Die neue Virklichkeit (32)

Dank Corona braucht niemand mehr vorzugeben, es gehe ihm oder ihr blendend, weil alles andere Schwäche signalisieren würde.

Samstag, 18. April 2020

Liebes Tagebuch

Über einen Monat ist es nun her, dass der Bundesrat wegen Corona die landesweite Notlage ausrief und ich begann, dir unter den Siegel der Verschwiegenheit anzuver-trauen, was dieser Hausarrest mit mir und Menschen in meinem Umfeld so macht.

Seither ist Vieles passiert, was wir bis dahin für undenkbar hielten. Zum Beispiel, dass „die Medien“ sich irgendwann wieder für etwas anderes interessieren könnten als für Greta Thunberg und ihren Klimawandel.

Sie konnten – und wie: Für den vergangenen Monat verzeichnet die Schweizerische Mediendatenbank unter dem Stichwort „Corona“ gut 62 000 Treffer. Der Klimawandel wurde in derselben Zeitspanne 950 Mal erwähnt. Seine prominenteste Bekämpferin kam in vier Wochen auf 315 Nennungen.

Weiter – oder vor allem – durften wir vom ersten Tag des Lockdowns an feststellen, dass unsere Gesellschaft doch nicht aus lauter Egoistinnen und Egoisten besteht. In der Schweiz und besonders im Emmental und ganz speziell natürlich in Burgdorf wurden innert kürzester Zeit Nachbarschaftshilfsangebote geschaffen, die bis heute gewährleisten, dass es den Angehörigen der Risikogruppen auch dann an nichts mangelt, wenn ihr Bewegungsradius nur noch wenige Quadratmeter umfasst.

Wir entdeckten, dass Nähe auch mit Abstand geschaffen werden kann und dass das Wohl und Wehe des Abendlandes primär von dessen Toilettenpapierreserven abhängt. Wir schätzen die Süssigkeit des Nichtstuns und geniessen die grossen Freuden im Kleinen, wenn wir mit Freunden einen Spaziergang machen oder uns auf ein Stehkafi vor ihrem Haus treffen.

Auf einmal interessieren wir uns dafür, wie es Leuten geht, von denen wir bis Mitte März kaum mehr wussten, als dass sie existieren (wie der Bartli von gegenüber heisst, der immer dann den Kopf aus dem Fenster streckt, wenn ich auf dem Balkon meinen Nikotinhaushalt in Ordnung bringe, ist mir allerdings immer noch unklar, aber er könnte ja auch einmal etwas sagen statt immer nur freundlich zu mir hinüberzuwinken).

Und: Wir sind im Umgang miteinander ehrlicher geworden. Dank Corona braucht niemand mehr vorzugeben, es gehe ihm oder ihr blendend, weil alles andere Schwäche signalisieren würde. Ob körperlich, seelisch, sozial, wirtschaftlich oder kulturell: irgendwo schwächelt jeder und jede.

Hier rutscht eine Firma täglich näher in Richtung Abgrund, dort zerbröseln Beziehungen nach Wochen ununterbrochenen Nebeneinanders auf Nimmerwieder-
kitten. Da sind junge Leute, die ihre schwerkranken Mütter nicht mehr im Spital besuchen dürfen, und dort Grossväter, die in ihren Altersheimzimmern Fotoalben durchblättern müssen, wenn sie ihre Liebsten sehen wollen.

Nicht wenige Eltern dürften inzwischen mehr als nur eine verschwommene Ahnung davon haben, was die Lehrerinnen und Lehrer für ihre Kinder leisten. Auch der ignoranteste Ehemann begreift in seinem neueingerichteten Homeoffice langsam, dass das Dasein einer Hausfrau mehr umfasst als netflixend ein paar Hemden zu bügeln und am Abend eine Tiefkühllasagne in die Mikrowelle zu schieben.

