Die neue Virklichkeit (28)

Bevors Leserinnenbriefe hagelt: Ich wollte den Beitrag nicht so illustrieren. Aber dieses Bild ist neben 4899 anderen Fotos leider alles, was das Portal Pixabay unter dem Stichwort „Schlafen“ hergibt.

Vier Stockwerke unter mir grölte jemand ununterbrochen Unzitierbares. Einschlaf-erschwerend kam hinzu, dass sich Denkmaschinen ab einer gewissen Übergrösse – im Gegensatz etwa zur Schweiz – nicht von einer Stunde auf die nächste herunterfahren-lassen. Deshalb lag ich von 21.40 bis 22.50 Uhr wach, aber das störte mich nur peripher. „Wenn die Sonne wieder hinter dem Schloss vüregüxlet, ist Ostermontag, und am Ostermontag muss ich ja nicht arbeiten“, dachte ich, und stand auf.

In dieser Nacht tat ich, was ich schon lange hatte tun wollen: Filme aus meiner Swisscombox wegschauen. Darin hatte sich in den letzten Wochen eine ganze Menge angesammelt: Krimis, Dokumentationen und viele, viele Einzelteile von Serien harrten des Zuschauers, der nicht kam, weil er seine freie Zeit einfach nicht schon tagsüber mit Fernsehen totschlagen mag. Dann schon lieber staubsaugen, bis durch den Holzboden die unter mir liegende Wohnung sichtbar wird.

„Spiel mir das Lied vom Tod“, zwei Folgen „Criminal Minds“, Zusammenschnitte von Konzerten von Bruce Springsteen und Beth Hart sowie ein Blick hinter amerikanische Gefängnismauern: Ich liess nichts aus, oder ämu fast nichts. Die Knastdoku mit Johnny Cash war allerdings ziemlich happige Kost, weshalb ich beschloss, mir zum Zmorge etwas Leichtes zu gönnen.

Sechs Stunden lang waren Covid-19 und der Hausarrest und alles weit weggewesen. Dann startete ich eine Folge von Alf. Es ging darum, dass der putzige Ausserirdische an Weihnachten aus Versehen in ein Spital geraten war, wo er mit einer unmittelbar vor der Geburt stehenden Frau im Lift steckenblieb.

Selbstverständlich half Alf der Dame, ihr Baby zur Welt zu bringen. Doch bevor er das tat, zog er sich um. In dem Wägeli, in dem er sich zuvor versteckt gehabt hatte, kramte er nach passendem Zubehör, und als er wieder auftauchte, holte mich die Fiktion von einer Sekunde auf die andere ins wahre Leben zurück:

102 Episoden wurden zwischen 1986 und 1990 von Alf gedreht, und 30 Jahre später bekomme ich in einer Zeit, in der Schütze vielleicht schon bald vor aller Munde sind, genau jene zu sehen, in welcher er einen Mundschutz trägt.

Is this the real life or is it just fantasy?

So oder so: Es gibt no escape from reality; das sahen Queen und ihrem Gefolge auch die Muppets schon richtig:

Das mit dem Schlafen ist sowieso ein bisschen eine Sache geworden. Corona hat meine innere Uhr dermassen durcheinandergebracht, dass ich bezweifle, ob ich sie je wieder auf die Werkseinstellungen zurücksetzen kann.

Die Wach- und Ruhezeiten gehen so fliessend ineinander über, dass sie sich kaum noch voneinander unterscheiden. Am heiterhellen Tag überfallen mich Müdigkeitskrisen, in stockfinsterer Nacht könnte ich Bäume ausreissen.

Das geht nicht nur mir so: Wenn ich morgens um 2 mit einem Kafi in der einen und einer Zigi in der anderen Hand puurlimunter auf dem Balkon stehe, sehe ich in Wohnungen Licht brennen, in denen um diese Zeit vor dem Lockdown bestimmt nie Licht brannte. Mit senilen Bettfluchten kann das kaum zu tun haben: so lange, wies hinter den Fenstern der Nachbarschaft hell ist, bislet kein Mensch.

Seltsam ist auch: Früher träumte ich meist, als ob ich in einem topmodernen 3D-Kino mit XXL-Leinwand und Dolby Supersurround sitzen würde. Diese tempi sind passati: Mein Kopfkino produziert mehrheitlich Filme, die an Farbintensität und Tiefenschäfte schwer zu wünschen übriglassen. Oft zeigt es sogar nur Schwarzweiss-Streifen.

Inhaltlich gibts weiterhin nichts zu meckern: Die Plots verhäbe, die Handlungsstränge sind halbwegs logisch miteinander verknüpft, das Stammpersonal spielt seine Parts so engagiert wie eh und je, und in 8 von 10 Fällen verkneift es sich die Regie dankenswerterweise, die Geschichte mit einem fiesen Cliffhanger enden zu lassen.

Ein wenig merkwürdig deucht mir, dass immer weniger Nebendarstellerinnen und -darsteller auftreten. Das hat möglicherweise damit zu tun, dass in meinem richtigen Leben momentan nicht mehr sooo viele Leute aktive Rollen spielen.

Weiter mangelt es den Produktionen zunehmend an nervenkitzelnden Elementen, aber wieso solls in den Träumen auch spannender zu- und hergehen als im wachkomatösen Alltag.

Die neue Virklichkeit (27)

Grosser Auftritt – k(l)eine Wirkung.

Nie – ich wiederhole: nie! – grinste mir das Schicksal hämischer ins Gesicht als diese Woche.

Auf der Rückseite unserer Lokalzeitung war wereliwer zu sehen?

