Auf der Homeoffinsel (17)

Mittwoch, 17. Februar 2021, 6.35 Uhr

Im Zimmer neben mir lebt seit Sonntag ein junges Paar. Woher die beiden kommen, wie sie heissen, wohin sie nach ihren Ferien zurückkehren: ich habe keine Ahnung.

Was ich weiss, ist, dass sie ihre Unterkunft nur ungerne verlassen. Nach dem Auspacken und Einräumen planschten sie im Pool. Vorgestern schleppten sie aus dem Supermarkt gegenüber drei Plastiksäcke voller Lebensmittel und Getränke an.

Doch so selten ich den Mann und die Frau auch sehe: akustisch sind sie in meinem Leben durchaus präsent.

Zigmal frönen sie täg- und nächtlich Tätigkeiten, die einst mit „sich beiwohnen“ umschrieben wurden. Leider ist auch dieser schöne Begriff dem kollektiven Vergessen anheimgefallen. Drum, auf gut Neudeutsch: sie kopulieren.

Das geht nie emissionslos vonstatten, wobei: er ist mehr der stille Geniesser, während sie ihre Lautsprecher ab einem gewissen Punkt bis zum Anschlag aufdreht. Sallys Performance für Harry wirkt im Vergleich dazu wie eine pantomimische Einlage.

Kurz danach tappt einer oder eine der beiden zum Kühlschrank. Dann unterhalten sie sich; ob es sich bei diesen Gesprächen um Manöverkritiken oder Afterwork-Smalltalks handelt, entzieht sich meiner Kenntnis, weil ich ihre Sprache nicht verstehe. Im Hintergrund läuft meist spanischer (und gar nicht so übler) Rap-Hiphop.

Heute Morgen ist es in 1210 allerdings schon stundenlang still; to-ten-still.

Als leicht beunruhigter Nachbar frage ich mich, was man in einer solchen Situation unternimmt.

Einerseits kann niemand ernsthaft von mir verlangen, dass ich mich im 12. Stock von Balkon zu Balkon hangle, um durchs Fenster Nachschau zu halten.

Andererseits widerstrebt es mir, an der Rezeption Alarm zu schlagen. Ich bin noch ein Weilchen hier und möchte vermeiden, dass die Hotelmitarbeitenden sich jedes Mal, wenn sie mich sehen, mit einem spöttischen Unterton zuraunen, „da ist er ja wieder, unser Hysteriker“.

Muss ich also wirklich bei wildfremden Leuten anklopfen und ihnen, wenn – wenn! – sie öffnen, mitteilen, aus ihrem Schlag seien schon länger keine Bumsgeräusche mehr zu mir herübergedrungen, weshalb ich mich nur kurz erkundigen wolle, ob bei ihnen alles in Ordnung sei?

Auf der Homeoffinsel (16)

Dienstag, 16. Februar 2021, 7.30 Uhr

Zwei Wochen lang hatte ich den 12. Stock meines Hotels beinahe für mich alleine. Nun quartierte sich im Nebenzimmer ein mutmasslich frischverliebtes und entsprechend auch nachtaktives Pärchen ein. Dazu kamen eine Familie mit Kind, eine Flugzeugbesatzung aus Holland, zwei Franzosen samt Pudel und ein Mann aus dem Elsass.

Letzterer ist chly naja. Vom kahlrasierten Kopf bis zu den pedikürten Füssen vor Kokosöl glänzend, okkupierte er in der Openairbeiz gestern Mittag den Platz mir gegenüber, obwohl ich erkennbar nichtangesellschaftinteressiert vor dem aufgeklappten Laptop höckelte und nebenan Dutzende von Stühlen frei waren.

Eine geschlagene Stunde lang erzählte er mir ohne Punkte und Kommas von seinen Immobilien- und Aktiendeals und davon, dass er seine Heimat schon Anfang Oktober verlassen habe, weil er „diesen Coronascheiss nicht mehr ausgehalten“ habe.

Erst sei er nach Madeira geflüchtet, wo er nacheinander zu absoluten Spottpreisen in fünf megaschicken Hotels gelebt habe. Nachdem es ihm auf der Insel zu kalt geworden sei und sich Covid-19 auch zwischen den Vulkanen vor der portugiesischen Küste immer mehr breitmache, habe er er kurzerhand beschlossen, nach Tansania auszuweichen.

