Die neue Virklichkeit (37)

„Möge der Morgen dich freundlich wecken und dich nicht mit einer dunklen Botschaft erschrecken“: So lautet ein altirischer Segenswunsch, aber irgendwann musste ich ja wieder einmal einen Blick ins Fanpostfach werfen, und das konnte ich heute Morgen genausogut tun wie am Mittag oder, sagen wir, am Abend.

Ganze vier Zuschriften wurden darin seit der letzten Leerung deponiert. Drei von ihnen drehten sich nicht ganz unerwarteterweise um das Thema „Solätte“.

Gott Helf teilte mit: „Viele Beizer machen an der Solätte 1/3 ihres Jahreseinkommens. Nur schon wegen ihnen hätte man die Solätte durchführen müssen. Von den Kindern ganz zu schweigen.“

Herbi blies in ein ähnliches Horn: „Man sollte wegen Coronia nicht alles in Frage stellen. Die Solätte wäre für viele Kmu’s eine Chance gewesen auf die Beine zu kommen.“

Was soll ich dazu sagen? Auskünfte zum Thema „Umsatzbolzen trotz allem“ könnte sicher die Staatsanwaltschaft Innsbruck erteilen, aber die hat wegen des Falls „Ischgl“ grad noch anderes zu tun.

Eine Stammleserin aus Burgdorf schickte mir „Rosegi Gedanke“:

„Wie me doch am Alte chläbt.

So mängisch hei mir’s

scho erläbt,

u jedes Johr isch’s

wieder glych.

Was löst de ou

das Bsundere uus?

Isch’s d‘ Chlätterrose

vor em Huus?

Isch’s ds grosse

Buschelfrieseli-Beet

bi der Fründin Annegret?

Isch’s es Cherli,

flott im Takt,

wo eim gäng vo neuem packt?

Säget, geit’s Euch ou e so?

Äbe doch, de bin i froh.

We me gspürt um was es geit,

ou wenn haut öppe eine seit:

„Sentimental –

für die vo geschter.“

Mira doch –

Drum umso feschter.

Wie mir doch

nach so viel Jahre

üses Gspüri töif bewahre,

u chly luege wyter z gä.

Es tät bigoscht

mi wunger näh, wär sech da 

no sperze wett.

Doch nid gäg d‘ Solennität!“

Dieses Gedicht, schrieb sie, habe ihre Mutter vor 23 Jahren verfasst.

Jetzt verstehe ich besser, wieso die Burgdorferinnen und Burgdorfer dermassen an ihrer Solätte hängen.

Ein weiterer Leser – er nennt sich tatsächlich so: L.Eser – beschwerte sich über den Beitrag, in dem ich laut darüber nachgedacht hatte, ob ein Mitglied der Landesregierung neulich zum Coiffeur habe gehen dürfen, obwohl die Salons coronabedingt nach wie vor geschlossen sind.

„Können sie das beweisen? Ist das relevant?“, wollte er wissen, wobei ich zwischen den Zeilen einen leicht säuerlichen Geruch wahrzunehmen glaubte.

In aller Kürze: Nein. Und nein.

Mit einem einstimmigen ja muss hingegen die Frage beantwortet werden, ob sich ehemalige Bundesräte in die Angelegenheiten ihrer Nachfolger mischen sollen. Ohne die Ratschläge der Alten wären die jungen Schnösel nämlich komplett aufgeschmissen:

Und damit: ab an den Herd. Im „Stadthaus“ orderte ich für zwei Freunde, eine Freundin und mich zwei Cordon bleus ohne Beilagen und zwei mittelscharf gewürzte Tatars plus je vier Suppen und Desserts. Das Bestellte wurde von Christian Bolliger, dem Küchenchef himself, gestern Abend à la minute in den vierten Stock „meines“ Hauses geliefert und schmeckte, in einem Wort, superduper.

Um den Finish der Cordon bleus und das Aufwärmen der Suppe mussten wir uns selber kümmern, aber das stellte kein Problem dar: Meine Gäste waren Tabea und Manuel Hölterhoff, die im Kornhausquartier das Restaurant Serendib betreiben, sowie ein Gault Millau-Kritiker.

