Opfer. Die Frage ist, wieso der Täter was tat. Und wie er dafür nun zu bestrafen ist.

In dem Fall, den das Kreisgericht Burgdorf-Fraubrunnen seit gestern verhandelt, ist das anders. Der Angeklagte scheint auch – oder: vor allem – Opfer zu sein:

„57 Jahre lang erduldete er die Demütigungen seines Vaters. 57 Jahre lang wehrte er sich nicht gegen die Prügel seines Erzeugers. Selbst im Wohn- und Pflegeheim behielt der Alte die Kontrolle über den inzwischen erwachsenen Sohn, der sich in der elterlichen Wohnung nach dem Auszug des Seniors um die kranke Mutter kümmerte. Auch sie wurde von ihrem Gatten regelmässig verdroschen.

Obwohl es den Junior zutiefst anwiderte, besuchte er den Vater zweimal pro Jahr in dessen neuem Zuhause. Bei diesen Gelegenheiten hätten sie sich nur angeschwiegen; nach fünf bis zehn Minuten sei er wieder gegangen.

Er habe trotz allem versucht, «irgendeinen Draht zu ihm zu finden», sagt der Sohn vor dem Kreisgericht Burgdorf-Fraubrunnen. Gelungen sei ihm das nie.

Schikanen ohne Ende

Ob sich der Vater über die Visiten gefreut habe, wisse er nicht. Was er sagen könne, sei, dass der Senior zeitlebens sämtliche Menschen in seinem Umfeld herumkommandiert und schikaniert habe. Die Ausnahme sei die Tochter gewesen: «Sie hatte alle Rechte, ich alle Pflichten», sagt der 60-jährige Angeklagte, der wegen eines chronischen Rückenleidens Frau und Arbeit verloren hat.

Als er von Gerichtspräsident Peter Urech gefragt wird, ob er nie versucht habe, sich gegen den übermächtigen Senior aufzulehnen, sagt der Sohn: «Mein Vater war ein Arschloch. Aber er war mein Vater.»

Zu spät gratuliert

Am 20.Juli 2008 sahen sich die Blutsverwandten zum letzten Mal. Der Sohn wollte dem Vater zum Geburtstag gratulieren, worauf ihn der Jubilar tadelnd darauf hinwies, dass der Feiertag schon einen Monat zurückliege. Der Sohn entschuldigte sich: Er sei damals aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen, das Bett zu verlassen.

Der Vater zog sich in sein Zimmer zurück. Als er sich umdrehte, um noch etwas zu sagen, barst der Selbstbeherrschungswall des Sohnes wie die spröde gewordene Mauer eines voll gelaufenen Stausees: Der Junior verpasste dem Senior zwei Ohrfeigen und einen Faustschlag ans Kinn.

In den Schlägen steckte die Wucht von jahrzehntelang aufgestautem Frust und unterdrückter Wut. Mit einer Riss-Quetsch-Wunde hinter einem Ohr, einer Lippenverletzung, einem abgebrochenen Zahn, einer Hirnerschütterung und Hirnblutungen ging der stämmige Rentner zu Boden. Ohne sich um den Verletzten zu kümmern, rannte der Sohn davon. Wochen später verstarb das Opfer an den indirekten Folgen der Abreibung.

«Eigentlich» sagt ein Mitglied des Kreisgerichts zum Angeklagten, «ist es erstaunlich, dass Sie 57 Jahre alt werden mussten, bevor Sie Ihren Vater zum ersten Mal schlugen.» Solche Bemerkungen fallen an Schweizer Gerichten sehr selten.

Kaum Angst vor dem Urteil

Weil er wegen seines kaputten Rückens nicht lange sitzen kann, darf der Angeklagte den Saal vor dem Ende des ersten Verhandlungstages verlassen. Beim Hinausgehen wirkt der herz- und magenkranke Diabetiker, der pro Tag ein Dutzend Medikamente schlucken muss, nicht wie jemand, der angsterfüllt auf sein Verdikt wartet. Sondern wie ein Mensch, der nichts mehr zu verlieren und nichts mehr zu gewinnen hat.

«Mein Leben ist vorbei», hatte er kurz zuvor gesagt.“

(Quelle: Berner Zeitung)

Heute spricht das Gericht sein Urteil. Ich bin froh, den Fall als Journalist verfolgen zu können und nicht als Jurist bewerten zu müssen. Ich möchte nicht über das Schicksal eines Menschen entscheiden, der schon vor 60 Jahren zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt worden ist.

Wenn ichs doch tun müsste, würde ich den Notwehrparagrafen biegen, bis ich den Angeklagten freisprechen könnte.

Aber ich weiss: Recht haben und Recht bekommen ist nicht immer dasselbe.

Nachtrag: Das Urteil ist gesprochen.

„Für Schläge, die indirekt zum Tod seines Vaters führten, kassierte ein Schweizer eine bedingte Freiheitsstrafe von 18 Monaten.

Ein Mann, der auch als 50-Jähriger noch von seinem Vater verprügelt wurde: Mit einem solchen Angeklagten hatte sich das Kreisgericht Burgdorf-Fraubrunnen noch nie beschäftigt.

«Dieser Fall liegt ausserhalb von allem, was wir bisher hier hatten», sagte Gerichtspräsident Peter Urech bei der gestrigen Urteilsverkündung.

Drei Schläge mit Folgen

Eine bedingte Freiheitsstrafe von 18 Monaten erachtete das Gericht als angemessene Strafe dafür, dass der heute Beschuldigte seinen Erzeuger in einem Wohn- und Pflegeheim vor zwei Jahren mit drei Schlägen an den Kopf niedergestreckt hatte.

Nach Ansicht der Gerichtsmediziner waren die dabei entstandenen Verletzungen indirekt verantwortlich dafür, dass der Pensionär Wochen später verstarb.

Verhandlung wirkte surreal

Mit seiner «sehr tragischen» Geschichte» sei der Angeklagte «eigentlich schon genug bestraft», sagte Urech mit Blick auf die Tatsache, dass der Vater seinen Sohn jahrzehntelang verprügelt hatte. Und angesichts des Umstandes, dass der Sohn wegen schwerer Gesundheitsprobleme nicht nur seine Ehefrau und den Job, sondern auch das soziale Umfeld verloren hatte.

Das Gericht vermute, «nur die Spitze des Eisbergs» gesehen zu haben, sagte Urech zum Angeklagten, der seinen Vater in der Verhandlung als «Arschloch» bezeichnet hatte. «Aber deswegen können wir Sie nicht freisprechen.»

Dass sich der Beschuldigte bei seinem «Ausraster» nicht nur der schweren Körperverletzung, sondern auch der unterlassenen Nothilfe schuldig gemacht habe, sei erwiesen; nachdem der Rentner zu Boden gegangen war, sei der Sohn nur kurz zu ihm niedergekniet und dann geflüchtet.

Für Aussenstehende hatte die Verhandlung etwas Surreales: Da lehnt sich ein Mensch zum ersten Mal gegen seinen Peiniger auf – und wird dafür prompt bestraft. Der Mann aber, der diesen Menschen zeitlebens misshandelt hatte, musste sich nie für seine Taten verantworten.

(Quelle: Berner Zeitung)

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