Trauer, marsch!

Gut. Also. Trauern wir.
Heute um: Steve Lee, Sänger der Schweizer Rockband Gotthard, gestorben bei einem Töffunfall in den Vereinigten Staaten.

Dass die meisten von uns den Verblichenen höchstens vom Hörenlesen her kannten, soll uns nicht daran hindern, kollektiv in tiefe Betroffenheit zu versinken. Wie das geht, wissen wir spätestens seit jenem 11. September, an dem Terroristen Flugzeuge in Bomben verwandelten und damit 3000 Leute ermordeten. Kaum hatten sich die dicksten Rauchschwaden verzogen, titelten die Zeitungen: „Die Welt in Trauer“, „Die Schweiz in Trauer“ oder, falls sich mit Mühe und Not ein lokaler Bezug konstruieren liess: „Konolfingen trauert“.

An Gelegenheiten, das nationale und internationale Trauern um völlig unbekannte Menschen weiter zu üben, fehlte es in den folgenden Jahren nicht. Es gab einen Tsunami, es gab Erdbeben, es gab Kriege und es gab Michael Jackson.

Was mich dabei immer ein wenig irritierte, war: Von alleine stellten sich bei mir in all diesen Fällen nie Trauergefühle ein. Staunen? Oft. Wut? Teilweise. Fassungslosigkeit: Manchmal. Aber dass ich traurig bin: Das mussten mir jedesmal erst die Medien einhämmern. 

Wie, eben: jetzt wieder im Fall von Steve Lee. Die Nachricht von seinem Tod war noch keine halbe Stunde lang durchs Internet gejagt worden, als ich mit mir eine Wette abschloss, dass es keine weitere halbe Stunde dauern würde, bis mir jemand mitteilt, dass „die Schweiz trauert“. Und siehe da: 20 Minuten später ereilte mich via Facebook die Nachricht: „Die Schweiz trauert.“

In dem Moment, in dem ich das schreibe, spielen die Radiostationen landauf und -ab Gotthard-Songs nonstopp. Auch das restliche Trauerbewältigungsprogramm wird in den bewährten Bahnen verlaufen: Am Abend würdigt jeder Sender zwischen Basel und Lugano das Schaffen des Musikers. In Internetforen überbieten die Verschwörungstheoretiker mit Berichten von Augenzeugen, die ganz in der Nähe der Unfallstelle Männer mit kleinen Knöpfen im Ohr, Sonnenbrillen vor den Augen und T-Shirts mit der Aufschrift „CIA“ gesehen haben wollen.

Morgen haben die Psychologen das Wort, um das Geschehen für die verheulten Massen „einzuordnen“ und einigermassen fassbar zu machen. Voraussichtlich am Samstag wird sich ein Verkehrsexperte mit dem Satz zitieren lassen, dass „immer ein Restrisiko“ bleibe, wenn ein Mensch von einer Harley Davidson getroffen wird. In den Sonntagszeitungen wirft womöglich ein Onkel des Sängers die Frage auf, wieso der Leichnam seines Neffen nicht längst in die Schweiz überführt worden sei, worauf ein Rega-Sprecher sagen wird, dazu dürfe er nichts sagen. Das wiederum veranlasst die eigentlich längst ermatteten Verschwörungstheoriker dazu, ihre Computer erneut hochzufahren. 

Vielleicht erinnern sich nächste Woche in diesem und jenem Heftli ein paar Prominente an „meine schönsten Stunden mit Steve“; mit besonderer Spannung werden die Einlassungen von Nella Martinetti erwartet.

Dann – sagen wir: um nächsten Mittwoch herum – hat die Trauergemeinde das Gröbste überstanden.

Und wenn in einem Jahr ein Gotthard-Song am Radio läuft, diskutieren nur noch Vereinzelte darüber, ob der glatzköpfige Gitarrist dieser Band damals eigentlich an einer Überdosis gestorben sei oder nicht doch beim Schwimmen im Meer.

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