Die neue Virklichkeit (47)

Eben tanzte man im Partykeller noch unbeschwert und voller Hoffnung mit T.B. aus R., doch am nächsten Morgen stellten sich Fragen, die bleischwer auf dem ganzen Sonntag lagen.

„Immer wieder sonntags
kommt die Erinnerung
dubdidubdidubdub dub.“


(Cindy & Bert, 1973. Für Unerschrockene: hier ist der Link zum Lied)

Tja: Was für Erinnerungen sind es denn, die sich immer wieder sonntags in unsere Köpfe schleichen und von dort aus durch die verwinkelten Gänge unserer Gemüter krabbeln?

Nicht nur schöne jedenfalls, aber dafür können die Sonntage weniger als die bier- und bacardigeschwängerten Samstage zuvor, die sich bisweilen bis tief in die Nacht hinzogen, damals, an idyllischen See- und Flussufern oder in verqualmten Partykellern, in denen wir andächtig der für uns ganz neuen Klänge von AC/DC lauschten und in denen wir erlickten, welch mannigfaltige Freuden einem das Tanzen bereiten kann, solange es geschlossen praktiziert wird, und an dieser Stelle, einfach, damits mal gesagt ist: tuusig Dank für alles, Barclay James Harvest!

Den Preis für dieses ausschweifende Tun inklusive Flaschendrehen mit Scharf und allem bezahlten wir wenig später – nämlich, eben, am Sonntag – mit Katern, Kollern und Kummer: Würde es mit T. B. aus R. wohl so weitergehen, wie es Stunden zuvor geendet hatte, und wenn ja, für zwei Tage, drei Monate oder amänd gar für den Rest des Lebens? Hätte sie gerne eine Wohnung in der Stadt oder ein Häuschen am Waldrand? Will sie zwei Kinder haben? Drei? Oder gar keine, dafür einen Hamster?

Und was ist überhaupt mit F., mit dem sie gemäss Augenzeugen schon mehr als einmal und alles andere als widerwillig wirkend auf eine Art und Weise zugange war, die moralisch und sittlich gefestigtere Jungbürger höchstens aus „Bravo“-Fotoromanen und Dr. Sommer-Beratungen kennen?

So betrachtet…aber ich schweife ab. Jedenfalls könnte man mit der Clique von damals heute Sonntag nicht einmal eine Runde Minigolf spielen gehen, ohne spätestens auf der dritten Bahn wegen Missachtung des Versammlungsverbotes verhaftet zu werden, und nachdem wir dem Barclay James Harvest-Alter inzwischen ziemlich entwachsen sind und uns damit abgefunden haben, dass die T.B’s. dieser Welt längst anderweitig liiert sind, bleibt uns wenig anderes übrig, als die Sonntage als das zu betrachten, was sie sind: hundskommune Tage wie alle anderen auch, nur mit einem Sonn vornedran statt mit einem Wochen.

A propos „ziemlich“: Ziemlich seltsam ist, dass die Leute je früher aufstehen, desto länger Corona dauert, obwohl viele von ihnen dank des Virus ausschlafen könnten, solange sie wollen, und zwar nicht nur an Sonntagen.

Bevor es mit dem Hausarrest losging, schauten die ersten Besucherinnen und Besucher meist erst gegen 8 oder 9 Uhr in diesem Blog vorbei. Jetzt stehen manche schon in aller Herrgottsfrühe vor der Türe meines virtuellen Stübchens, wie ein Blick auf die Statisik zeigt:

Vermutlich hat das damit zu tun, dass den Menschen das Zeitgefühl immer mehr abhanden kommt. Und damit, dass es für viele Leserinnen und Leser längst keine Rolle mehr spielt, ob sie, wenns langsam hell wird, taufrisch ins Badezimmer hüpfen oder rundumzerknittert zum Kühlschrank schlurfen und von hier wie dort wieder zurück ins Bett.

Aber mit diesem Herumgeflohnere ist es ja bald vorbei. Noch achtmal schlafen und schwupp – erwachen wir aus dem Traum oder Albtraum namens „Lockdown“.

In der Burgdorfer Altstadt – und möglicherweise auch andernorts in der Schweiz – sind die Angehörigen der Gastrogilde, die Ladenbesitzer und die Boutiquenbetreiberinnen schon emsig dabei, ihre Lokale für den 11. Mai aller 11. Maie mit ebensoviel Liebe wie Vorfreude herauszuputzen und, nur ganz leise mit den Zähnen knirschend, coronamässig umzurüsten.