Gut zu wissen: Den Titel „Beste Hausfrau“ gewann im Jahr 1967 eine gewisse Milena von Below. Sie lebte damals in Burgdorf, wie mir eine Leserin nach der Lektüre dieses Beitrags berichtete. Mit Stefan von Below, dem Sohn der Siegerin, verbrachte ich als Journalist viele, viele Stunden in Gerichtssälen. Die Welt ist manchmal schon klein.

Wir merkten, dass es zig Menschen gibt, die auch dann bereit sind, für uns zu arbeiten, wenn sie sich damit einer grossen Gefahr aussetzen. Die garantieren, dass unser Abfall weiterhin regelmässig entsorgt wird, dass wir ständig über Strom und Warmwasser verfügen, dass es auf den Baustellen vorwärts geht, als ob nichts wäre, und dass wir auch in dieser Ausnahmesituation unter 30 verschiedenen Naturejoghurts auswählen dürfen.

Wir applaudierten den Ärztinnen und Ärzten und den Pflegerinnen und Pflegern in den Spitälern und Heimen, erkannten, dass auf die Angehörigen der Armee und des Zivil-schutzes Verlass ist und sind uns weitgehend einig darüber, dass wir – ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ich das je vor allen Leuten sagen würde – einen Bundesrat haben, der mit seinen Chefbeamten und deren Subalternen eine Entschlossen- und Gelassenheit an den Tag legt, die bis in die hintersten Winkel des Landes ausstrahlt.

Wir lernten, wie vernachlässigbar vermeintlich Unverschiebbares sein kann, dass sich Ferien und Grossveranstaltungen absagen lassen, ohne, dass deswegen jemand stirbt – ganz im Gegenteil – , und dass uns kein Zacken aus der Krone fällt, wenn in unseren Agenden einmal für ein paar Wochen (oder Monate; wer weiss?) so gut wie nichts eingetragen ist.

In mancherlei Hinsicht ähnelt das Leben mit dieser Pandemie dem Schweben über Reinhard Meys Wolken: Was uns eben noch gross und wichtig erschien, ist jetzt nichtig und klein.

So betrachtet, wärs vielleicht nicht schlecht, wenn wir versuchen würden, uns das eine oder andere, was Corona mit uns anstellte (und vermutlich noch sehr lange anstellen wird), für die wann auch immer anbrechende Zeit danach zu bewahren.

Ihr blicken einige von uns mit leisem Unbehagen entgegen und andere mit an Panik grenzender Angst. So oder so berührt das Virus jeden und jede im Innersten, unabhängig von der beruflichen Position, dem gesellschaftlichen Status, der Dicke des finanziellen Polsters und der Anzahl der Freundinnen und Freunde auf Facebook.

Das unterscheidet Covid-19 von anderen Naturkatastrophen, unter denen meist jene am meisten zu leiden hatten, die ohnehin schon in einem Masse litten, das wir Wohlstands-verwahrloste uns weder vorstellen konnten noch wollten, wenn wir stocksauer an unserem Latte Macchiato nippten, weil der Kellner vergessen hatte, Pistazienbrösmeli darüberzustreuen.

Die neue Virklichkeit (31)

Keine Spur von Gstrüpp: Simonetta Sommaruga hatte die Haare an der gestrigen Corona-Medienkonferenz des Bundesrates auffällig schön.

Erwartet hatte ich ein totalzerzaustes Geschöpf, das nur noch entfernt an ein menschliches Wesen erinnert. Zu sehen bekam ich gestern Nachmittag eine Frau, die sich wie aus dem Truckli vor die Nation setzte, um den bundesrätlichen Fahrplan für die Lockdownlockerung zu präsentieren.

Das heisst: Simonetta Sommaruga (59) muss in den vier Wochen, in denen landesweit kein «Haargenau» und kein «Hair-einspaziert» und kein «Haarometer» und kein „Hairlich“ und kein „Hairzig“ und kein „Haarsträubend“ und keine „Haarchitekten“ und keine „Vier Haareszeiten“ offen war, die Möglichkeit gehabt haben, sich von einer Jessica oder so (18) die Frisur richten zu lassen.

