De Rosmarin u i

20. September 2021: Die Geschichte über die Biobombe auf meinem Balkon erfährt unerwartete Fortsetzungen: Das Onlineportal Argovia Today nimmt sich des Falles an. Die Story setzt sich sofort an die Spitze der Klick-Hitparade und gibt diese Platzierung bis am Abend nicht mehr ab.

Fast gleichzeitig bittet mich die Redaktion des Radios Argovia um ein Interview. Oliver Wagner macht daraus einen ebenso unterhaltsamen wie informativen Beitrag.

21. September 2021: Anruf vom „Blick“. Sie habe via Argovia Today von der Rosmarinsache erfahren. Nun möchte sie bei mir vorbeikommen, um ebenfalls darüber zu berichten, sagt die Praktikantin.

Während ich mir ihr rede, frage ich mich, ob die Medienwelt nun endgültig übergeschnappt sei. Was für mich ein simpler Schwank aus dem Leben war, ist für einige von deren Bewohnerinnen und Bewohnern offenkundig der Stoff, aus dem die Nachrichten und Klicks sind.

Einerseits werden die Redaktionen von ihren Verlagen nadisna zu Tode geschrumpft. Andererseits reist wegen eines (längst entsorgten) Gewürzstrauchs eine Journalistin von Zürich nach Burgdorf. Wie passt das zusammen?

Die Praktikantin sagt, Rosmarin würden sehr viele Leute zum Kochen verwenden. Deshalb gehe sie davon aus, dass ein potenziell vergifteter Rosmarin von öffentlichen Interesse sei.

Ich antworte ihr, von meiner Pflanze sei nie eine Gefahr für Menschen ausgegangen – was auch in meinem Blogbeitrag stehe -, worauf sie antwortet, das wisse sie. Das mit dem „öffentlichen Interesse“ wäre damit eigentlich vom Tisch, aber eben: nur eigentlich.

Weil ich tief im letzten Jahrtausend selber angehender Journalist war, ahne ich, dass die Frau unter einem gewissen Lieferdruck steht. Also willige ich ein.

Um kurz vor 16 Uhr steht die „Blick“-Reporterin vor meiner Wohnung. Auf der Fahrt nach Burgdorf hatte sie einen Topf Rosmarin gekauft, um die Geschichte illustrieren zu können. Nach dem Gespräch und der Fotosession schleppt sie ihn wieder die Treppe hinunter und zum Auto.

Die Wartezeit bis zu ihrem Eintreffen wird mir durch eine Mitarbeiterin der Berner Zeitung verkürzt. Sie erkundigt sich telefonisch nach der Aktion „Kraut“ und veröffentlicht den Online-Artikel noch am selben Abend. Der Tagesanzeiger, der wie die BZ zur TX Group gehört, stellt ihn ebenfalls ins Netz. Die Leserinnen und Leser wissen den Effort zu schätzen:


Der Text wird eifrig kommentiert. Die Reaktionen auf den Eingriff der Pflanzenschutzbehörde fallen mehrheitlich positiv aus.

Der „Blick“ publiziert an diesem Tag nichts zum Thema. Und gerät gegenüber der Konkurrenz weiter ins Hintertreffen.

22. September 2021, frühmorgens: Die BZ veröffentlicht die Story auch in ihrer Printausgabe:

22. September 2021, 13.50 Uhr: Et voilà.

Aus mir unerfindlichen Gründen bekam auch 20minuten Wind von der Sache. Radio Energy verlegte vor lauter Aufregung meinen Wohnort:


Mir wärs ziemlich sehr recht, wenn der Fall nun erledigt wäre. Irgendwie habe ich das Gefühl, mich in den letzten drei Tagen mit nichts anderem als diesem *#@=>$$ :-()! Rosmarinstock beschäftigt zu haben, und dass inzwischen nicht nur meine Saucen nach dem Kraut duften, sondern auch meine Wohnung und die Kleider.

Was, frage ich mich, wäre in der Medienlandschaft wohl los, wenn einmal ein Bakterium oder so in Umlauf geriete, das auch Menschen bedroht?

Nachtrag 22. September 2021, 18.56 Uhr: Eine mir fremde Frau aus Burgdorf ruft an. Sie ist hörbar nicht mehr die allerjüngste. In der Zeitung habe sie gelesen, dass mir mein Rosmarin abhandengekommen sei. Das tue ihr „unendlich leid“. In ihrem Garten habe sie „einen riesigen Stock“. An diesem könne ich mich jederzeit bedienen, bis ich einen neuen Rosmarin erhalte. Sie selber, sagt sie, verwende dieses Kraut „immer“; auch und ganz besonders für Bolognese-Sauce. Auf die Leute, die „im Internet“ in den letzten Tagen geschrieben hätten, Rosmarin gehöre nicht in eine echte Bolo, soll ich einfach nicht hören: „Die haben ja keine Ahnung, wie fein das ist“.