Die Stimmung ähnelt ein wenig jener vor dem Eidgenössischen Schwingfest in Burgdorf: Es liegt eine Art Sirren in der Luft, das von Tag zu Tag stärker wird.

Über 50 000 Menschen sassen während des Schlussgangs zwischen Matthias Sempach und Christian Stucki damals Schulter an Schulter in der Arena. Millionen verfolgten das Finale am Fernsehen. Friedlich wars, die ganze Zeit, und freundschaftlich und fröhlich.

Auf Platz 168 in Reihe 7 im Sektor A5 verbrachte ich am 1. September 2013 einen Sonntag, an den die Erinnerungen gerne immer wieder kommen können, dubdidubdidubdub dub.

Fünfeinhalb Minuten Augenwasser: Im Wundersommer 2013 fand in Burgdorf – wo sonst? – das mit Abstand perfekteste „Eidgenössische“ aller Zeiten und Welten statt.

Die neue Virklichkeit (46)

Ob grün, gelb, rot oder blau: Pam kann alles.

Sooli: Das zweitletzte Wochenende des ersten Lockdowns läuft. Von mir aus kann kommen, was will – ich stelle mich jeder Herausforderung (ausser Facebook-Challenges) strotzend vor Energie.

Das habe ich der superduper Küchenmaschine zu verdanken, die unmittelbar vor der Schliessung der Grenzen noch über den Zoll huschen konnte. Kaum hatte ich sie ausgepackt und ihre vier Millionen einzelverpackten Teile im Verlauf von nur drei Wochen zusammengesetzt, wusste ich: diese Liebe hält, bis ein Kurzschluss uns scheidet.

„Day and night you’re the precious jewel I treasure“: Das flüstere ich Pamela – so taufte ich sie, nach einem Song der besten Band der Welt, in dem dieser Satz ebenfalls vorkommt, aber inzwischen nenne ich sie meist nur „Pam“ – öppedie zu, wenn ich im Schneidersitz stundenlang vor ihr höckle und ihr dabei zuschaue, wie sie sich, das Kabel locker um die Hüfte geschlungen, geräuschlos schlafend von der Arbeit erholt.

An Büez ist kein Mangel, denn Pam kann alles: Suppen bereitet sie ebenso in Windeseile zu wie Saucen oder Smoothies. Mischen, häckseln, raffeln, hobeln, kneten: You name it, she does it. Sie filetiert auch grobe Fleischstücke mit der Akkuratesse eines Hannibal Lecter, rührt Teig, schlägt Rahm, saugt Staub, giesst die Pflanzen, erledigt sämtliche Einkäufe, wäscht Wäsche bis und mit 90 Grad im Schatten und wird mir an gesellschaftlichen Anlässen, sobald es wieder gesellschaftliche Anlässe gibt, eine charmant-diskrete Begleiterin sein.

Der Gefahr, sie wegen all ihrer Fähigkeiten zu überfordern, bin ich mir natürlich bewusst. Deshalb lasse ich sie nicht rund um die Uhr für mich chrampfen, sondern eigentlich nur, wenn ich Lust auf ein sämiges Fruchtgetränk habe.

Die Grundlage dafür bilden immer zwei Bananen. Dazu gebe ich wahlweise oder manchmal auch miteinander einen halben Apfel, ein Früchte- oder Naturejoghurt, ein Mü Vanillepulver, einen Schprutz Zitronensaft und einen Liter Milch. Dann drehe ich das Rädli an Pams Bauch sanft nach rechts, worauf sie die Ingen Ingwe Insta Zutaten innerthalb von zwei bis drei Minuten leise surrend atomisiert. Am Ende entledige ich sie ihres Oberteils, stelle es in den Kühlschrank und vergitzle fast vor Vorfreude darauf, dass die flüssige Geschmacksbombe in meinem Gaumen explodiert.

Jede Menge weiterer Rezepte gibts hier.

Hach, Montreux!

Eigentlich wäre ich in diesem Juli gerne wieder einmal an die Gestade des Genfersees gefahren, um mir die eine oder andere Grösse und diese oder jene Neuendeckung anzuhören und -schauen, aber auch aus dieser Grossveranstaltung wird coronabedingt nichts.

