„Unendlich traurig“

So wichtig und richtig das Besuchsverbot aus epidemiologischer und gesundheitspolitischer Sicht auch sein mag, so unmenschlich ist es.“

Am 14. Mai verstarb Theo Wernli, der Vater meiner Schwägerin Judith. Wegen Corona war es seinen Liebsten bis kurz vor seinem Tod nicht erlaubt, ihn im Spital zu besuchen. Nun hat Judith ihre Gedanken dazu auf Facebook veröffentlicht.

«’Und immer wieder schaue ich zur Tür, und ich weiss: Keiner von euch drückt diese Türfalle. Jeder, der ins Zimmer kommt, muss. Niemand will wirklich zu mir.

Das hat mein Papi (72) in den letzten Wochen immer wieder gesagt. 37 Tage im Spital zu sein, ohne seine Liebsten sehen zu dürfen, ist unendlich traurig. 37 lange Tage, ohne seinen Sohn oder seine Töchter zu Besuch zu haben. Ohne mit den Enkeln ganz feste ‚Drückis‘ zu machen. Erst, als es ihm so schlecht ging, dass er nicht mehr ansprechbar war, durften wir zu ihm. Leider auch in diesen 8 Tagen nur zwei Mal.

So wichtig und richtig das Besuchsverbot aus epidemiologischer und gesundheitspolitischer Sicht auch sein mag, so unmenschlich ist es. Ich hoffe ganz fest, dass es keine zweite Welle gibt. Aber wenn, dann braucht es für Spitäler, Pflegeheime, Altersheime usw. ‚kreative‘ Kompromisse, damit diese soziale Isolation von kranken und alten Menschen verhindert werden kann (Schnelltests, Schutzkleidung…).

Ein riesiges Danke allen Pflegerinnen und Pflegern, Ärztinnen und Ärzten im Spital – Sie haben unserem Vater viel Gutes getan und sich fest um ihn gekümmert. Danke auch fürs Vorlesen unserer Briefe und Karten und die Möglichkeit, jederzeit wenigstens anrufen zu dürfen um zu fragen, wie es ihm geht.

Lieber Papi, Du weisst, dass wir in den letzten Wochen nichts lieber getan hätten, als diese Türfalle zu drücken. Wir werden Dich nie vergessen und Dich immer in unseren Herzen tragen. Für immer uf dech!❤️

Geisterfahrt

Von einem Jahrhunderterlebnis zu sprechen, wäre übertrieben. Ein bisschen besonders wars allerdings schon, als ich mich gestern zum ersten Mal seit Mitte März wieder einmal von den SBB von A nach B chauffieren liess.

Bahnfahren während Corona – das fägt: Es gibt kein Ellbögle auf den Perrons, keine Verspätungen und kein Gstungg in den Gängen. Jeder und jede kann sich alleine in einem Viererabteil verschanzen und die übrigen drei Plätze mit seinen Siebensachen belegen, ohne, dass jemand mit hochgezogenen Augenbrauen auf den Rucksack auf dem Fenstersitz zeigt und ostentativ fragt, „ist hier noch frei?“

In meinem Wagen sassen noch zwei Frauen und ein weiterer Mann. Weiter hinten und vorne sahs ähnlich aus – und das nicht in der Bündner Pampa, sondern auf der Hauptverkehrsachse zwischen Bern und Zürich. Bei den Zwischenstopps kam es gelegentlich zu Wechseln in der Besetzung. An der Anzahl der Passagiere änderte sich jedoch nur wenig.

In der Schule lernten wir, dass Olten „der Verkehrsknotenpunkt der Schweiz“ sei. Das mag in technisch-logistischer Hinsicht nach wie vor stimmen. Aber sonst?

Nunja:

Abgesehen vom Personal war kaum jemand maskiert unterwegs. Die Leute mit Mundschutz liessen jene, welche oben ohne an ihnen vorbeigingen, mit Blicken spüren, was sie von dieser potenziell tödlichen Nachlässigkeit halten.

Wer sich räuspern oder – bhüetis! – husten musste, versuchte, das möglichst diskret zu tun, zog die Aufmerksamkeit der Mitreisenden damit natürlich aber erst recht auf sich.

Gesprochen wurde kein Wort, doch das war ja schon so, bevor Covid-19 einen grossen Teil unserer Gewohnheiten in Erinnerungen verwandelte. Auffallend war, dass es auch niemand als nötig erachtete, die Lieben zuhause fernmündlich und auch für den Lokführer hörbar allpott über den aktuellen Standort zu informieren („Hoi Schatz! Störe ich gerade? Sorry demfall. Ich wollte nur sagen: Ich bin gleich in Aarau. Bis später. Ich dich auch.“).

Statt nach Knoblauch, Curry und Schweiss roch es nach nichts. Alles wirkte abweisend und steril und folglich wohl genauso, wie vom Bundesamt für Gesundheitswesen beabsichtigt.