Polit-Aficojo -Avocad -Afischenatos erstaunte das nur bedingt: Für die da oben gelten auch und ganz besonders in Notlagen komplett andere Spielregeln als für uns da unten (wenn überhaupt!), und wenn Alain Berset in seinem Garten mit einem nigelnagel-neuen Schüfeli schon am 25. April fabrikfrische Sonnenblumensamen eines Freiburger Floristen eintopft, statt, wie alle anderen, erst zwei Tage später, wäre ich der Letzte, der sich darüber wundern würde, denn mit uns kann mans ja machen, wir zahlen schliesslich auch pünktlich unsere Steuern für nichts und wieder nichts und stayen lifes savend ganze Frühlinge lang @ home, ohne kritische Fragen nach dem Wieso und Warum zu stellen oder auch nur in den Spiegel zu schauen, um uns in unserem von Angela Merkel ferngesteuerten Dasein wieder einmal unserer eigenen Identität bewusst zu werden, aber ein Blick in den Spiegel brächte ja sowieso nichts, denn alles, was wir darin sehen würden, wäre ein totalzerzaustes Geschöpf, das nur noch entfernt an ein menschliches Wesen erinnert, AUSSER NATÜRLICH, MAN IST BUNDES-PRÄSIDENTIN!!!

Eben präsidierte Hannes Zaugg-Graf noch den Grossen Rat des Kantons Bern, aber selbst das genügte nicht für eine Privatschur, was, von unten betrachtet, irgendwie tröstlich ist.

Damit verlassen wir die sachliche Ebene und schauen uns noch kurz auf der persönlichen um.

Tess‘ Hüeti Claudia Nolte geht es mit ihrer kaputten Achillessehne nach wie vor eher unprächtig (sie ist aber jederzeit für ein Openair-Kafi vor ihrem Haus zu haben und bringt das Gebräu sogar eigenhändig in einem Chörbli hinunter, und solange das so weitergeht, besteht kein Anlass zur Sorge):

Bei Tess selber ist alles im grünen, beziehungsweise silbergrauen Bereich (gut: Wenn man sie fragen würde, bekäme man zu hören, sie sei rund um die Uhr am Verhungern, aber das war schon vor Corona so und wird auch nach Corona so bleiben). Diese Woche kam sie mich besuchen. Sie empfahl mir dabei dezent, über den Kauf eines eigenen Sofas nachzudenken, damit sie ihres nicht immer mit mir teilen muss:

Giusy Rovetto, die in der Burgdorfer Schmiedengasse den gluschtigschten Laden für sizilianische Spezialitäten nördlich von Palermo betreibt, hat beste Aussichten auf den Titel „Miss Coronaltstadt 2020“. Ob die feierliche Preisverleihung im angemessen grossen Rahmen je wird stattfinden können, ist, Stand jetzt, eine andere Frage.

Mein „Jööö“ des Tages ging an eine Frau aus Lyssach, deren Name hier nichts zur Sache tut. Sie berichtete mir, ihr Bub habe sich beim Trampolinhüpfen hinter dem Haus einen Arm gebrochen. Das habe ihm ziemlich wehgetan. Viel mehr schmerze ihn allerdings, den imposanten Gips nicht seinen Gspändli in der Schule vorzeigen zu können.

Zum Thema „Trampolin“ hat Tony Carey 1990 übrigens ein wunderschönes Lied geschrieben:

„Some people got much too much
Some people got the midas touch now
Some people are waiting for the train
Some people get blood on their hands
Some people see disneyland now
Some people are candles in the rain
Like a trampoline
Goes up goes down
Out of luck or heaven bound
But we’ve got something and we’ll never touch the ground
On the trampoline
Just me and you
Just a little love will see us through
Hang on to me baby, I’ll be here with you
On the trampoline.“

Wenn das keine Liebeserklärung ist, weiss ich auch nicht.

