Sturmfrei

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Seit heute Morgen um 7.34 Uhr (ich fand es irgendwie wichtig, mir die Zeit zu merken, obwohls eigentlich nur eine sehr periphere Rolle spielt, seit wann genau; es hätte auch 8.10 oder 6.02 oder 9.11 Uhr sein können); seit heute Morgen um 7.34 Uhr also bin ich Strohwitwer.

Mein Schatz ist in die Toskana gefahren, um mit drei Freundinnen ein paar Freitage chli Quality Time zu geniessen, was ich ihr von Herzen gönnen mag.

Was die Frauen da unten vorhaben? Keine Ahnung. Ich gehe davon aus, dass sie viel reden und lachen und sich zwischendurch ein bisschen die Landschaft angucken und das kulturelle Angebot checken und alles, es ist mir eigentlich völlig egal, solange nicht irgendein zottelhaarig-blauäugiger-überallebackenstrahlender Luigi dahergeschlendert kommt und den Bellas aus Svizzera ganz unverbindlich einen Töpferkurs anbietet und…

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Aber so Sachen passieren ja nur in Filmen (stimmt doch, oder?!? Das gibts wirklich nur in frei erfundenen Gechichten von lausigen Autoren, aber un-mög-lich im richtigen Leben???!!!???).

Jedenfalls: Wer auf einmal von Gott und der Welt und der Frau verlassen zuhause sitzt, muss zuallererst dafür sorgen, dass er das emotionale Erdbeben, mit dem ein solcher Verlust einhergeht, halbwegs übersteht. Sobald die ersten Erschütterungen abgeklungen sind, wischt er sich den Staub von den Schultern und, dreht, nach vorne gebeugt und mit den Händen im Kreuz, eine Runde durch die leere Wohnung, um mit Mozarts Requiem in den Ohren all die Dinge zu betrachten, die sie dagelassen hat und die ihn jetzt alle angrinsen und höhnisch zischen: „Schon noch blöd, so ohne sie, hä?“

„Nichts ist mehr wie früher, und dabei ist früher noch gar nicht soooo lange her“, sinniert er, um 10.10 Uhr immer noch zielllos umherwandelnd, und reisst verzweifelt ein Fenster auf, um die Wohnung und sein von düsteren Gedanken umflortes Gehirn auszulüften.

Doch kaum hat er die Nase nach draussen gestreckt, merkt er: Die Vögel singen auf einmal in Moll, worauf er im Meer des Selbstmitleids spontan noch ein paar Meter tiefer taucht; dorthin, wo die Depressionen mit gefletschten Stricknadelzähnen auf frisches Futter warten und wos finster ist wie in einer Kuh und kalt wie im strübsten Winter Frühling 2013 und trostlos und öde und wä.

„Wä: Da war doch mal was, mit diesem Wä“, schiesst es ihm durch seinen frostbeulengespickten Kopf.

Genau: „Wä“ war, als er vor Jahrzehnten einmal ein paar Kollegen zu sich nach Hause einlud, weil die Eltern an einem Konzert waren, und einer seiner Gäste alsbald über der WC-Schüssel kniete, um einen Teil von Vaters Likörbeständen der Kanalisation von Beinwil am See zuzuführen.

Er hatte damals, was heute vermutlich „eine der Obhut der Fürsorgepflichtigen temporär entzogene Komfortzone“ oder so genannt wird: Eine sturmfreie Bude. Und die hat er – tataa – auch ab heute, 7.34 Uhr, wieder, bis am nächsten Donnerstag; macht alles in allem sechs Tage und fünf Nächte.

Das, findet er, so freudig neuen Lebensmut schöpfend wie ein Heilsarmist heisse Suppe im Advent, eröffnet gewisse Perspektiven, die weit über das Blasen von Trübsal hinausreichen.

Ab sofort kann er

– mit seiner Playstation bis tief in die Nacht Autorennen fahren,

– in Konzertlautstärke CDs hören,

– fettiges Fertigzeug futtern,

– aller Gattig Leute einladen oder

– im Stehen bisle.

pinkeln_im_stehen
(Symbolbild!)

Doch kaum hat er begonnen, sich auszumalen, was er ohne sie alles tun und lassen könnte, merkt er: Das alles könnte er auch mit ihr tun und lassen: Sie würde ihn weder daran hindern, stundenlang Autorennen zu fahren noch daran, laut Musik zu hören. Sie liesse ihn fettiges Fertigzeug futtern, bis er selber fände, das sei gruusig und überhaupt werde er immer dicker werde er im Vergleich zu seinem Gewicht immer kleiner, und einladen, wen immer er mag. Sie hätte nicht einmal etwas dagegen, wenn er im Stehen bislen würde (jedenfalls, solange sie es nicht sieht und hört und er genau trifft).

Oder anders gesagt: Sturmfrei ist diese Bude sowieso immer und unabhängig davon, ob sie hier ist oder in der Toskana oder sonstwo.

Über diese Erkenntnis muss er jetzt erst einmal nachdenken. Während er so herumstudiert, verklingt Mozarts Requiem wie von alleine im Nichts.

Und als es in der Wohnung ganz still geworden ist, fällt ihm auf: Die Vögel zwitschern wieder in Dur.

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