Die Bahnhöfe waren so gut wie menschenleer. Die Lautsprecherdurchsagen verhallten im Nichts. „I’m a ghost living in a ghost town“, wundert sich Mick Jagger in dem Song, den er mit seinen Rolling Stones nach einem Spaziergang durch das gedownlockte London aus dem Ärmel schüttelte. Genauso fühlte auch ich mich (also: wie ein Geist, nicht wie Mick Jagger).

Trotzdem – oder gerade deshalb – mussdarf ich nach dieser Premiere sagen: So entspannend wie heute war das Zugreisen vermutlich noch nie.

Auffahrt zum Herunterfahren

Hundert Stunden Nichtstunmüssen: Wie habe ich mich danach gesehnt! Dank des langen Auffahrtswochenendes komme ich endlich dazu, meine inzwischen nicht mehr ganz neue Wohnung zu inspizieren, gründlich zu putzen, den Ghüder zu entsorgen und den einen oder anderen der vielen Filme zu geniessen, die sich in meiner Swisscom-Box arbeitsbedingt immer höher stapeln.

Einen schönen Teil der vielen freien Zeit werde ich tagsüber schlossbestaunend auf dem Balkon und nächtens batterienaufladend im Bett verbringen (oder umgekehrt), und falls alles läuft, wie es laufen sollte, bleibt mir sogar noch ein Eggeli Zeit, in dem ich mir zur Abwechslung von all den Auswärtsfuttereien der letzten Monate wieder einmal selber etwas kochen kann.

Auch die Leute in meinem Quartier scheinen die kurze Pause vom Alltag zu schätzen: In der Burgdorfer Altstadt herrscht eine Ruhe wie schon ewig nicht mehr, dabei ist die Auffahrt noch keine fünf Stunden alt.

Die Normalität des Abnormalen

Es fliesst nach wie vor recht gemächlich dahin, das Leben, wie „Der lange, ruhige Fluss“ von Étienne Chatiliez (diesen Film habe ich nie gesehen, aber immerhin weiss ich, dass er eine Familie porträtiert, bei der sich alles um den Fernseher dreht, und von daher passt er gar nicht schlecht in die langsam zu Tode bemühten „Zeiten wie diese“), und alles ist wieder gut oder zumindest dabei, besser zu werden, ausser in Basel,

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aber wenn wundert das bei einem Stamm, dessen Angehörige in grosses Wehklagen ausbrechen, wenn sie einmal in zweitausend Jahren darauf verzichten müssen, Ende Winter in aller Herrgottsfrühe piccolölend und trümmelend durch die Gassen zu wanken, und die ausser inhaftierten Tieren und einem Tennisspieler nichts haben, womit sie vor dem Rest der Welt bluffen können, oder ämu sehr viel weniger als, sagen wir, Burgdorf mit seiner Altstadt und dem Schloss und überhaupt?

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Imposanter als jedes Zoozebra: das Schloss aller Schlösser.

Nadisna kehren die Leute aus ihren Home Offices an die Arbeit in ihre Büros zurück. Das dürfte nicht allen gleich leicht fallen: Der eine oder die andere hat sich mit seinen Aktenstapeln und ihren Kundendossiers in den letzten zwei Monaten womöglich so gäbig zwischen Schlafzimmer und Küche eingerichtet, dass er oder sie keinen Grund für ein übereiltes Comeback im vom Chef überwachten Massenschlag sieht.

Meine Zeit als Dauerheimwerker ist ebenfalls abgelaufen, aber ich kann meine geschäftlichen Habseligkeiten im Gegensatz zu vielen anderen Erwerbstätigen freiwillig und ohne nennenswerte Gemütlichkeitseinbussen von hier nach dort verlegen:

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Home Office, extended Version.

Wie wird das wohl sein in einigen Jahren, wenn die Eltern ihren Kindern von früher erzählen? „Weisst du, Max: Bevor wir dich an einem dieser langweiligen Aprilnachmittage des Jahres 2020 eher versehentlich zeugten, weil uns das ewige Netflixen grad etwas verleidet war, gab es sogenannte Festivals, an denen Tausende von Menschen miteinander Musik hörten, und glaubs oder nicht: zur Begrüssung küssten sich auch wildfremde Leute dreimal auf die Wangen.“

Was wir zu Jahresbeginn noch als undenkbar abgetan hätten, wurde fast über Nacht Wirklichkeit. Das Abnormale von gestern ist die Normalität von heute (und morgen. Und übermorgen. Und so weiter). Die Markierungen, mit denen wir in den Beizen, in den Läden und auf den Märkten seit Kurzem auf Abstand gehalten werden, sind bald überflüssig. Die meisten von uns haben sich bereits daran gewöhnt, einander distanziert zu begegnen, aufs Händereichen zu verzichten und schriftlich oder in Videokonferenzen zu klären, was sie zuvor von Angesicht zu Angesicht regeln konnten.

