Saures und Süsses

„Aunty, aunty! Sweeets!“ –  Geht es um Süsses, so verleihen indische Kinder in Trauben ihrer Forderung – getarnt als Bitte, mit breitem Lachen vorgebracht – lautstark Nachdruck. Darin spiegelt sich die Intensität dieser bunten Welt: eine Basis von konstanter Reizüberflutung, der unsere Delegation in diesen Tagen im südindischen Bundesstaat Andhra Pradesh ausgesetzt ist. Dieser Ort scheint unablässig zu brummen, tagsüber auf den Strassen, auf denen der Verkehr sich nicht vorhandenen Regeln folgend seinen Weg bahnt.

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Funktioniert die Hupe, ist das Fahrzeug fahrtüchtig. Und die meisten Fahrer scheinen sich andauernd davon überzeugen zu wollen, dass sie noch intakt ist. Selbst nachts kennt Indien keine Ruhe, wenn in der Ferne die Güterzüge unterwegs sind. Wenn Vögel zetern, die man tagsüber nicht zu Gesicht bekommt. Wenn sich die Wasserpumpe hinter dem Haus anhört wie ein überholter Dieselgenerator.

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Die Vögel und die Pumpe sind ansonsten Teil einer Oase: Bethany Karunalaya, ein Waisenheim am Rande von Hyderabad, einer Stadt, die mit ihrer Agglomeration so viele Einwohner zählt, wie die ganze Schweiz Einwohner hat. Hier leben fast 60 Kinder mit hinduistischem und muslimischem Hintergrund. Längst nicht alle von ihnen haben beide Elternteile verloren, viele von ihnen sind durch die Lebensumstände hier zu sozialen Waisen geworden: Mausarme Familien und Krankheiten wie HIV prägen ihre Herkunft, sodass sich niemand mehr um sie kümmern konnte. «In Karunalaya», sagt Pater Joseph, «sind alle willkommen – egal, woher sie kommen und woran sie glauben.»

Vater nennen sie ihn, der im Namen der katholischen Mission Order of the Imitation of Christ (OIC) dieses Zuhause führt. Vor sieben Jahren hat er das Land gekauft und die ersten Steine für eine Zufluchtsstätte gelegt: 50 Quadratmeter insgesamt, die Waisenkindern, körperlich und geistig Behinderten, alten und sterbenden Menschen ein Obdach bieten. Mehrere Organisationen aus dem Westen wurden auf Karunalaya aufmerksam, darunter die Zuger Stiftung «Licht für vergessene Kinder». Sie schiesst Geld ein, das dafür verwendet wird, ein neues Haupthaus zu bauen. Dazu kommt ein monatlicher Beitrag, der einen Teil der Nahrungsmittel finanziert.

Karunalaya_2010 011Mit den verbesserten Lebensumständen nimmt Joseph auch nach und nach mehr Bedürftige unter seine Fittiche: Innert weniger Jahre ist die Zahl der Bewohner von 20 auf 80 gestiegen, dazu kommen 11 Bedienstete, die in der Küche, den Schulräumen und den Stallungen nach dem Rechten sehen. «Immer wieder kommen Eltern vorbei, die ihre Kinder abgeben möchten», sagt Joseph. Karunalaya eilt in einer armen Gegend der Ruf voraus, gut abgesichert zu sein. Mit knapp 3500 Franken monatlich bestreitet Joseph heute, was an Kosten anfällt: Essen, Kleidung, Schultaxen, Medikamente, Krankenhausaufenthalte, Löhne, Futter, Benzin und mehr, rechnet er vor. Bei einem nahezu 100-Personen-Betrieb eine kleine Summe.

Karunalaya_2010 029Dieser privilegierte Ort ist denn auch nicht unumstritten. Gute Beziehungen zum Westen wecken Begehrlichkeiten rundum. Im religiösen Schmelztiegel Hyderabad – muslimische Dominanz vor hinduistischer Tradition – spielt auch die Religionszugehörigkeit eine grosse Rolle. Nicht alle sehen es hier gerne, wenn Kinder mit Bibelzitaten, Rosenkranz und Messen aufwachsen und ihnen eine umfassende christliche Erziehung zuteil wird. Nicht wenige von ihnen werden selbst den Weg der Kirche wählen und sich dereinst in den Dienst von anderen stellen. Der katholische Priester selbst ist so einem dauernden Balanceakt ausgesetzt. Im Norden, erzählt man sich, wurden Pater seines Ordens umgebracht.
Karunalaya_2010 153Zudem stellt auch die indische Gesellschaft klare Ansprüche an das Zusammenleben. Das Kinderheim sei daher auch ein eigentliches Mädchenheim, denn gemischte Heime würden nicht toleriert, sagt Joseph. Die wenigen Jungen, die in Karunalaya leben, sind noch sehr klein und müssen früher oder später an andere Orte gebracht werden. Das Kastensystem – es existiert auf dem Papier nicht mehr, wohl aber in den Köpfen – schränkt die Perspektiven der Heimkinder stark ein. Den heiratsfähigen Mädchen eine Mitgift zu entrichten, sei ihm nicht möglich, sagt Joseph. Die Bildung ist ihr Kapital, darin investiert er Geduld, Geld und Zeit.

Ob als Vater seiner Kinder, als geistiger und tatsächlicher Leiter eines KMU: Nachts schläft Joseph wenig, meist nur stundenweise. Die Verantwortung lastet schwer auf ihm. Mit vereinten Kräften wurde über die Jahre in Projekte investiert, die entscheidend zur Existenzsicherung beitragen. In zwei Milchkühe etwa, um die Ernährung der Kinder zu verbessern. In hundert Küken, die grossgezogen werden. In eine Mangobaumplantage, um dem kargen roten Boden rundum wenigstens etwas abzugewinnen. Ein Auto kam dazu. Dann eine Pilzzucht. Ein Nähatelier. Eine Druckerei. Letztere beiden stecken noch in Kinderschuhen, hier fehlen die Mittel. Karunalaya_2010 258

Das Ziel aber steht fest: Karunalaya soll so unabhängig wie nur möglich werden, gegen aussen wie gegen innen.
Zum Abschied stehen die Kinder leise Spalier. Süssigkeiten sind nicht mehr der Rede wert. Stattdessen fliessen Tränen. Auf beiden Seiten.

 

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