Für Nicht-Feinschmecker: Das ist, wie Virgil van Dijk, Cristiano Ronaldo und Lionel Messi in seiner Grümpelturniermannschaft zu haben oder als Nurunterderdusche-
sänger mit Lang Lang, Keith Jarrett und Anne-Sophie Mutter kammermusizieren zu dürfen.

Zwei anderen Besucherinnen setzte ich diese Woche eine ohne fremde Hilfe zubereitete Gemüselasagne vor. „Stadthaus“- oder „Serendib“-Niveau hatte sie nicht, aber gestorben ist daran – Stand jetzt – niemand, und das will in Zeiten wie diesen ja schon etwas heissen.

Hier ist das Rezept für sechs Personen:

Man nehme 1 Zwiebel, 2 Rüebli, 2 Peperoni, 1 Esslöffel Olivenöl, 200 Gramm Blattspinat, 1 Bund Basilikum, 1 Dose gehackte Tomaten, 1 Dezi Wasser, chli Salz und wenig Pfeffer, schäle die Zwiebel und die Rüebli, schneide sie mit den Peperoni in Stücke, erwärme das Öl in einer Pfanne, dämpfe das Gemüse an, gebe die Tomaten und das Wasser dazu, lasse alles kurz brodeln, würze das Ganze, reduziere die Hitze, lasse die Sauce eine halbe Stunde lang köcheln und nehme die Pfanne dann vom Herd, um den Spinat und das Basilikum dazuzugeben, und wende sich frohen Mutes der Béchamel-Sauce zu.

Für sie benötigt man je 3 Esslöffel Butter und Weissmehl, 7 Dezi Milch, etwas Salz und Muskat und Pfeffer und geriebenen Parmesan. Man erwärmt die Butter in einer Pfanne, kippt das Mehl dazu, dünstet es mit dem Schwingbesen rührend bei mittlerer Hitze an, ohne, dass es sich verfärbt, nimmt die Pfanne vom Herd, schüttet die Milch hinein, lässt sie aufkochen, reduziert die Hitze, würzt die Sauce, lässt sie noch etwa 10 Minuten lang köcheln, bis sie sämig ist, streut den Käse hinein – und fertig.

Zuguter Letzt bestreicht man eine Auflaufform mit Öl und verteilt darin 4 Esslöffel Béchamel. Dann werden Lasagneblätter lagenweise mit dem Gemüse und der Sauce aufgeschichtet. Zum Schluss: Käse darüber, viel Käse, und ab damit in den auf 200 Grad vorgeheizten Backofen. Nach gut einer halben Stunde wird serviert.

Auf einem der Dächer nebenan sägen und hämmern drei Männer seit Tagen wie die Wilden. Dazu hören sie Melodic Rock aus den 80ern. Was sie da oben bieten, ist absolut sehenswert, aber nid zum Häreluege. Ungesichert laufen sie 10 oder so Meter über dem Boden über Balken und Bretter, als ob es sich um Trottoirs handeln würde. Zwischendurch nageln sie etwas fest, werfen sich Isolationsmaterial zu oder hüpfen husch von A nach B, um etwas zu holen.

Ich beobachte sie mit derselben Faszination, mit der ich im Basler Zoo als Kind die Affli bewunderte, die sich scheinbar schwerelos von Ast zu Ast hangelten (falls einer der Dachdecker gerade mitlesen sollte: Das war nicht so gemeint, wie mans auffassen könnte. Seit ich euch bei eurer Büez zuschaue, gibt es kaum eine Berufsgruppe, vor der ich mehr Respekt habe als die Eure. Getoppt werdet ihr nur noch von den Virologen).

Dabei fällt mir ein: Wieder einmal durchs Dählhölzli zu bummeln – das wäre schon cheibe schön. Wenn das das nächste Mal möglich ist, liegt vermutlich eine dicke Schneedecke auf den Bisons, aber bis dahin sind wir vermutlich alle soweit, dass wir nicht nur die Tage und Wochen nicht mehr auseinanderhalten können, sondern auch die Jahreszeiten.