Dadurch sind die Infektionszahlen rapide gesunken, doch irgendwie mag ich mich trotzdem nicht recht darüber freuen, dass wir diese Massnahmen schon soweit verinnerlicht haben, dass sie uns als alltäglich erscheinen.

Sie sorgen zwar für Sicherheit. Aber auch dafür, dass sich der Frühsommer 2020 seltsam kühl anfühlt.

„Es gab eine Zeit, lieber Max, in der die Menschen nicht ängstlich durch die Bahnhöfe hasteten, und manchmal dicht an dicht nebeneinander standen, um schöne Musik zu geniessen.“

Dunkle Seiten

Seit bald einer Woche habe ich einen Mann aus einem Haus gegenüber nicht mehr aus dem Fenster gucken sehen. Die Läden sind geschlossen und die Wand dahinter macht ganz den Eindruck, als ob sie ein paar Streicheinheiten vertragen könnte.

Jetzt stecke ich in einem Delirium: Macht man sich in so einem Fall Sorgen (gelebte Nachbarschaftshilfe braucht sich ja nicht darin zu erschöpfen, Angehörigen von Risikogruppen regelmässig seine Essensreste vor die Türe zu kippen), oder geht man einfach davon aus, dass auch in einer abgedunkelten Wohnung alles in Ordnung sein kann?

Bis am nächsten Freitag rede ich mir nun einfach ein, dass der Herr vor lauter Lockdown-Lockerung eine gottsjämmerliche Migräneattacke erlitt, die nur im Stockfinsteren halbwegs aushaltbar ist. Wenn bis dann kein menschliches Antlitz zu sehen sein sollte, alarmiere ich die Maler.

Noch fast mehr Bedenken habe ich, was die Zukunft von uns allen betrifft, und zwar: Als Webmaster der Minigolf Burgdorf AG erachtete ich es gestern als meine Pflicht, den Freundinnen und Freunden dieses Spielparadieslis auf dessen Facebookseite mitzuteilen, weshalb sie ihrem Hobby frühestens ab dem 8. Juni wieder frönen können.

Um meine Worte mit etwas Zusatzgewicht zu beschweren, stellte ich dazu einen Brief online, den die Wirtschafts-, Energie- und Umweltdirektion den Betreibern der Anlage geschrieben hatte.

Die Tinte auf dem Bildschirm war noch am Trocknen, als die Nachricht auch schon kommentiert wurde:

Wenn ich noch trinken würde – ich hätte spontan zur Flasche gegriffen. Aber weil ich ein vernünftiger Hannes bin, beliess ich es dabei, meinen Kopf ein paar Mal mit Anlauf auf den Schreibtisch zu hauen.

Burgdorf feierte am Wochenende ein kleines Comeback: der Samstagsmarkt ist wieder da. Gemüse, Käse, Brote und so weiter und so fort sind ab sofort wieder openair zu haben, wenn auch unter etwas erschwerten Bedingungen. Mit Markierungen, Schildern, Seilen und anderen Mitteln wurden die Menschenströme coronakompatibel kanalisiert.

An die meisten dieser Massnahmen habe ich mich gewöhnt, an andere noch nicht ganz. Jedesmal, wenn ich ein rotes Absperrband sehe, wähne ich mich in einem Krimi, nur ohne Leiche und einen Kommissar, der zu seinem Assistenten sagt, „Schlag auf den Hinterkopf mit einem stumpfen Gegenstand. Das waren Profis. Geh mal die Leute fragen, vielleicht hat wer was gesehen“, worauf der Assistent, dessen Freundin die Nacht mit dem Kommissar verbracht hat, was der Assistent aber erst im Laufe der Ermittlungen und natürlich als Letzter erfahren wird, missmutig von dannen zottelt und in einem abgewrackten Mehrfamilienhaus alsbald vor einem Mann in ausgeleierten Feinrippunterhosen und schmuddeligem T-Shirt steht, der lallt, er sei gerade dabei, Buchhaltungsarbeiten für die Firma XY zu erledigen, und der frustrierte Vize-CEO welcher Firma steckt, wie sich in den letzten drei Minuten herausstellt, wohl hinter dem Mord, welcheriwelcher?

Jedenfalls: Ich scheine nicht der einzige zu sein, der mit diesen Bändern chly Mühe hat. Ein Beizer in Downtown Burgdorf empfindet offensichtlich ähnlich, weshalb er die Benutzer (die weibliche Form kann ich mir in diesem Zusammenhang glaub schenken ohne zu riskieren, in einen Tschendershitstorm zu geraten) der Versäuberungszelle seines Restaurants mit anderen Mitteln auf Distanz hält:

Es dürfte nicht lange dauern, bis sich Männer, deren Blasen nicht mehr über die Power einer Feuerwehrspritze verfügen, auf dem Bundesplatz zusammenrotten, um schweigend gegen diese menschenunwürdigen Bedingungen zu protestieren und dabei Kartonschilder mit der Aufschrift „So ein Seich“ hochzuhalten.