Im Übrigen möchte ich wieder einmal darauf hinweisen, dass wir in Burgdorf das schönste Schloss weit und breit haben.

Die neue Virklichkeit (31)

Vegetarier können einfach den schönen Teller angucken: Aus dem Burgdorfer „Stadthaus“ gibts jetzt beilagenfreie Cordon bleus für den Verzehr daheim. Auf den Küchenchef kommt schon bald etwas zu.

Wenn ich das, was ich mir während des Lockdowns zubereite, in einem Restaurant vorgesetzt erhielte und das Frölein beim Abräumen fragen würde, obs rächt xi isch, käme ich über ein artiges Nicken wohl nicht hinaus: Birchermüesli an Heidelbeer-Joghurt, Birchermüesli an Mango-Joghurt, Birchermüesli an Apfel-Joghurt, Birchermüesli an Blutorangen-Joghurt, Spaghetti Bolo, Hörni Bolo, dicke Nudeln Bolo, dünne Nudeln Bolo, Fusilli Bolo, Farfalle Bolo, Wienerli mit Härdöpfusalat, Härdöpfusalat mit Wienerli, Burger mit Ei, Burger ohne Ei, ab und zu ein Dürüm und alle Coronawellen einmal eine Pizza: that’s it, plusminus.

Aber jetzt, zu meinem einmonatigen Jubiläum als Lebensretter, wollte ich mir wieder einmal etwas ganz Feines gönnen. Das Hotel Stadthaus bietet seit Kurzem komplette Menüs für den Hausgebrauch an. Zur Auswahl stehen ein Swissprim Cordon bleu vom Kalb (mit ohne Gemüse!) oder ein individuell scharfgemachtes Rindstatar plus eine Suppe und ein Dessert für alles in allem 55 Franken.

Küchenchef Christian Bolliger bereitet die Essen in der Stadthaus-Küche zu und verpackt sie nach den aktuellsten Hygienevorschriften. Dann kann man sie bei ihm abholen. Für 10 Franken liefert er den Schmaus sogar nach Hause. Es versteht sich von alleine, dass ich dieses zusätzliche Nötli investiere; immerhin wohne ich im 4. Stock.

Ich fragte drei kulinarikaffine Freunde, ob wir uns zu diesem Festmahl bei mir treffen wollen, aber oha: der eine sagte ab, weil er in seiner Firma in Arbeit versinkt (doch, doch: das gibts noch), die beiden anderen schrieben, sie hätten seit Wochen null (in Zahlen: 0) Einkommen und müssten deshalb bedauernd verzichten.

Um doch noch zu meinem Cordon bleu zu kommen (das Drumerherum brauche ich eigentlich nicht zwingend, aber wenn Chrigu schon dabei ist, zu mir hochzusteigen, kommts auf die paar Kilo extra sicher auch nicht mehr an), habe ich also mehrere Optionen:

a) Ich bestelle es nur für mich und verputze es, im immer schwächer flackernden Schein des letzten noch funktionierenden Gaslämpchens, mutterseelenalleine in meiner totenstillen Wohnung,

b) Ich warte, bis der eine Freund nächste Woche vielleicht chly weniger Büez hat und ordere das Menü dann mit ihm.

c) Ich warte, bis der eine Freund nächste Woche vielleicht chly weniger Büez hat, ordere das Menü dann mit ihm und lade die anderen beiden einfach mit ein.

Eigentlich habe ich mich bereits für eine der drei Varianten entschieden. Ich verrate aber noch nicht, für welche, um gewissen Mitessern die Überraschung nicht zu verhageln.

A propos „Freunde“: Auch der Waggu, den ich mit zwei weiteren lieben Menschen aus meinem Umfeld diese Woche unternahm, hielt wiederum sehr viel mehr, als er versprochen hatte. Diese Bluescht! Diese Farben! Diese Düfte!