Die neue Virklichkeit (36)

Wie am Zmorgebuffet: Öppe so dürfte es am nächsten Montag vor den Gartencentern und Baumärkten aussehen.

In gut 120 Stunden haben wirs überstanden, oder ämu fast: Am Montag dürfen die Coiffeur-, Massage und Kosmetikstudios sowie die Baumärkte, Gartencenter, Blumenläden und Gärtnereien ihren Betrieb wieder aufnehmen.

Sosehr ich das all jenen Menschen, welche in diesen Branchen arbeiten, und sämtlichen Zeitgenossinnen und -genossen, die vor Vorfreude auf eine rundumsanierte Frise oder einen neuen Rasenmäher schon heute fast vergitzlen, auch gönnen mag: Ich blicke diesem Tag mit gemischten Gefühlen entgegen. Wer schon Hotelgäste beim Erstürmen des Zmorgebuffets erlebt hat, kann sich mühelos ausmalen, wie es in diesen Geschäften Anfang Woche zu- und hergehen wird.

Ausgerenkte Kiefer, offene Schädelbrüche, zertrümmerte Kniescheiben: In den Spitälern dürften die Betten, aus denen in Erwartung einer tsunamiartigen Corona-Welle vor wenigen Wochen jeder und jede gekippt wurde, der oder die noch selbstständig röcheln konnte und die dann doch mehrheitlich leer blieben, innert kürzester Zeit mit Opfern der Lockdownlockerung belegt sein.

Bis in die Wyniger Bärge stehen vor den Polizeiposten grünblau geprügelte Hobbygärtnerinnen und blutverschmierte Heimwerker wie weiland die Kriegsver-sehrten vor den Sanitätsbaracken in Stalingrad Schlange, um Anzeigen gegen Unbekannt zu erstatten, wobei die Palette der angeblichen Delikte alles abdeckt, was das Strafgesetzbuch zwischen fahrlässiger Körperverletzung und Mord hergibt.

Gleich daneben stehen drei Partyzelte, in denen Versicherungen nach schweren Hagelzügen sonst ihre Drive-ins veranstalten. Darin werden die Beschuldigten, die von Mitgliedern der Broncos noch an der Ladenkasse widerstandsunfähig geprügelt und in Ketten gelegt wurden, abgeurteilt, wobei die Richterinnen und Richter gehalten sind, zügig vürschi zu machen.

Aufgrund der Notlage können sie auf Befragungen von Angeklagten und die Einvernahmen von Zeugen verzichten. Auch mit dem Anhören von Plädoyers brauchen sie keine Zeit zu verplempern: Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sind für diese Schauprozesse ebensowenig vonnötigen wie Verteidigerinnen und Verteidiger.

Aus arbeitsöknomischen Gründen gilt nicht der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“, sondern die Devise „Wegen nichts sitzt der Typ ja nicht hier“. Einziges Ziel ist es, die Kolonnen vor den Zelten zu verkürzen oder, um es auf Coronadeutsch zu formulieren: to flatten the curve.

Wegen des beschränkten Platzangebotes im Regionalgefängnis Burgdorf werden die Verurteilten in Waschanlagen gebracht, wo sie die nächsten Wochen damit zubringen, Autos mit schweren Schaufeln und stumpfen Pickeln vom Blütenstaub zu befreien. Dazu dröhnen aus Lautsprechern ununterbrochen Xavier Naidoos Greatest Hits.

Bis spätestens am 11. Mai muss die unter Rechtsgelehrten durchaus kontrovers diskutierte Übung abgeschlossen ist. Dann öffnen die anderen Läden ihre Türen. 

Die neue Virklichkeit (35)

Yo, Mann: Wer Stoff braucht, muss sich etwas einfallen lassen.

Spätnachts höre ich manchmal Stimmen. Um Mitternacht herum treffen sich vor einer stillgelegten Altstadtbeiz, in der dem Betäubungsmittelgesetz bis zum 16. März auf eine relativ unverkrampfte Art und Weise nachgelebt wurde, regelmässig ein paar Männer.