Nachtrag 23. September 2021, frühmorgens:

Heimsuchung

Kaum ist man aus Reinach im Wynental ausgewandert, trifft man an seinem neuen Wohnort weneliwen? Den Turnverein aus dem damaligen Nachbardorf Gontenschwil. Darunter: Höbu, der Partner des superflotten Bürogspändlis Karin Huber, mit dem man vor 40 Jahren beim Wynentaler Blatt zusammen“gearbeitet“ hatte.

Tags zuvor waren die Herren ins Emmental eingefallen. Erst besuchten sie die Schaukäserei in Affoltern, dann kurvten sie mit E-Trottis durch die Gegend und übernachteten schliesslich in der Jugi auf dem Schloss. Die Turnfahrt liessen sie bei einem Apéro in der Minigolfanlage ausklingen.

Herzrasen und Hühnerhaut

Bis kurz vor Sonnenuntergang war der 2. September 2021 ein Tag wie jeder andere. Doch dann stand die Erde für unzählige Menschen auf einmal still: In London gaben Benny Andersson und Björn Ulvaeus, die zwei Köpfe von Abba, bekannt, dass sie mit Agneta Fältskog und Annifrid Lyngstad ein neues Album aufgenommen hätten. «Voyage» heisse es, und werde am 5. November erscheinen. Zum Beweis dafür, dass sie es ernst meinen, veröffentlichen die Schweden gleichzeitig zwei Muster.

Mein erster Gedanke war, mir die Lieder sofort anzuhören, am liebsten die ganze Nacht lang. Neues Material von Abba: Ebensogut hätte Wolfgang Amadeus Mozart leibhaftig ankündigen können, an einer Fortsetzung der «Zauberflöte» zu arbeiten oder Michelangelo Buonarroti via Facebook bekanntgeben, er bemale nächstes Jahr den Taj Mahal.

„Abba“ hiess für mich immer: alles ist oder kommt in Ordnung – auch wenn einige ihrer Werke («The day before you came», «The winner takes it all») zum Traurigsten gehören, was die an tristen Tönen und Texten nicht arme Popgeschichte hervorgebracht hat.

Irgendwo im Internet schrieb einst jemand, Abba sei „a once in a lifetime happening“, und er oder sie sei „so glad that it was during mine.“ Wenn ich auf eine Formulierung neidisch bin, dann auf diese.

Im zarten Alter von 12 Jahren nötigte ich meine Mutter – also: Mamma mia -, sich mit mir in einem Kino in Aarau „Abba – The Movie“ anzusehen. Wenige Wochen später erlebte ich Abba bei ihrem einzigen Schweizer Konzert im Zürcher Hallenstadion. Drei Jahrzehnte danach glaubte ich, gestorben und im Himmel gelandet zu sein, als Annifrid Lyngstad mich an einem Zweiertisch in meinem bumsvollen Stammbeizli in Freiburg fragte, ob der Platz gegenüber noch frei sei.

Ich sah „Chess“ in vier Städten, flog mit meinem Brüetsch nur für „Mamma Mia“ nach London, las über die Band, was mir in die Finger kam, und studierte – vergeblich – wissenschaftliche Abhandlungen, um zumindest halbwegs ergründen zu können, worin die Magie ihrer Musik besteht.

Diese wunderschönen Erinnerungen hielten mich bis heute Morgen davon ab, mir die neuen Lieder zu Gemüte zu führen. Ich hatte Angst, dass etwas in mir kaputtgehen könnte, wenn die Songs nicht exakt dem entsprechen würden, was ich mit Abba verbinde.

Erinnerungen haben viel mit Abba zu tun – und umgekehrt. In der „Zeit“ notierte Dirk Peitz:

„Die Erinnerung ist wohl der Preis, den man als Erwachsener für die Vertreibung aus dem kindlichen Paradies der Ahnungslosigkeit und die immer weiter in die Ferne rückende Erfahrung des Jungseins zahlt: als alles gerade noch neu schien und leicht und gut. Die grosse Kunst der Popgruppe Abba war, dass sie in ihren Songs genau dieses Gefühlsmischmasch zum kollektiv geniessbaren Erlebnis machte.“

Und weiter: „Eigentlich hoben die Lieder dieser Band die Zeit auf. Für drei, vier Minuten schienen einem Empfindungen plötzlich nah, von denen man glaubte, dass man sie einmal gehabt haben musste. Und wenn nicht: dass man sie gerne haben würde und ja tatsächlich dann auch hatte.“

Heute Morgen tat ich es nun doch. Theoretisch, dachte ich, könnte es ja sein, dass ich die Songs irgendwann am Radio höre. In dem Fall wäre es sicher besser, darauf vorbereitet zu sein, als die Umsitzenden fragen zu müssen, „das klingt noch gut. Von wem ist das?“, und als Antwort zu vernehmen, „von Abba. Waterloo. Siebziger. Musst du nicht kennen.“

Als Erstes wagte ich mich an „I still have faith in you“:

Nach fünf Akkorden lösten sich meine Befürchtungen in Luft auf. 40 Jahre, nachdem sie mit „Under Attack“ ihre letzte Single veröffentlicht hatten, schenken Abba der verängstigten, frustrierten und zunehmend verbitterten Menschheit eine zeitlose Hymne an die Freundschaft und die Liebe, die zwischen Hühnerhaut und Herzrasen alles auslöst, was der Körper und das Gemüt an Reaktionen zu zeigen imstande sind.