Als jemand, der der Bevölkerung der Stadt Burgdorf neulich schonend beibringen musste, dass der Altstadtleist wegen Covid-19 auf die Vergabe des Altstadtpreises 2020 verzichte, kann ich bestens nachvollziehen, wie es den vor den Trümmern ihrer Arbeit stehenden OK-Kollegen in Montreux gerade zumute sein muss. Je suis en pensées chez vous, et si vous voulez en parler: +41 76 537 74 84.

Zum Schluss noch eine gute Nachricht: Der Burgdorfer Ferienpass 2020 findet – wenn auch coronakompatibel modifiziert – statt.

Burgdorf ist heuer damit die einzige Stadt auf dem Globus, in der in zwei Sommerwochen mehr los ist als im März, April und Mai zusammen.

Falls ähnliche Aktivitäten auch anderswo geplant sein wollten, nähme ich die im vorherigen Abschnitt aufgestellte Behauptung, einen Aschenbecher nach dem anderen über meinem Haupt ausleerend, natürlich auf der Stelle zurück, würde aber trotzdem darauf hinweisen, dass Burgdorf jene Stadt ist und bleibt, welche einfach alles hat, plus ein Schloss, und dass es nirgendwo mehr fägt, einen mehrwöchigen Hausarrest abzusitzen, als in der paradiesischen Zähringercity im idylischen Emmental, where the grass is green and the cows are pretty.

Die neue Virklichkeit (45)

Die grosse Zeit der Imnachhinein-Besserwisser: Wenn die Schweiz im Sommer zum zweiten Mal gedownlockt würde, wäre daran nach Ansicht der Oberlehrer der Nation primär der Bundesrat schuld.

Mit meinen eigenen Augen habe ichs nicht gesehen. Aber es gibt keinen Grund, an den Erzählungen von Freunden, die da waren, zu zweifeln.

Als sie berichteten, wie es in einem Burgdorfer Geschäft für Waren aller Art zu- und herging, als es am Montag zum ersten Mal wieder geöffnet war, lief es mir kalt über den Rücken: Vor der Türe seien sich die Kundinnen und Kunden bis auf den Parkplatz auf den Füssen herumgestanden. Drinnen habe ein Gedränge geherrscht wie sonst nur beim Ausverkauf bei H&M. Trennscheiben an der Kasse hätten ebenso gefehlt wie Masken vor den Mündern der Angestellten.

Der grossen Lockdown-Lockerung, die der Bundesrat für den 11. Mai in Aussicht gestellt hat, blicke ich deshalb mit einiger Skepsis entgegen. Wenn die primitivsten Vorsichtsmassnahmen schon in einem Laden ignoriert werden, der ohne übermässigen Aufwand coronakompatibel betrieben werden kann – worauf muss man sich dann beim Hochfahren eines ganzen Landes gefasstmachen?

Für mich passt das einfach nicht zusammen: Einerseits halten sich Millionen von Leuten beinahe zwei Monate lang an die Verordnungen der Regierung. Sie stellen ihre Alltage von Grund auf um, verlegen ihre Arbeitsplätze ins traute Heim, gehen nur wenn nötig nach draussen und kümmern sich um Mitmenschen, von denen sie bis vor Kurzem höchstens den Nachnamen kannten.

Aber an dem Tag, an dem die Baumärkte ihre Schiebetüren entriegeln, belagern Tausende und Abertausende dieser vermeintlich vernünftigen und verantwortungsbewussten Zeitgenossen schon in aller Herrgottsfrühe die Obis, Hornbachs, Jumbos und Do-its, weil der Kauf eines neuen Akkubohrers keinen Tag länger Aufschub duldet.

Sie stürmen die Gartencenter und Landifilialen, als ob es ab morgen keinen Mulch und keine Schüfeli mehr gäbe, und wenn sie auch nur gerüchteweise vernehmen würden, dass ein Coiffeur in Sargans zwischen 14.45 und 15 Uhr noch einen Termin frei hat, würden sie auf der Stelle in Richtung Ostschweiz losfahren.

Diese Leute werden vor ihrer Lieblingsbeiz also schon bald mit zwei Metern Abstand voneinander warten, bis ein Tisch frei wird? Sich die Hände desinfizieren, bevor sie auf den Markt gehen, um jede Zucchetti einzeln auf ihre Reife abzutatschen? Bei Museumsbesuchen auf die Markierungen am Boden achten?

