Unter Oholdies

Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii (wer jetzt tagelang diesen Wurm im Ohr hat, kann sich trösten: Es gäbe Schlimmeres; viel Schlimmeres), und ich war auch noch niemals auf Gran Canaria, jedenfalls nicht im Oktober und November.

Gran Canaria im Oktober und November unterscheidet sich von Gran Canaria im Dezember, Januar, Februar, März, April, Mai, Juni, Juli, August und so weiter in zweierlei Hinsicht: Es windet stärker als sonst, und jetzt, wenige Wochen vor Weihnachten, ist die Zeit, in der Senioren scharenweise vom Festland auf die Insel strömen, um ein bisschen Sommer in den Winter hinüberzuretten.

In dem Hotel, in dem auch ich die Kältemonate um zwei Wochen abkürze, gehöre ich zu den jüngeren Gästen. Ein Tollhaus für Teenager ist das Parque Tropical in Playa del Inglés ohnehin nicht, wie ich schon bei mehreren Gelegenheiten erfahren durfte (und wie bestimmt auch das spanische Königspaar weiss, das sich in diesem Etablissement dem Vernehmen nach öppedie top anonym von den Strapazen des Regierens erholt). Aber als ich am Mittwoch eincheckte, fragte ich mich trotzdem kurz, ob der Taxifahrer mich wirklich an der richtigen Adresse und nicht vor einer geriatrischen Klinik abgesetzt habe.

Inzwischen habe ich mich an mein Umfeld gewöhnt (und es sich umgekehrt hoffentlich auch an diesen gmögigen Burschen mit der schicken Brille, der immer nur Aqua mineral naturale con gas trinkt). Genauer gesagt: Zu meiner eigenen Überraschung gefällt es mir hier cheibe guet.

Das hat nicht nur mit der Sonne und dem Sand und dem Suppenangebot (auf die Schnelle fiel mir kein anderes Wort ein, das mit S beginnt und die „Sonne“- und „Sand“-Alliteration quasi zu einer Dreifachpirouette veredelt) zu tun, sondern auch mit meinen Mitbewohnerinnen und -bewohnern.

Letzte Nacht fegte ein Sturm dermassen heftig durch die Anlage, dass ich schon um 3 Uhr erwachte, statt bis um 4 ausschlafen zu können. Ich riss das Fenster auf, um zu checken, ob die Evakuierungen schon im Gange seien, und staunte nicht schlecht: Direkt vor meinem Gemach hingen die Palmen sozusagen fast quer in der Luft. In das wütende Tosen des Windes mischte sich das krachende Rauschen der Brandung.

Einen Moment lang dachte ich darüber nach, inwiefern es wohl relevant für das lokale Schiff- und Fischgewerbe sei, wenn die Wellen von so einem Orkan ins Meer hinaus statt landeinwärts getrieben werden, wurde aber aus meinen wirtschaftspolitischen Erwägungen gerissen, bevor ich sie zu Ende denken konnte, denn in einem Zimmer gegenüber ging ein Licht an.

Ich sah einen Menschen durch den Raum tappen. Wenig später kam er zurück. Dort, wo ich das Bett vermutete, hielt er inne. Dann beugte die Figur sich hinunter. Ich dachte, oha, jetzt gehts los, und wünschte den beiden bei allem, was sie vorhaben mochten, viel Kraft, Vergnügen und immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel. Aber dann bemerkte ich, wie die Person sich aufrichtete. Ihre  Bewegungen wirkten umständlich. Nach Spass sahs jedenfalls nicht aus, sondern eher nach Chrampf.   

Auf einmal standen zwei Menschen am Fenster; ein sehr grosser und ein viel kleinerer. Der grosse führte den kleinen aus dem Zimmer. Das Licht erlosch. Sekunden später schwang die Balkontüre auf. Ins Freie traten Arm in Arm ein sehr, sehr alter Mann und eine ebenso betagte Frau, wie ich im schummrigen Schein der Aussenbeleuchtung erkennen konnte.