Sie wussten schon lange vor dem Lockdown, was es heisst, Tag für Tag die Zeit totschlagen zu müssen, und gehen auf der Gasse zu vorgerückter Stunde gerne ein letztes Mal durch, was ihnen heute wieder Übles widerfahren war (Scheiss Sozialdienst, Scheiss Bullen, Scheiss Ex, Scheiss alles), bevor sie sich in ihren vom Sozialdienst finanzierten Wohnungen schlafenlegen und, wer weiss?, albträumen, wie die Ex bei einem Polizisten an allem herumchäschperlet.

Neulich hatte einer der Herren Lämpe mit einem Kollegen, dem er offenbar seit geraumer Zeit einen Fünfziger schwach ist. Der Schuldner verwies weinerlich ein ums andere Mal darauf, dass die IV ihm sein Geld noch nicht überwiesen habe, der Gläubiger entgegnete ungerührt, das sei nicht sein Problem. Hier Stoff – da Stutz: so laufe das und basta. Der Disput wurde lauter und lauter, doch als ich dachte, gleich häscherets, verzogen sich die beiden nach irgendwohin.

Sie liessen mich unter meinem halbgeöffneten Dachfensterchen mit einer Frage zurück, die ich mir noch nie gestellt hatte: Wo bekommen Leute mit einem Hang zum Hanf jetzt, wo die einschlägigen Treffpunkte geschlossen sind und ein Dealer auf dem kaum noch frequentierten Bahnhofareal auffallen würde wie ein Schprutz Ketchup auf einem Hochzeitskleid, eigentlich ihre Tabak-, Tee- und Guetzliergänzungsmittel her?

Pfannen, Ponys, Perkussionsinstrumente, Pflanzen, Parkbänke, Penisringe, Pflastersteine, Pflüge, Palmkernöl, Paketadresskleber, Pistolen, Petrischalen, Pedalos, Perserkatzen, polnische Pässe, Perücken, Pizza: Was immer der Mensch zum Leben braucht, lässt sich auch mitten in Corona gäbig online beschaffen, es braucht nicht einmal unbedingt mit einem P zu beginnen.

Wer ein Pfund Marju Marhi Marjuh Gras benötigt, kann jedoch ewig durch die Hochregallager von Amazon oder die Inserateplantagen in der „Tierwelt“ schlurfen, ohne je fündig zu werden.

Vermutlich wird der Vertriebskreislauf mit raffiniert codierten Inseraten in der Lokalzeitung („Frisch ab Biene: Grüner und schwarzer Honig zum Selberdrehen!)“ oder bei als Nachbarschaftshilfe getarnten Hausbesuchen notdürftig in Schwung gehalten, bis der Bundesrat das Versammlungsverbot aufhebt und der Handel vor der Berner Reitschule, auf der Grossen Schanze und andernorts wieder blüht wie hoffentlich bald auch das hochpotente Kraut in der Tomatenplantage des nichtsahnenden Grosis.

Serienkiller nutzen seit Kurzem modernste Kommunikationsmittel, um ihre Leichen plasticsackkompatibel zerlegen zu können, ohne wegen unerlaubten Aufenthalts im Freien eine Busse zu riskieren. Nach der Devise „Stay home – safe lifes“ organisieren sie sich das Werkzeug vom Küchentisch aus via Facebook :

Schwieriger gestaltet sich die Suche nach einem Behältnis für die Exkre Exeku Ejak Körperteile. Auch bei nicht fanatisch ökoorientierten Schwerkriminellen geniesst Plastic inzwischen einen zweifelhaften Ruf, aber aus den cheibe Jutetaschen rinnt einfach zuviel Körperflüssigkeit, und selbst wenn in den Sternen stehen würde, wann bei Nachbars die nächste Tupperwareparty steigt: lesen könnte es ja doch niemand.