Aber gewiss doch.

Wegen dieser Lockerungen – beziehungsweise: wegen der Art und Weise, wie die Menschen damit umgehen – könnte Ende Juli gemäss Experten die zweite Infektionswelle über die Schweiz schwappen. Daraufhin würde die Nation erneut ins Wachkoma versetzt.

Für jene, welche dafür massgeblich mitverantwortlich sein werden, wäre das dann der ultimative Beweis dafür, dass der Bundesrat im Kampf gegen Covid-19 alles falsch macht, was er falschmachen kann.

Die neue Virklichkeit (44)

Jemand muss es ja machen: Tess inspiziert die Metzgerei Hori in Burgdorf.

Corona und seine Auswirkungen auf die Psyche der Tiere: Das ist, glaube ich, ein von der Wissenschaft noch weitgehend ungepflügtes Feld, aber damit eilt es ja nicht; im Moment gibt es sicher noch Wichtigeres zu erforschen.

Physisch scheint alles klar zu sein: In der Schweiz stellen Tiere für Menschen kein Infektionsrisiko dar. Sie verbreiten das Virus, zumindest hierzulande, nicht weiter, wie das Bundesamt für Gesundheit schreibt.

Aber: Reden Katzen, wenn sie sich auf einem Dach treffen, genauso automatisch über die Seuche wie die Menschen von Balkon zu Balkon? Zwitschern die Spatzen einander frühmorgens die neusten Infektionszahlen zu? Achten Goldfische in ihren Gläsern pingelig darauf, voneinander zwei Meter Abstand zu halten?

Anzeichen dafür, dass Häftlinge in Zoos sich anders verhalten als vor dem Einmarsch der Truppen des allmächtigen Covid-19, gibt es. Die Affen zum Beispiel würden normalerweise intensiv den Besucherinnen und Besuchern zuschauen, sagte Kurator Adrian Baumeyer vom Basler Zolli gegenüber dem St. Galler Tagblatt. Jetzt, wo die engsten Verwandten wegblieben, mache sich bei ihnen Langeweile breit.

Die Zebras seien ständig am Beobachten, wer an ihrem Gehege vorbeigeht. Das habe mit den Instinkten zu tun: Ihre natürlichen Feinde würden nie in Herden auftreten. Bei den paar wenigen Leuten, die nun durch die Anlage schlendern, wüssten sie deshalb nie, ob es sich um harmlose Gäste oder blutrünstige Jäger handelt.

Für Hunde und Katzen herrschen aktuell paradiesische Zustände: Ihre Chefinnen und Chefs verbringen ihre Zeit im Home Office oder – die Übergänge mögen in Einzelfällen fliessend sein – vor dem Fernseher, die Kinder haben ebenfalls Hausarrest. Eine Rundumdieuhr-Bespassung ist also gewährleistet.

Der einen Freud ist der anderen Angst: Unzählige Betreiberinnen und Betreiber von Tierhorten und -hotels liegen, von Existenzsorgen geplagt, seit vielen Nächten wach, weil ihnen ein grosser Teil ihrer Kundschaft abhanden kam.

Nicht nur die Tierhalterinnen und -halter nutzen die Zwangspause, um mehr Zeit mit ihren Lieblingen zu verbringen. Auch Menschen, die selber keine Haustiere haben, werden immer öfter in vierbeiniger Begleitung gesichtet. Sie leihen sich regelmässig den Hund des Nachbarn aus, um die eigenen vier Wände allen bundesrätlichen Weisungen zum Trotz für ein Stündchen verlassen zu dürfen, ohne dafür böse Blicke zu ernten.

Von dem Bedürfnis nach Bewegung und frischer Luft profitieren Krisengewinnler in Spanien: Die sogenannten Opportunistas Coronas vermieten Hunde für Spaziergänge. Falls dieses Modell Schule macht, müssen junge Leute, die sich ihr Studium bisher damit finanzierten, anderer Leute Dackel, Labradore oder Golden Retrievers auszuführen, sich bald nach alternativen Einkommensquellen umsehen.

Für einige von ihnen dürfte das kein Problem sein: Wer sich mit Vögeln statt mit Hunden das eine und andere Nötli hinzuverdienen will, meldet sich einfach beim nächstbesten Escortservice.