Der Mann half der Frau, sich auf einen der Stühle zu setzen. Er tat das mit einer Hingabe und Zärtlichkeit, die mich – ungelogen – rührte. Als er sicher sein konnte, dass sies bequem hat, nahm er neben ihr Platz. Andächtig wie auf einer Kirchenbank beobachteten sie, wie die Natur sich in der Hotelanlage austobte.

Zwei Stunden später strichen die ersten Sonnenstrahlen über die Dächer. Der Sturm hatte sich in ein Lüftchen verwandelt. Die beiden höckelten immer noch da. Sie hatte ihren Kopf an seinen Oberarm gelegt und schlief. Seine Augen waren ebenfalls geschlossen, doch ich wäre jede Wette eingegangen, dass er hellwach war, um seiner Frau sofort helfen zu können, wenn sie etwas benötigt.

So sind sie, meine Oldies: Würdevoll, liebenswert – und immer füreinander da. Sie stellen ans Personal keine unerfüllbaren Ansprüche. Sudokus, Bücher oder Schach genügen den meisten, um sich die freie Zeit zu vertreiben. Manche diskutieren, viele geniessen das Dolce far niente schweigend. Hier tippt ein Ömchen hochkonzentriert auf dem Handy herum, dort blättert ein Silberrücken in einem Prospekt. Ab und zu dringt ein Kichern an meine Ohren, hin und wieder lacht jemand laut auf. Ansonsten ist wenig zu hören: Niemand hüpft grölend ins Becken, niemand brüllt nach der Bedienung, niemand schaut fern, obwohl das Gerät ununterbrochen läuft.

Contenance bewiesen meine Mitbewohnerinnen und -bewohner schon vorher: Ohne zu ellböglen oder dem Vordermann den Rollator in die von Krampfadern überwucherten Kniekehlen zu rammen, standen sie vor dem Restaurant seelenruhig Schlange, bis das Zmorgebuffet eröffnet wurde. Während die U50-Fraktion kurzbehost und in T-Shirts durch den Saal lümmelte, pickten die reiferen Semester den Käse, die Gipfeli, die Schinkenscheiben und alles wie aus dem Truckli gewandet von den Tabletts.

«Wir starten mit der Wassergymnastik!», schepperte es gegen Mittag aus den in den Bäumen versteckten Lautsprechern. Dick und dünn und Deutsch und Dänisch und grau und glatzköpfig versammelten sich nadisna im Pool, um die schlappen Glieder zumindest einmal am Tag chly auf Touren zu bringen.

Vom Beckenrand aus rief ihnen eine Hotelmitarbeiterin in einem hautengen hellblauen Ganzkörperdress zu, sie sollen vorwärts laufen und wieder rückwärts und dann ihre knallbunten Schwimmhilfen rhythmisch über den Köpfen hin- und herbewegen, «und zwar alle, meine Lieben!», und in den Boxen, in denen eben noch Richard Clayderman balladepouradelinte, waren jetzt offenkundig auf Speed gesetzte Südamerikanischer zu Gange, die mit Gitarren, Panflöten und Trommeln ohne Pause darboten, was die Anden an Liedgut hergeben, und nachdem alles vorbei war, stiegen die Seniorinnen und Senioren strahlend aus dem Wasser und verabschieden sich höflich von der Animatrice, die mindestens ihre Grossenkelin sein könnte, und schlurften zurück zu ihren Sudokus und Büchern und hatten für den Rest des Tages genau den Frieden, nach dem unzählige Jüngere in den Ferien oft ewig suchen, ohne ihn je zu finden.

6 Kommentare

  1. Herrlich! Insbesondere, wenn man, wie ich, im Krankenhaus liegt, und sich nach Perspektiven umsieht!

  2. Ach, als dürfte man selbst dabei sein ohne dabei sein zu müssen. Ich liebe Ferien auf Gran Canaria mit dir. Nur die Highlights, Häppchen und Hannesbonmots.

  3. Endlich bist du wieder in den Ferien und wir dürfen, dank deinen humorvollen Berichten, dabei sein ????.

  4. Danke für das einfühlsame Feedback, immer ein Erlebnis, man glaubt sich gerade mitten drin.. please weiter so.

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