Wir waren nun schon zum dritten Mal hintereinander miteinander unterwegs. Weil wir – ausser in der Startphase; da legen wir Wert auf Abwechslung – immer dieselbe Route abbummeln, dürfen wir jedes Mal aufs Neue entzückt beobachten, wie sich die Natur an der Emme unten für den Sommer herausputzt.

Wenn wir im Juli oder August immer noch waggeln (was ich schwer hoffe), können wir bei jedem Strauch und jedem Baum, an dem wir vorbeigehen, sagen, dass wir ihn fast von Anfang an bei seinem Wiederwerden begleitet haben, und das ist, wie ich finde, ein schöner Gedanke (wenn auch einer, auf den man vermutlich nur in nationalen Notlagen kommt, weil sonst alles andere wichtiger ist zu sein scheint).

Nachdem ich hier jede Woche einmal von „Waggu“ schreibe, ist es vielleicht an der Zeit, sich einmal vertieft mit diesem schönen, aber leider vom Aussterben bedrohten Wort zu befassen.

Ein Blick in das Wörterbuch Berndeutsch-Deutsch führt auf eine heisse Spur…

…die bei der Konsultation von Perrypedia jedoch umgehend schockgefriert:

Auf Facebook entdeckte ich eine Frau einen Mann jemanden mit Namen Waggu. Wenn ich sie ihn mir das Bild so anschaue, kommt mir alles Mögliche in den Sinn, aber nichts, was auch nur annährend so tiefenentspannend wirken könnte wie unsere original echten Corona-Waggu.

Die neue Virklichkeit (30)

Wenn die Tagschicht der Wissenschaft Feierabend hat: Sagt sie der Ablösung, was vorher lief? Wenn nein: Wieso können diesem Mobbing nicht ausgediente Schulpsychologen ein Ende setzen?

Über 2000 Jahre lang interessierte sich kein Mensch für sie, oder ämu fast keiner. Aber jetzt, wos ans Läbige geht, prägt sie unseren Alltag bis in die hintersten Winkel. Was auch immer sie sagt, gilt als erwiesen und damit als verbindlich. Der Bundesrat fällt keinen Entscheid, ohne vorher sie zu konsultieren, und einzelne ihrer Exponentinnen und Exponenten avancierten in den letzten Monaten zu Stars, nachdem sie früher immer diejenigen waren, welche im Turnen widerwillig als Letzte in die Fussballmannschaften gewählt wurden: die Wissenschaft.

Ihre Stimme hat für Millionen von Leuten mehr Bedeutung als jene aller Politikerinnen und Politiker und Wirtschaftsverantwortlichen zusammen. Umso wichtiger wäre, dass sie sich klipp und klar ausdrücken würde, aber das tut sie nur selten:

Am Morgen schreibt ein Onlineportal, die Corona-Ansteckungskurve weise gemäss „der Wissenschaft“ nach unten. Am Mittag heisst es im Radio, es gebe bei den Ansteckungen laut „der Wissenschaft“ eine alarmierende Dunkelziffer, und acht Stunden später vermeldet Tagesschau, „die Wissenschaft“ sehe am Ende des Tunnels ein Licht (seltsamerweise erwähnt „die Wissenschaft“ in diesem Zusammenhang nie, dass der zunehmend hellere Schein auch von einer gigantischen Lokomotive stammen könnte, die führerlos auf die vor dem Loch auf bessere Zeiten hoffende Bevölkerung zurast, aber dafür hat sie wohl ihre Gründe).

Ist das nur eine Wissenschaft, die rund um die Uhr daran arbeitet, Covid-19 den Garaus zu machen, und in der Hektik manchmal schon um 14 Uhr nicht mehr weiss, was sie um 11 Uhr sagte? Oder sind das in Schichten chrampfende Wissenschaften, die am Feierabend einfach ihre weissen Kittel an die Haken hängen und aus den Labors verschwinden, ohne ihre Ablösungen auf den aktuellen Stand der Dinge zu bringen?