Mit viel Geld fühle man sich da „wie ein König“, fuhr er, meine Ignorierbemühungen ignorierend, fort. Das Essen schmecke, wörtlich, „überraschend gut für Afrika“, und Antipandemieregeln gebe es nicht, weil die Seuche in Tansania praktisch inexistent sei (das googelte ich, noch während er darüber referierte, und siehe da).

Zunehmend von Langeweile geplagt, sei er dann Playa del Inglés weitergezogen. Eine Rückkehr ins Elsass erwäge er erst, wenn sich die Seuchenlage in der Heimat beruhigt habe. Seine Frau komme auch ohne ihn bestens zurecht, sagte er (wenn ich ihm etwas glaubte, dann das). In welche Richtung es ihn wann als Nächstes ziehe, wisse er nicht.

Wohin auch immer: hoffentlich zieht es schon bald.

Auf der Homeoffinsel (15)

Montag, 15. Februar 2021, 00.20 Uhr

Vom Hotelbalkon aus sehe ich die Spitze des Leuchtturms von Maspalomas und höre ich, wie die Wellen des Atlantiks an die Küste krachen.

Unter anderen Umständen würde ich mich jetzt anziehen und die paar Kilometer quer durch die Stadt laufen, um mir das aus der Nähe anzuschauen. Wegen der Ausgangssperre verzichte ich darauf.

Meergucken ist zwar nicht das, was mir beim Stichwort „Ausgang“ als Erstes in den Sinn kommt. Einer nächtlichen Polizeistreife vielleicht aber schon. Dann mieche ich mich eines Verstosses gegen die „Ley Mortaza“ – dieses Gesetz regelt die öffentliche Sicherheit – schuldig. Das zöge eine Geldstrafe zwischen 601 und 30 000 Euro nach sich.

Also bleibe ich hier. Mit dem Kafitassli in der Hand schmolle ich vor mich hin.

Tess würde mit dem ihr eigenen Nachdruck jetzt sagen: nüüt tafme.

Auf der Homeoffinsel (14)

Das waren noch Zeiten: Wandgemälde in meiner Lieblingsbeiz an der Strandpromenade von Maspalomas.

Sonntag, 14. Februar 2021, 6.45 Uhr

13,1 Millionen Menschen verbrachten ihre Ferien im Jahr 2019 auf den Kanarischen Inseln, Für ihre Übernachtungen, Restaurant- und Clubbesuche, Einkäufe, Taxifahrten oder Visiten von Sehenswürdigkeiten gaben sie auf Gran Canaria, Teneriffa, Lanzarote, Fuerteventura und La Palma 16,278 Milliarden Euro aus. Das entspricht rund 80 Prozent des Bruttoeinkommens des Archipels. Die restlichen 20 Prozent generiert die Wirtschaft auf den Inseln durch den Export von Bananen, Tomaten und Pflanzen.

Gran Canaria erwischte mit 3,3 Millionen Touristen einen Viertel dieses Kuchens. Das Onlinemagazin infos-grancanaria.com sprach von einem „Top Jahr„.

Dann kam Corona. Kaum hatte sich der Virus auf der Insel eingenistet, schrieb dasselbe Portal von einem „Tourismus-Drama“; der Fremdenverkehr brach wegen der Pandemie um 80 Prozent zusammen.

Die Menschen auf Gran Canaria – und zwar nicht nur die paar tausend Trotzdem-Touristen und Überwinterer aus Deutschland, Skandinavien und der Schweiz, sondern auch und ganz besonders die vor oder in dem ökonomischen Abgrund stehenden Einheimischen – geben sich dennoch Tag für Tag die grösste Mühe, zumindest einen Hauch von Normalität aufrechtzuerhalten.

Die Vorschriften zum Schutz vor dieser Seuche sind um einiges schärfer als jene in der Schweiz. Die Polizei kontrolliert rund um die Uhr strikte, ob sie eingehalten werden. Die Regierung kommuniziert den Stand der Infektionsdinge sehr unregelmässig. Das iberische Gesundheitswesen hält einem Vergleich mit der in der Schweiz praktizierten Spitzenmedizin nur bedingt stand.

