Wahn und Wahrheiten

Eine Freundin schickte mir heute dieses Bild. Ich antwortete ihr: „Wie auch immer das Spiel heisst und wer auch immer es begonnen hat: Jetzt haben wirs gesehen. Jetzt haben wirs begriffen. Jetzt kennen wirs alle. Jetzt kann mans wegräumen.“

Doch kaum hatte ich auf „Senden“ gedrückt, fragte ich mich: Stimmt das? Haben wirs wirklich begriffen?

Ich meine:

(Zum Text gehts hier entlang.)

Nein – haben wir nicht; noch immer nicht.

Das mit dem „Wir“ stimmt zwar nur sehr bedingt. Doch jene Wenigen, dies nicht begreifen wollen oder können, sorgen mit erschütternder Zuverlässigkeit dafür, dass es für die Vielen, die sich seit Monaten an Die Regeln halten, mit dieser Seuche einfach kein Ende nimmt, weder im Kanton Bern noch im Bündnerland noch sonstwo auf der Erde.

Auszüge aus Chats der letzten Tage:

„Emmer positiv bliibe, ond s‘Guete gseh… probier ich jo ou.. esch gliich e Schissdräck.“

„Ab und zue e Maske trage isch ja iz o nid grad chinesischi Folter. Dr Lockdown isch ja viel heftiger gsi. Aber weme gärn wieder eine het, de nur witer so.“

„Der Wahnsinn zieht sich Siebenmeilenstiefel an.“

„Ich könnte gar nicht soviel essen, wie ich gerade kotzen möchte.“

„Ich merke von Tag zu Tag mehr, wie enge Grenzen dem positiven Denken gesetzt sind.“

„Vor einem Jahr dachte ich noch, unsere elf Flüchtlinge seien ein Problem. Heute könnten von mir aus 2000 kommen, wenn dafür Corona verschwinden würde.“

„Verstoh die Lüt eifach ned wo no emmer s Gfühl händ de Virus esch en Wetz…“

Dann hängen wirs also auf, das neue Coronaplakat

und während wir überlegen, was genau da eigentlich Neues draufsteht (glaub nichts), hyperventiliert tout Deutschland wegen eines Schlagersängers, der nach nächtelangen Gesprächen mit einem Sternekoch offenbar zur Überzeugung gelangt ist, die Pandemie sei von finsteren Mächten undsoweiterundsofort (wers unbedingt genauer wissen will: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung liefert hier eine Zusammenfassung der sich laufend überstürzenden Ereignisse, welche die nationale Sicherheit eher über kurz als über lang massiv tangieren dürften).

Auch durch meine kleine Welt huschen auf einmal Gestalten, die ich Anfang Jahr März noch als durchs Band weg normal, vernünftig oder kurz: ganz gmögig bezeichnet hätte, die ich inzwischen aber weit neben der Spur suchen würde, wenn ich sie denn suchen wollte.

Am 22. März, eine Woche nach dem Lockdown, schrieb ich in der Serie „Die neue Virklichkeit“ in diesem Blog: „Corona, scheint es, macht alle und alles gleich. Nicht nur die Menschen, die mit ihren Unsicherheiten und Ängsten mehr Gemeinsamkeiten haben denn je (und die sich erstaunlicherweise je näher kommen, desto weiter sie sich voneinander entfernen müssen); auch die Tage ähneln sich unterdessen wie ein Status Quo-Hit dem anderen.“

Da hatte ich mich getäuscht: Covid-19 reisst in den aus Verständnis, Verantwortung, Toleranz und Rücksichtnahme gezimmerten Boden, auf dem wir alle zusammenleben dürfen oder müssen – aber ganz bestimmt sollten – immer tiefere Furchen.

Keine Minute vergeht, an dem nicht irgendwo über das Für und Wider des Maskentragens oder des Abstandhaltens und des Desinfizierens (to whom it may concern: vor dem Z hat es wirklich kein S, aber das Wort ist ja auch noch brandneu) diskutiert wird, wobei „diskutiert“ die Art und Weise der Kommunikation nur in Ausnahmefällen zutreffend beschreibt.

Die wachsende Zahl der Coronaleugner und Verschwörungstheoretiker macht mir längst mehr Angst als die Krankheit an sich. Seit Mitte März strich ich deshalb weit über 50 Personen aus meiner Facebook-Freundesliste.

Glücklicherweise handelte es sich bei keinem und keiner von ihnen um einen echten Freund oder eine echte Freundin. Sie waren mir über die Jahre virtuell zugelaufen, dann konnten wir gegenseitig lesen und liken, was Wichtiges und Lustiges wir auf unseren Seiten hinterliessen, und manchmal traf ich den einen oder anderen auf ein Kafi – und fertig.

