Würze für das Immergleiche

Es war, wie bei einem Spaziergang von einem Platzregen überrascht zu werden: Am Montag, dem 20. September, orientierte das Newsportal Argovia Today seine Leserschaft darüber, dass das Bundesamt für Landwirtschaft meinen Rosmarinstrauch beschlagnahmt habe.

Diese Geschichte hatte ich Ende August als Schwank aus meinem Leben in diesem Blog veröffentlicht und inzwischen beinahe vergessen.

Weil sie dem Kanal Klicks am Laufmeter bescherte,

zogen Radio Argovia, die Berner Zeitung, der „Blick“, der Tages Anzeiger, 20minuten und Radio Energy zum Teil im Stundentakt nach (zur Zusammenfassung gehts hier entlang).

Für mich war das eine ganz neue Erfahrung: Seit bald 40 Jahren verdiene ich meinen Lebensunterhalt damit, über Menschen zu schreiben. Nun wurde ich auf einmal selber zum Thema.

Wenn mich jemand fragen würde, ob ich das genossen habe, würde ich sagen, nein. Gestört hat es mich allerdings auch nicht. Irritierend war es auf jeden Fall. Ständig poppten auf dem Bildschirm meines Handys Nachrichten von Leuten auf, die mich darauf hinwiesen, mich und meinen Rosmarin soeben „gesehen“ zu haben:

Auf den routinemässigen Schlummertrunk in der Burgdorfer Oberstadt verzichtete ich gestern trotzdem – oder gerade deshalb. Die Vorstellung, einen ganzen Feierabend lang über Rosmarin, amtliche Verfügungen und das Schwarmverhalten von Medienschaffenden zu reden, erschien mir als nur mässig prickelnd.

Eitel Freude herrschte in den Redaktionen. Etliche Journalistinnen und Journalisten teilten mir mit, dass die Story auf grossen Anklang gestossen sei

„Was ist nur los? Was ist passiert“?: Das fragt sich nicht nur Herbert Grönemeyer in seinem Hit „Alkohol“. Das ging auch mir durch den Kopf, als ich dabei zuschaute, wie sich Medienschaffende aus der ganzen Deutschschweiz über den (zwar längst vernichteten) Strauch auf meinem Balkon hermachten.

Vermutlich war ein behördlich beschlagnahmter Rosmarin in ihren Augen die perfekte Würze für einen Brei, den sie seit Monaten und Jahren primär aus Corona, Klima und Kriegen anrühren (müssen) und der sowohl für sie als auch für ihre Kundinnen und Kunden immer schwerer verdaulich ist.

Eine Freundin schrieb mir dazu:

Eine andere – sie ist ebenfalls Journalistin – meinte:

Rosmarin hingegen: kennen alle, brauchen alle und mögen (fast) alle. Anders als ein Virus oder CO2 kann man ihn sehen, berühren und riechen.

Wer über das Kraut schreibt, braucht dafür keine Wissenschaftler und Politexponenten und Interessenvertreter (die Frauen sind selbstverständlich mitgemeint) nach ihrer Meinung zu befragen, keine Zahlen miteinander zu vergleichen und nichts einzuordnen.

Er oder sie kann einfach loslegen – und das erst noch, ohne zu riskieren, damit eine Debatte loszutreten, die nach den ersten zwei Kommentaren in einen Glaubenskrieg ausartet, in dem es weniger um den Austausch von Argumenten und Ansichten geht, sondern vor allem darum, Andersdenkende möglichst schnell in der Neonazi- oder Gutmenschenecke festzunageln.

Entsprechend sachlich – und bisweilen auch humorvoll – wurde online über den Fall diskutiert:

Erleichternd kam für die Journalistinnen und Journalisten sicher hinzu, dass sämtliche Zutaten, die sie für ihre Beiträge benötigten, fixfertig vor ihnen lagen. Dass die meisten Reporterinnen und Reporter trotzdem zum Telefon griffen, um die eine oder andere Zusatzinformation zu erhalten, hat mich in einer Zeit, in der „Googlen“ mehr und mehr zum Synonym für „Recherchieren“ wird, positiv überrascht.

Aus eigener Erfahrung weiss ich, wie schwierig – nein: mühsam – es für auf Aktualität getrimmte Nachrichtenleute ist, ihrem Publikum eine von anderen zubereitete Geschichte so schmackhaft zu servieren, als ob es ihre eigene wäre.

Am besten aus dieser Affäre hat sich in diesem Fall das Radio Argovia gezogen. Das schreibe ich nicht, weil mein Brüetsch dort arbeitet. Sondern, weil dessen Kollege Oliver Wagner dem Rosmarinstock auf dem Balkon in der Amietstrasse 28 in Burgdorf zwei Minuten lang genau jene Mischung aus Ernsthaftigkeit und Ironie zuteilwerden liess, die ihm als C-Prominenter zustand.

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