Was Tess betrifft: Abgesehen davon, dass sie rund um die Uhr befürchtet, in den nächsten zehn Minuten elendiglich zu verhungern – dieses Gefühl hat aber nichts mit Viren zu tun; das kennt sie seit dem Tag ihrer Geburt – geht es ihr prächtig.

Gestern feierte sie ein Wiedersehen mit Hans-Peter Horisberger. Der Burgdorfer Metzger zählt seit jeher zu ihren allerbesten Kumpels und weiss, was er zu tun hat, um sich ihre Gunst zu erhalten: Kaum hatte er die Meite auf dem Parkplatz hinter seinem Laden entdeckt, eilte er zur Auslage und holte für sie eine Hampfele Ghackets.

Tiptopp zwäg ist auch Tess‘ Freundin Nanuk aus dem aargauischen Fricktal. Sie beugte Futterengpässen vor, indem sie unmittelbar nach dem Lockdown begann, Toilettenpapier gegen Gudis einzutauschen.

Zwei Rollen WC-Papier für ein Stück getrockneter Rinderlunge: Nanuk weiss, wie hund auch in Krisenzeiten nie hungert. (Bild: Sarah Bergmann und Pascal Grütter)

Die neue Virklichkeit (43)

„Ich frage mich manchmal, ob wir für das, was wir vor Corona hatten, genügend dankbar waren“, sagt Christian Häni, der Chef der Berner Mundartband Halunke. (Bild: Marc Riesen, mrphoto.ch)

Während ich auch gestern lebenrettend daheimsass, fragte ich mich auf einmal, was eigentlich Popmusiker machen, wenn sie Hausarrest haben. Um das zu klären, rief ich Christian Häni, den Gründer und Kopf der Berner Mundartband Halunke, an. Weils grad in Einem zuging, besprachen wir gleich das grosse Ganze.

Heute hier, morgen da: Bis es mit Corona losging, waren Musikerinnen und Musiker ständig unterwegs. Wie ist das jetzt?

Christian Häni: Eigentlich wie sonst, nur ohne Konzerte.

Das heisst…

…wir versuchen, ganz normal weiterzuarbeiten. Natürlich fehlen uns die Auftritte und die Begegnungen mit den Menschen, die an unsere Konzerte kommen, sehr. Aber das ist nur ein Teil unserer Büez. Wir sind unsere eigene Plattenfirma, kümmern uns selber ums Marketing und komponieren und produzieren für andere Künstler. Um unsere Fans bei Laune zu halten, sind wir auch intensiv auf Social Media-Kanälen aktiv.

„Wir“: Das sind in erster Linie deine Frau Anja und du.

Richtig.

Dass ihr – anders als viele andere – nicht einfach die Zeit totschlagt, zeigtet ihr letzte Woche: Am Freitag erschien eure neue Single „240 Tusig“.

Ja, aber die war schon im Februar fertig. Damals legten wir fest, dass wir sie am 24. April veröffentlichen werden. In den letzten Wochen haben wir häufig darüber nachgedacht, ob jetzt, mitten in dieser Krise, wirklich der richtige Zeitpunkt sei, um ein Lied unter die Leute zu bringen, das sich inhaltlich null mit der aktuellen Situation befasst. Doch dann fanden wir: das passt tiptopp. Die Menschen sind ja tagein und -aus mit schweren Themen konfrontiert. Da kann etwas Leichtes zwischendurch sicher nicht schaden.

240 Tusig“ ist ein Liebeslied.

Genau.

Wieso komponieren Popmusiker eigentlich immer Liebeslieder?

Vermutlich, weil die Liebe etwas ist, woran sich alle festhalten können. Liebe kann man für einen Menschen genauso empfinden wie für einen Ort oder einem Gegenstand. Ich schätze, dass sich 90 Prozent aller Songs, die je geschrieben worden, um die Liebe, das Weggehen und das Zurückkehren drehen. Jeder und jede, der sich damit beschäftigt, findet dazu einen anderen Zugang. Das finde ich sehr spannend.

Wann erscheint euer Corona-Song?