Hätten diese Leute zum Thema „Corona“ bloss eine andere Meinung als ich, würden wir uns heute noch gelegentlich sehen. Dann könnten wir von mir aus gerne darüber reden, was es bringt, sich alleine im Bus sitzend ein Stück Stoff vor den Mund und die Nase zu binden. Oder wie sinnvoll es sein mag, alle paar Tage aufgrund von für Laien kaum nachvollziehbaren Zahlen Länder als Gefahrenzonen zu definieren, die eben noch „sicher“ waren, und gleichzeitig Regionen als „safe“ zu erklären, welche vor Kurzem als No Go-Areas galten.

Aber was soll ich meine Zeit für Zeitgenossinnen und -nossen verschwenden, die steif und fest und ohne jede Bereitschaft, sich Gegenargumente auch nur anzuhören, behaupten, irgendwelche Macht- und Geldhaber würden Kinder töten lassen, um aus deren Blut ein Elixier zu gewinnen, dank dem sie Corona überleben werden?

Wieviel Respekt ist friedensbewegten Anthroposophen und sinnsuchenden Macchiatomamis entgegenzubringen, die Seite an Seite mit verzückt guckenden Ufo-Gläubigen und gewaltbereiten Neonazis für Freiheiten demonstrieren, die sie trotz Corona nach wie vor haben?

Wieviel Verständnis und Ernstgenommenwerden darf jemand beanspruchen, der an Demos gegen die Anti-Coronamassnahmen in der Popup-Psychi auf dem Bundesplatz die Grosseltern und Kinder mitschleppt, um die Polizei davon abzuhalten, Wasserwerfer und Tränengas einzusetzen?

Ich gehe ja gerne ein bisschen in die Knie, um mit jemandem auf Augenhöhe diskutieren zu können. Auf den Boden des gesunden Menschenverstandes lege ich mich dafür aber nicht.

In diesem Moment wabert von den Bergen her dichter Nebel auf Davos herunter. Er berührt sämtliche Mauern, dringt in alle Baumrinden, benetzt jeden Quadratmillimeter Asphalt und drängt die Menschen in die Häuser.

Er erinnert mich an Corona: auch dieser Virus touchiert jeden noch so versteckten Winkel unseres Lebens, aber im Gegensatz zum Nebel ist er offensichtlich gekommen, um zu bleiben.

Manchmal frage ich mich, ob er wenigstens für etwas gut ist. Ob wir eines Tages sagen können: „Ohne Covid-19 hätten wir noch lange darauf warten müssen, bis…“ oder „Ohne Corona wäre es nie denkbar gewesen, dass…“ – aber es fällt mir beim besten Willen nichts ein; nicht einmal etwas Absurdes.

Vielleicht, wer weiss, hat Etwas eines Tages die Weltbevölkerung durchgezählt, hochgerechnet, wie es auf diesem Planeten in zehn Jahren aussehen wird und dann beschlossen, die Notbremse zu ziehen.

Falls dem so wäre, könnte dieses Etwas inzwischen zumindest einen Teilerfolg verbuchen: über eine Million Menschen hat Corona dahingerafft (zum Vergleich: der 2. Weltkrieg forderte 70 Millionen Todesopfer. Der Tsunami, der am 26. Dezember 2004 über Südostasien hinwegfegte, kostete 230 000 Menschen das Leben. 690 Millionen Menschen leiden gemäss Hilfswerken an Hunger).

Am Nebentisch sitzt ein Ehepaar mit zwei Kindern. Das Mädchen wollte von der Mutter soeben wissen, „was schreibt der Mann da?“

„Keine Ahnung“, antwortete die Mutter. Vielleicht sage er es ihr, wenn sie ihn frage.

„Was schreibst du?“, erkundigte sich die Kleine keine Sekunde später bei mir.

„Über Corona“, sagte ich.

„Warum?“

„Phuu. Einfach so. Ich weiss es nicht.“

„Schreib etwas anderes. Corona ist blöd“, schlug das Kind vor und wandte sich wieder seinem Coupe zu.

So viel Kluges in so wenige Worte zu packen: Das schafft nur, wer das Handy vor allem zum Spielen und Filmegucken nutzt, Eltern hat, die mit ihm auch bei Schlechtwetter spazierengehen, wer sich null Gedanken darüber zu machen braucht, ob die Besprechung mit F. am nächsten Mittwoch stattfinden wird und wenn ja, wie, für den drei Kugeln Glace mit Rahm für kurze Zeit das absolut Wichtigste auf der ganzen Welt sind – oder kurz: wers einfach nehmen darf, wies kommt, und dem auch scheinbar Winziges eine ungeheuer grosse Freude bereiten kann.

Ich muss sagen: Darauf wäre ich ohne Covid-19 kaum gekommen.

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