Das Leben mit Corona ist auf Gran Canaria also ein komplett ungewisseres, eingeschränkteres und perspektivenloseres als jenes zwischen Basel und Bellinzona und Genf und Rorschach. Der „Marathonlauf“, wie Bundesrat Alain Berset die Bewältigung der Krise nennt, ist hier mehr ein „Walk on the wild side“.

Trotzdem: Seit ich Ende Januar auf Gran Canaria landete, hörte ich niemanden jammern und sah ich niemanden querdenken. Ob beim Bummeln, Bierholen, Brustansatzbräunen, Busfahren und vermutlich – ich weiss es nicht, da sich das meist im intimen Rahmen abspielt – auch beim Bräteln auf dem Balkon: so gut wie jedermann und jedefrau trägt la máscara mit grösster Selbstverständlichkeit.

Die Leute sind nicht ständig damit beschäftigt, nach Schlupflöchern zu suchen, in denen die Regeln nicht gelten. Sie halten sich einfach an die Vorschriften, auch wenn sie einem – wie zum Beispiel das Rauchverbot in der Öffentlichkeit – weder auf Anhieb noch bei genauerem Drübernachdenken einleuchten.

Gespräche mit Tischnachbarn drehen sich nicht schon nach drei Sekunden um Covid-19, Mutanten und die total unfähige Regierung, sondern ums Wetter, die im Hintergrund dudelnde Musik, das schrullige Pärchen, das eben vorbeiflaniert ist, oder um die Lieben daheim.

Das alles hat, natürlich, viel mit Verdrängen zu tun und wird die Seuche nicht verschwinden lassen; weder von der Insel noch von der Erde noch aus den Gemütern noch aus den Köpfen.

Aber dieser Umgang mit der Krise führt immerhin dazu, dass das Dasein nicht rund um die Uhr von diesem gfürchigen Riesenthema dominiert wird. Er lässt immer wieder Strahlen der Normalität durch den Panzer des Surrealen blitzen, und wenn es sich dabei um Kunstlicht handelt: tant pis.

Dann freuen wir uns halt über den Schein, bis irgendwann wieder ein halbwegs normales Sein möglich ist.

Auf der Homeoffinsel (13)

Samstag, 13. Februar 2021, 16.10 Uhr

Zu den wichtigsten Leuten in „meinem“ Hotel gehört Eusebio. Er kümmert sich um die Sicherheit der Leute im Poolbereich – eigentlich.

Tatsächlich steht das Hotel aber nach wie vor fast leer. Ausser mir und einem weiteren Homeofficler aus dem Erzgebirge benutzt kein Mensch das Schwimmbecken. Das heisst: Eusebio passt die meiste Zeit darauf auf, dass null von null Gästen ertrinken.

Er geht dieser Aufgabe von 11 bis 18 Uhr Tag für Tag mit grosser Ernsthaftigkeit nach. Während der Arbeit trägt er lange Hosen, ein T-Shirt (oder, je nach Wetter: einen Pulli) mit der Aufschrift „S.O.S“ hintendrauf – und eine knallrote Corona-Schutzmasken; immer.

Wenn er seine Schicht beginnt, sitzt er mit seiner verspiegelten Top Gun-Sonnenbrille im Haar ganz entspannt auf dem für ihn reservierten Stuhl. Darunter stehen drei Köfferchen.

Doch ewig hält es ihn nie dort. Irgendwann schlendert er ein erstes Mal um das Becken. Diese Spaziergänge macht er am Anfang ungefähr jede halbe Stunde. Ab Mitte Nachmittag läuft er praktisch ununterbrochen im Kreis, wie früher die unterbeschäftigten Eisbären in den Zoos, nur ohne Zaungäste, die ihm Pinguine zuwerfen.

Ohne sein Handy würde Eusebio die langen, langen Schichten kaum überstehen. Manchmal guckt er ein Fussballspiel, gelegentlich hält er einen Schwatz.

Zehn Minuten vor Feierabend verschwindet er im Keller. Dort zieht er sich um. In Zivil geht er eine letzte Runde um den Pool – während seiner Abwesenheit hätte sich schliesslich wer weiss was ereignen können – , dann verlässt er das Areal.

Manchmal frage ich mich, was er wohl seiner Freundin antwortet, wenn sie ihn am Abend fragt, „Und? Wie war dein Tag, Schatz?“