Bei uns Bünzlis hingegen wird Vieles auch dann so bleiben, wie es schon immer war, wenn die fünfte Virenwelle über das Land geschwappt ist. Dass Handwerker die frischgestaubsaugte Wohnung mit rundumverdreckten Schuhen betreten etwa, oder dass entfernte Bekannte, die einen um kurz nach 23 Uhr aus dem Schlaf reissen, weil sie sich einfach mal total sponti danach erkundigen wollen, „wies dir so geht“, zum Einstieg fragen, ob sie grad stören, oder dass sich die Kaufenden und Verkaufenden in der Bäckerei wechselseitig je achtmal für die Gipfeli und das Geld – hier Stoff, da Stutz – bedanken, bevor sie zu überlegen beginnen, ob sie wohl langsam erwägen könnten, darüber nachzudenken, sich noch vor Sonnenuntergang voneinander zu verabschieden.

Damit gehts aus der Zukunft huschhusch zurück in die Gegenwart. Heute Nachmittag steht unser vierter Waggu am Emmeufer auf dem Programm; am Abend habe ich Besuch. Dafür muss ich nochly einkaufen gehen.

Das dürfte kein Problem sein: die Gäste kommen zum Essen, nicht zum Kiffen.

Die neue Virklichkeit (34)

Mini Beiz? Dini Beiz? Jedenfalls: geschlossene Beiz, und je Lockdown, desto tiefer versinkt der Aschenbecher in den nächsten Wochen im Blütenstaub. Nur: Was heisst „in den nächsten Wochen“?

Gestern Mittag war ich zum ersten Mal seit Langem wieder einmal in einer Beiz, genauer gesagt: in der „Metzgere“ gleich gegenüber. Die Tische, die Stühle, die Bar: es ist alles da, als ob gleich jemand kommen und fragen würde, was es sein dürfe, aber damit kanns noch dauern.

Wie lange, ist unklar. Am Donnerstag stellten Bundesrätin Simonetta Sommaruga und ihre Kollegen Alain Berset und Guy Parmelin den Gastronomen und ihren Gästen in Aussicht, dass Restaurantbesuche vom 8. Juni an wieder möglich sein könnten. Drei Tage später teilte Parmelin der Bevölkerung via SonntagsZeitung mit, er schliesse nicht aus, dass die Lokale schon „in den nächsten Wochen“ geöffnet werden.

Das braucht kein Widerspruch zu sein. Wenn man die Zeitachse zwischen zwei Aebi-Traktoren made in Burgdorf spannt und die beiden Gefährte mit Vollgas in entgegen-gesetzte Richtungen losknattern lässt, liegt der 8. Juni auf einmal genauso „in den nächsten Wochen“ wie, sagen wir, der 19. August.

Als ich mit dem Cola Zero, das ich aus meinem Kühlschrank mitgebracht hatte, am blütenverstaubten „Metzgere“-Tisch sass und mich wehmütig der Rock’n’Grill-Partys erinnerte, die wir unter deren Lauben veranstaltet haben, fühlte ich mich wie am High Noon vor einem Westernsaloon: Die Schmiedengasse war menschenleer, kein Pferd wieherte auf dem Kronenplatz, kein Klaviergeklimper drang aus der Bar Antonio, kein Gehängter in spe flehte auf der Brüder Schnell-Terrasse um Gnade. In meinem Kopf spielte ein Fremder auf seiner Mundharmonika das Lied vom Tod, aber in dem Moment, in dem die Stromgitarre in das Intro fräste, rollte nicht ein Steppenläufer vorbei, sondern der 461-er Bus.

Genau das muss Samuel P. Hungtinton gemeint haben, als er 1996 „The clash of civilizations“ proklamierte.

Was wäre aus diesem Film wohl geworden, wenn im Poschettli des Bösewichts eine Tuba gesteckt hätte?

Den Rest des Sonntags verbrachte ich mit Romy Schneider (wer wissen will, was während ihrer „3 Tage in Quiberon“ alles passierte: hier ist der Link zu diesem sehr sehenswerten Film) und…äh…Projekten. Den „Tatort“ schaffte ich bis fast zur Hälfte, dann schlief ich trotz Hannelore Elsner auf dem Sofa ein.

Nun ist schon wieder Montag, oder immer noch. „Nobody’s gonna go to school today“ bemerkten die Boomtown Rats im Zusammenhang mit diesem Wochentag schon 1979, wenn auch in einem anderen Kontext.