In „Don’t shut me down“ grüssen sie erst ihre „Dancing Queen“. Was folgt, ist eine Hommage an längst vergangene Zeiten in trockeneisumwaberten Discos samt jenem kaum wahrnehmbaren Schatten der Melancholie und Vergänglichkeit, der über fast jedem Abba-Song schwebt.

Mit einer halben Milliarde verkaufter Schallplatten, zig Millionen Musical-Besuchern und als Inhaber der Rechte an Dutzenden von Hits, die rund um die Uhr von Radios, DJs und Musikgesellschaften gespielt werden, wurde die Band im Laufe der Dekaden zu einem global agierenden Konzern.

Doch hinter ihrer Musik eine geschäftliche Strategie zu erkennen, ist zumindest dem Laien unmöglich. Weder das majestätische „I still have faith in you“ noch das flockige „Don’t shut me down“ lassen vermuten, dass sich vier Musikerinnen und Musiker zusammengesetzt hätten, um im Herbst ihres Daseins auf Teufel komm raus noch einmal etwas Besonderes zu produzieren.

Wie alles, was die beiden Männer komponierten und deren frühere Ehefrauen sangen, kommen auch ihre jüngsten Würfe mit einer Leichtigkeit daher, die in einem extremen Widerspruch zu den hochkomplexen Melodien und Harmonien steht, aus denen sie zusammengesetzt sind.

Experten streiten sich seit Jahrhunderten ergebnislos darüber, ob Mozart – dessen Oevure über weite Strecken ebenfalls wie aus dem Ärmel geschüttelt wirkt – gewusst habe, dass er ein Genie war. Eine ähnliche Debatte liesse sich über Abba nicht führen. Benny Andersson und Björn Ulvaeus dürften sich sehr im Klaren darüber sein, was sie können, und welche Tonfolgen die Glückshormone von alleine dazu bringen, die Seelen ihrer Zuhörerinnen und Zuhörer zu fluten.

Dennoch schufen sie auch ihre neusten Wunder spürbar nicht nach Konzepten und Rezepten. Sondern, wie ehedem in ihrer Hütte vor der schwedischen Küste: schlicht und einfach the way old friends do.

„Ich habe doch auch ein Leben.“

(Bild: Sabine van Erp/Pixapay)

Am Nebentisch: Zwei ältere Damen. Die eine sass schon ein Weilchen da. Die andere setzte sich später dazu. Sie kennen einander, scheinen sich aber länger nicht mehr gesehen zu haben. Sie reden über Corona, das Wetter und eine Abdankung. Dann fragt die eine:

„Und sonst?“

„Was soll ich sagen? Nicht so gut. Es wird immer schlimmer.“

„Wieso?“

„Sie musste wieder ins Spital.“

„Ui. Wie alt ist sie jetzt?“

„91.“

„Doch schon.“

„Ja.“

„Das hättest du auch nicht gedacht, dass du…“

„Jesses, nein. Aber was wosch?“

„Oh je.“

„Ich war ehrlich gesagt noch froh, musste sie ins Spital. Es war ja nichts Schlimmes, nur wegen dem Fuss. Manchmal wird es mir einfach zuviel.“

„…“

„Ich bin die einzige, die zu ihr schaut. Eigentlich mache ich nichts anderes mehr.“

„…“

„Einkaufen, putzen, herumfahren, vorkochen, Wäsche, vorlesen. Einfach alles.“

„Phuu.“

„Ich habe doch auch ein Leben.“

„Ja, klar. Und er?“

„Ist seit März im Heim. Senevita.“

„Wenigstens das.“

„Ja, wenigstens das.“

„…“

„Und deine Schwester?“

„Irene? Chasch dänke.“

„Hilft sie nichts?“

„Nenei. Nie.“

„…“

„…“

„Weisst du, was das Schlimmste ist?“

„Das wegen dem Heim?“

„Nein, das ist schon gut. Das war ja klar.“

„Stimmt, das hast du gesagt.“

„Das Schlimmste ist: Als sie wieder aus dem Spital kam, sagte sie, jetzt wolle sie ein bisschen weg.“

„Heieieiei.“

„Sie wollte unbedingt nach Italien. Weisch, in das Hotel, in dem sie mit ihm immer war. Ich dachte, gut, dann gehen wir halt nach Italien. Im Hotel schauen die Leute sicher zu ihr. Vielleicht tut mir so chly Pause ja auch gut.“

„Ja, klar.“

„Aber weisst du, mit wem sie dann nach Italien ging?“

„Keine Ahnung.“

„Mit Irene. Sie hat ihr alles bezahlt.“