Mobben sich die Wissenschaften auf diese Weise gegenseitig und wenn ja, warum und überhaupt: Wieso unternimmt niemand etwas dagegen? Heerscharen von staatlich alimentierten Psychologen, die am Rande der Pausenplätze jahrelang kettenkiffend darauf warteten, dass Hansli Fritzli den Döner entreisst, um Ersteren zK. der lokalen KESB noch sur place forensisch zu begutachten und Letzterem traumatisierungs-präventiv einen halben Liter Bachblütenessenz in den Unterarm zu jagen, würden sich noch so über neue Betätigungsfelder freuen, und wenn das irgendwann dazu führt, dass „die Öffentlichkeit“ auch nur eine vage Ahnung davon hat, für wen oder was diese „Wissenschaft“ eigentlich steht, ist am Ende allen gedient; nicht zuletzt „der Wissenschaft“ selber – und ganz bestimmt auch „den Medien“.

„Die Medien“ entscheiden ja, was „die Öffentlichkeit“ in Sachen Corona „weiss“ und was nicht (das waren jetzt abnormal viele Anführungszeichen auf einmal, aber was ist „in Zeiten wie diesen“ schon „normal“?).

In manchen Redaktionen, die in den vergangenen Jahren aus Spargründen bis knapp an die Grenze der Blutleere ausgedünnt wurden, halten jedoch nur nur noch einige soeben der Pubertät entwachsene Billigstkräfte die Stellung. Für sie ist „Googlen“ das einzige Synonym für „Recherche“ und das Copypasten von kompletten Wikipedia-Beiträgen nichts Verwerfliches. Sie wähnten sich an ihrem Karrierehöhepunkt, als sie am letzten Gurtenfestival backstage drei Minuten lang mit dem Schwager der Cousine einer längst wieder der Vergessenheit anheimgefallenen Hip-Hopperin aus Katalonien über deren erste CD („Ihr bisher bestes Album!“) plaudern durften.

An ihnen liegt es nun, die Nation allgemeinverständlich über hochkomplexe medizinische, wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge aufzuklären, die Informationen und Anweisungen der Landesregierung unters Volk zu bringen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, unkritisch alles nach unten durchzureichen, was ihnen von oben zugeworfen wird und daneben mit möglichst knackigen – aber zumindest nicht jedesmal total irreführenden – Schlagzeilen die Klickzahlen in der Höhe zu halten.

Das überfordert auf Dauer den talentiertesten Praktikanten, weshalb zur medialen Bewältigung der nächsten Coronawelle ein neues Modell angedacht werden könnte: Ein noch zu evaluierendes Gremium ernennt pro Sprachregion eine mit allen Wassern gewaschene Journalistin (oder einen mit allen Wassern gewaschenen Journalisten, um tschendermässig auch in der aktuellen Notlage in der Spur zu bleiben), die/der sich dann einmal pro Tag mit dem immer gleichen Mitglied des Bundesrats und dem immer gleichen Vertreter der Wissenschaft über Exit-Strategien, Fallzahlen und Kurvenverläufe unterhält und mit ihren/seinen Erkenntnissen sämtliche Medien in ihrem/seinem Einzugsgebiet bedient.

Dann wüssten stets alle gleich viel und kein(e) Medienschaffende(r) müsste je wieder morgens um 7 einen pensionierten Handchirurgen mit virenspezifischen Fragen behelligen, weil der 18. der für heute geplanten 45 Corona-Beiträge längst online sein müsste, die eigentlichen Experten aber schon tutti quanti besetzt sind.