Ich glaube, nie. Ich bin der Falsche dafür. Ganz am Anfang, als sich Covid-19 der Schweiz näherte, überlegte ich mir gelegentlich, wie ich all die Gedanken, die mir dabei durch den Kopf gingen, in einen Song packen könnte. Aber dann sagte ich mir, dass das die Lage kaum verbessern würde, und dass ich deshalb ohne Weiteres darauf verzichten kann, sie musikalisch zu verwerten.

Aber angenommen, du würdest ein Lied über Corona schreiben: Gäbe das eine traurige Ballade oder etwas aufstellend Lüpfiges?

Wahrscheinlich hätte das Lied einen sentimentalen Unterton. Ziemlich sicher ginge es textlich in Richtung Sehnsucht, Fernweh oder Hinterhertrauern. Ich frage mich manchmal, ob wir für das, was wir vor Corona hatten, genügend dankbar waren. Das würde sicher durchschimmern. Wenn ich den Song jetzt schreiben würde, könnte er nach Reggae oder Punk klingen. Reggae gäbe den Sorgen und Sörgelchen, die uns seit spätestens Mitte März umtreiben, eine ironische Note. Punk würde die Ängste, den Ärger und den Frust, den alle mehr oder weniger ausgeprägt verspüren, unterstreichen.

Aber, eben: Dieses Lied werden die Halunke nie spielen.

Nein.

Weil es nichts brächte.

Was etwas bringt, ist, sich an die Vorgaben und Regeln der Leute halten, die etwas zu sagen haben. Diese Leute machen das übrigens super.

Wie kreativ kann man sein, wenn man rund um die Uhr zuhause sitzt?

Das ist für uns kein Problem. Grundsätzlich gilt: Je dunkler die Zeiten, desto kreativer werde ich. Und: Je neugieriger jemand von Natur aus ist, desto leichter fällt es ihm oder ihr, diese Neugierde in Ideen zu verwandeln.

Wie verbringst du deine Tage?

Ich stehe jeden Morgen früh auf, wobei „früh“ heisst: gegen 10 Uhr. Dann gehe ich zwei Stunden mit Shaila, unserem Hund, spazieren, treibe Sport, koche und so weiter. Wir haben in unserer Wohnung ein Tonstudiöli. Darin tüfteln wir stundenlang an neuen Liedern herum. Dort entdeckte ich neulich auch meine böse Seite: Etwas Technisches funktionierte nicht, wie ich mir das vorgestellt hatte. Das machte mich richtig hässig.

A propos „hässig“: Seit bald zwei Monaten höcklen Anja und du quasi eingesperrt aufeinander. Habt ihr euch in dieser Zeit schon einmal so richtig gestritten?

(Lacht) Nicht häufiger als normal. Nein, ernsthaft: Dass wir ständig zusammensind, ist für uns nichts Neues. Wir unternahmen schon immer das meiste gemeinsam. Wir haben einen praktisch identischen Freundeskreis, und ich bin überhaupt nicht der Typ, der sich mit seinen Kumpels jede Woche zu einem Männerabend treffen muss.

In diesem Jahr werden die Halunke zehnjährig. Gross feiern könnt ihr dieses Jubiläum nicht.

Nein.

Wieviele Konzerte musstet ihr wegen Corona absagen?

Alle. Insgesamt wurden ungefähr 30 Auftritte gestrichen. Neben den grossen Openairs sind auch Engagements an der Bingo-Show von Beat Schlatter, an Hochzeiten oder an anderen Privatanlässen betroffen. Unser erstes Konzert des Jubiläumsjahres gaben wir am 1. Januar am „Touch the Mountains“ in Interlaken. Das war mit 28 000 Zuschauerinnen und Zuschauern unser bisher grösster Auftritt – und vielleicht auch unser letzter. Wenn das so sein sollte, wäre es wenigstens ein toller Abschluss unserer Karriere gewesen.

Wird in diesem Jahr noch irgendjemand irgendein Konzert besuchen können?

Der Sommer dürfte gelaufen sein. Aber vielleicht gibt es im Herbst wieder Clubgigs vor 100 bis 150 Leuten. Das wäre dann aber wohl schon das höchste der Gefühle. Wir hoffen jedenfalls weiter: Im November möchten wir eine Jubiläums-Clubtour spielen.

„Natürlich fehlen uns die Auftritte und die Begegnungen mit den Menschen, die an unsere Konzerte kommen, sehr.“

(Weitere Infos über die Halunke gibts hier.)