Damals gings um ein 16-jähriges Mädchen, das aus seinem Elternhaus in San Diego mit einem Gewehr auf die Schule vis-à-vis schoss. Sie tötete den Schulleiter und den Hausmeister. Ein Polizist und acht Schüler wurden verletzt. “I don’t like Mondays. This livens up the day”, sagte sie anschliessend zu einem Journalisten und bei der Polizei.

Was the day wohl heute upliven mag?

Bei mir daheim ist die Ellis Mano Band gerade dabei, den Boden für ein paar wenn auch nicht gerade unvergessliche, so doch bestimmt aushaltbare Stunden zu legen. Im Moment, in dem ich das schreibe, läuft (nein: dröhnt ziemlich hochtourig) in meinem Rücken „Here and now“, das Titelstück ihres gleichnamigen ersten Albums, das ich hiermit allen Bluesrock-Fans aufs Allerwärmste ans Herz lege.

Aus dem Aargau nach Burgdorf: Better goesn’t it anymore.

Die Truppe hat ihre Wurzeln im Aargau und spielte einst (lies: Ende Februar) vor einem deutlich über fünfköpfigen und restlos begeisterten Publikum im Maison Pierre zu Burgdorf, und wer von dem Quartett trotz dieser beiden Topreferenzen nicht vollends überzeugt sein sollte, kann ja mal einen Blick auf seine Seite werfen oder chly auf youtube schnöiggen, und falls er oder sie dann immer noch findet, „jääää, aber de glych…“, ist ihm oder ihr nicht zu helfen.

Bald kräht irgendwo ein Hahn fünfmal. Dann beginnen für mich die strukturiertesten zwei Stunden des Tages, das heisst: „Veröffentlichen“ klicken und ab unter die Dusche. Von einer dezenten Wolke aus Axe Ice Chill (Eigenwerbung: „Stell Dir mal vor, ein eiskalter Wintersturm würde mit einem gefrorenem Zitrus-Schneeball zusammen-stossen“) umwabert, bereite ich mir ein Birchermüesli zu, wobei ich mir für die Auswahl des Joghurts viel Zeit lasse. Heidelbeer oder Mango: beim Fällen solch wichtiger Entscheidungen heisst es, nichts zu überstürzen.

Dazu verputze ich, so langsam wie möglich kauend, das siebzehntletzte Osterei aus meinem Kühlschrank. Alles Weitere ist Routine: Begehung des Kleiderzimmers, Tenü auswählen, Krawatte binden, Turnschuhe polieren. Wenig später steigt hinter dem Schloss die Sonne in den kondensstreifenfreien Himmel.

Ich werde mir das andächtig anschauen und kurz danach die Stille geniessen, die sich von meinem Nachbarhaus aus wie schon am Freitag einer kuscheligen Decke gleich über das Quartier legen dürfte.

Die neue Virklichkeit (33)

Weisser als die Felle von Heiligen Kühen sind nur die Röcke und Hemden an der Burgdorfer Solätte. Ob sie Ende Juni stattfindet, kommt morgen aus. (Bild: Simon Steinberger, pixabay)

Für Heilige Kühe ist der Corona-Frühling 2020 dasselbe wie jeder Herbst für das Wild: die time to say good-bye (wie Sarah Brightman und Andrea Boccelli sangen) oder sogar to say good-bye to it all (wie es Chris de Burgh formulierte), oder, um es mit den Doors auf den Punkt zu bringen: The End.

Sie werden dieser Tage am Laufmeter geschlachtet und unter erheblichem Wehklagen oder gänzlich unbeweint ins Grab der Geschichte gekippt.

Budget-Gemeindeversammlungen: Mobilisieren viel zu viele Interessierte, und überhaupt ist der Voranschlag von heute seit Corona das Altpapier von morgen.

Eingeschriebene Briefe: Hatten an jenem Tag ausgedient, an dem der erste Pöstler auf die Idee kam, er könne die Zustellung auch selber quittieren, statt beim Maschinelihinhalten vor der Haustüre sein Leben zu riskieren.

Abschlussprüfungen: Seit der Erfindung von Google ohnehin etwas überflüssig.