Falls der Journalist oder die Journalistin nach ein paar Monaten leicht ermattet einen Freitag einziehen möchte, dürfte er oder sie das selbstverständlich tun. Dann gäbe es halt einmal 24 Stunden lang nichts über Corona zu lesen und hören und sehen, aber das wäre inzwischen wohl für uns alle relativ locker verkraftbar.

Die neue Virklichkeit (29)

Die Alternative zum Fernsehen: Nachschau halten, obs da draussen auch wirklich läuft wie verordnet.

Wenn ich wissen will, was ausserhalb meiner vier Wände passiert, riskiere ich hin und wieder einen Blick auf die Facebook-Seite „Du bisch vo Burgdorf wed…“.

„Riskieren“ schreibe ich, weil es einem auf diesem Portal ergehen kann wie auf der Autobahn beim Blick aus dem Fenster: Schönes und Grauenerregendes wechseln sich ständig ab.

Je nachdem, wer sich darauf tummelt, finde ich Kurzbeiträge aus dem kulturellen Leben…

…kreative Anregungen…

…oder Sachen zum Lachen:

Gelehgentlich kann ich so gar ettwas leeren:

Wenn es der Seite schlecht läuft, mutiert sie allerdings zum Pranger…

…zum Treffpunkt der Selbstgerechten…

…und zum Kummerkasten für Leute, die das wirklich Wesentliche auch vor dem Hintergrund von über hunderttausend Coronatoten nicht aus den Augen verlieren:

Seit dem Lockdown Mitte März hat sich eine weitere Gruppe dazugesellt: jene der Hobbypolizisten, Privatdetektivinnen und Freizeitschnüfflenden. Je länger der kollektive Hausarrest dauert, desto motivierter schwärmen sie aus, um Nachschau zu halten, obs da draussen auch wirklich vonstatten geht wie verordnet.

Mal geraten die Bonsai-Stasiagenten in unüberschaubare Menschenansammlungen…

…mal enthüllen sie Umweltskandale…

…mal denunzieren sie vom Aussterben bedrohte Lebewesen…

…oder jammern über Jammernde.

Privilegiertere Spione brauchen sich nicht einmal in die freie Wildbahn zu bemühen, um angeblichen Frevlerinnen und Frevlern nachzustellen. Sie gehen ihrer Arbeit trendig von zuhause aus nach:

Weil ich gerade ein Eggeli Zeit hatte, schaute ich mich auf anderen Seiten nach ähnlichen Inhalten um. Lange brauchte ich nicht durch seriöse Onlineportale und obskure Blogs zu surfen: Das Anschwärzen von Mitmenschen scheint für aller Gattig Lüt zu einer echten Alternative zum Fernsehen geworden zu sein.

Beim Sichten der Beiträge fiel mir ein, was mir zwei oder drei Tage, nachdem der Bundesrat die Notlage ausgerufen hatte, vor dem nahen Tankstellenshop passiert war. Ich war gerade dabei, mich mit einem Säckli voller Cola Zero-Büchsen aufs Bike zu schwingen, als eine Frau, die ihren Wagen auftankte, mich tadelnd fragte, was ich „hie usse“ zu suchen hätte.

Zu meiner eigenen Überraschung antwortete ich ihr höflich, ich sei Flüssigproviant für die nächsten Tage posten gegangen und mache mich jetzt huschhusch auf den Heimweg.

Dass der eine oder die andere chly hysterisch auf die neue Situation reagieren würde, war zu erwarten. Das würde sich, dachte ich damals, im Laufe der nächsten Tage von alleine normalisieren. Zuhause angekommen, hatte ich die Sache so gut wie vergessen.

Aber jetzt, wo ich wieder darüber nachdenke, stelle ich mir vor, wie die Frau jeden Tag an einem Waldrand oder vor einen Grossverteiler fährt und dann mit dem durchgeladenen Smartphone im Anschlag Leuten abpasst, die nur kurz frische Luft schnappen oder einkaufen wollen, während ihr Mann mit dem Hund stundenlang der Emme entlangspaziert.