Feierabendapéros im Kollegenkreis: Wo denn? Und mit wem, wenn auch die Bürogspändli höchstens noch kurzarbeiten?

Jahreskonzert der Musikgesellschaft: Niemand investiert in der Pause noch 100 Franken in Lösli, um nach der neunten Zugabe mit einer Aldi-Speckseite unter dem Arm nach Hause wanken zu können. Kann also auch weg.

Die bald 300-jährige Solätte als heiligste aller Burgdorfer Kühe steht morgen im Burgdorfer Gemeinderatsszimmer, wo sie der Stadtregierung, mit den Hufen auf dem Parkettboden scharrend und hin und wieder eine Dekopflanze aus einem Topf rupfend, glubschäugig beim Diskutieren darüber zuguckt, ob sie am 29. Juni raus darf oder nach dem Motto „Stay im Stall – rette Leben“ drinnen bleiben muss.

Für Auswärtige: Die Solätte ist sozäge die Essenz von Burgdorf, jedenfalls für die Burgdorferinnen und Burgdorfer. Zugezogene vermögen darin wenig mehr als ein Gelage in Weiss zu erkennen, aber wer das laut schreibt, wird subito ohne Znacht aus der Stadt gejagt, und deshalb seis auch an dieser Stelle mit dem gebotenen Nachdruck vermerkt:

Etwas Schöneres als die Solätte hat die Welt nicht zu bieten, ausser vielleicht in diesem Jahr und möglicherweise auch im nächsten und so weiter, aber wer kann das heute schon sagen (und wenn es doch jemand sagen könnte: Wer wäre Manns oder Fraus genug, sich mit einem Megafon in der Hand auf die Schlossmauer zu stellen und den auf irgendeine gute Nachricht plangenden Menschen in ihren nach über vier Lockdownwochen übel heruntergewohnten Behausungen nach einem längeren „One, two…, one, two…“ zuzurufen: „HALLO!!! ACHTUNG!!! DIE SOLÄTTE IST ABGESCHAFFT! DAS IST KEINE ÜBUNG! DIE SOLÄTTE IST ABGESCHAFFT! ES BESTEHT GRUND ZUR PANIK, ABER BLEIBEN SIE RUHIG! SCHALTEN SIE DAS RADIO EIN UND WARTEN SIE AUF WEITERE ANWEISUNGEN! ICH WIEDERHOLE: DIE SOLÄTTE…)?

Die Solätte findet immer am letzten Junimontag statt und lockt jeweils auch zig Menschen aus näher (dem Tessin und dem Waadtland zum Beispiel) und ferner (Italien, Frankreich, USA etc. pp.) auf die Schützenmatte und in die Beizen der Oberstadt.

Für nicht wenige Gastronominnen und Gastronomen ist sie ein elementar wichtiges wirtschaftliches Standbein, und etliche Eltern hören von ihren Kindern an 365 von 365 Tagen nach dem Wecken als Erstes: „Isch hütt äntli Solätte?!?“

Man ahnt: Die Verantwortlichen stehen vor einem heiklen Entscheid. Sagen sie die Sause ab, berauben sie Heerscharen von Eingeborenen ihres liebsten Rituals, legen sie eine üppigst sprudelnde Einnahmequelle trocken und verunmöglichen sie unzähligen Exil-Burgdorferinnen und -Burgdorfern, früheren Weggefährtinnen und -gefährten immer und immer wieder die Frage aller Fragen zu stellen: „Weisch no?“

Geben sie für die Veranstaltung, an der Tausende von jungen und alten Leuten dicht an dicht vom Morgen bis tief in die Nacht hinein miteinander reden, knutschen und husten werden, grünes Licht, riskieren sie, dass Burgdorf wenig später europaweit und auf Ewigkeiten hinaus als Virenschleuder von mindestens Ischglformat gilt.

Einen Weg aus diesem Dilemma weist sicher der gesunde Menschenverstand, und zumindest in Ausnahmesituationen brauchen sich die Begriffe „Verstand“ und „Politik“ ja nicht grundsätzlich zu widersprechen.

Nachtrag 21. April 2020: Der Gemeinderat hat die Solätte 2020 abgesagt.