Yup!

Und was passierte daraufhin, waseliwas?

Genau.

Ich habe keine Ahnung, wer das Selfie von mir in meinem Büro geschossen hat. Ich weiss auch nicht, wer das Bild an die Adresse redaktion@dregion.ch schickte in der grossen Hoffnung darauf, dass es abgedruckt würde, und zwar nicht einfach unten links auf Seite 8, weil jemand zuwenig gestorben war und der eigentlich für die Todeanzeige reservierte Platz last minute irgendwie gefüllt werden müsste, sondern unübersehbar, in der Mitte einer der meistbeachteten Seiten der ganzen Zeitung.

Wer auch immer das getan haben mag: Falls der flotte Typ aus der Schmiedengasse 1 auf diese raffinierte Weise dafür sorgen wollte, dass ich über Nacht aus den Niederungen der altstädtischen U- in die Sphären der regionalen F-Prominenz aufsteige, sei ihm ein paar Tage nach dem Erscheinen der „Region“ gesagt: all seine Bemühungen fruchteten nichts.

Kein Schwein rief mich an, niemand flehte um Autogrammkarten. Als sich mir die von Andy Warhol garantierte Chance auf meine 15 Minuten Berühmtheit bot, las längs niemand mehr Zeitung, weil darin sowieso nur Coronazeugs steht. Abgesehen davon bekommen ohnehin nur noch sehr wenige Leserinnen und Leser ihr Leibblatt nach Hause geliefert, da die meisten Verträgerinnen und Verträger als Risikogruppen-mitglieder richtiger-, aber in meinem Fall halt doch höchst bedauerlicherweise, auf das Austragen von Drucksachen verzichten.

Überhaupt, die Risikogruppen. Aber eigentlich brauche ich dazu gar nichts mehr sagen. Es wurde dazu ja schon von allen alles gesagt, wie zu allem anderen auch, denken wir nur an die Themen „Exit-Strategie“, „Abfederung“ oder „Hamsterkäufe“, und wenn wir schon dabei sind: folgende Begriffe mag ich, in alphabetischer Reihenfolge, ebenfalls nicht mehr hören:

Ausnahmezustand

Fallzahlen

Händewaschen

A propos „Fallzahlen“: Was ist eigentlich mit dem Tiger, der sich im Zoo von New York angeblich mit den Corona-Virus angesteckt hat?

Lebt er noch? Geht er weiterhin einkaufen, als ob nichts wäre, oder erledigen das inzwischen die Zebras von nebenan für ihn? Sind Schutzmasken für Raubkatzen sinnvoll oder nutzlos? Liegt er in einem Spital unter dem Sauerstoffzelt? Wurde er eingeschläfert? Gab er die Bazillen vor einem Ableben weiter und wenn ja, wem? Einem Wärter? Einem Artgenossen? Einem Wärter in einem Artgenossen?

Sprangen sie von ihm auf die Löwen und Gazellen und Elefanten und von dort auf die Bäume und Sträucher über? Ist da überhaupt noch jemand oder etwas, im New Yorker Zoo? Oder siehts dort inzwischen auch aus wie, zum Beispiel, auf der Brüder Schnell-Terrasse, wo in diesen Frühlingstagen normalerweise Dutzende von Burgdorferinnen und Burgdorfern heiteren Gemüts dem Pétanquespiel frönen, als ob die Mutter aller Städte nicht im Ämmitau, sondern in Südfrankreich liegen würde?

Brüder Schnell-Terrasse einst („einst“ im Sinne von „vor ein paar Wochen“).
Brüder Schnell-Terrasse jetzt.

Niemand weiss es, niemand hat nachgefragt, alles hängt in der Luft, aber gut: nicht nur im Zoo von New York, sondern auch in der Altstadt von Burgdorf und sonstwo.

Ostern 2020: Das ist die Feier der Tatenlosen im Tal der Ahnungslosen, wobei: ein bisschen Ahnung gibt es ja schon, zumindest, was die Frage betrifft, wies mit der Wirtschaft nach der Lockerung des kollektiven Hausarrests weitergeht: nicht zügig obsi nämlich, sondern mehr steil absi. So interpretiere ich jedenfalls die jüngsten Ausführungen von Eric Scheidegger vom Amt für Wirtschaft, aber deshalb braucht jetzt niemand zu erschrecken; wenn ich die Worte von Wirtschaftsfachleuten interpretiere, ist das von einer ähnlichen Verbindlichkeit, wie wenn ein Stromer auf Mallorca dem Finca-Besitzer aus Deutschland verspricht, er werde sich gleich morgen früh um die kaputte Aussenbeleuchtung kümmern.

„V-Rezession“, „L-Rezession“, „BIP-Rückgang“: Das sind Begriffe, mit denen ich sehr viel weniger anfangen kann als mit, sagen wir, mit „Rock’n’Roll“ oder „Haute Cuisine am eigenen Herd“, aber vermutlich ist das auch gar nicht so wichtig, denn wenn uns Corona eines gelehrt hat, dann nebst vielem anderem das: Die Prognose von heute Mittag ist die Zurückruderregatta von heute Abend.

Da lobe ich mir doch – einmal mehr – Daniel Koch, der an derselben Medienkonferenz schlicht und einfach konstatierte, „wir sind über den Berg hinaus, falls es der letzte Berg ist“. Das ist im Vergleich zu dem, was in den letzten Wochen zahllose Expertinnen und Experten zum Thema beizusteuern sich bemüssigt fühlten, eine an Präzision kaum zu toppende Aussage.

Was gibt es in Sachen Ostern noch zu vermelden? Wenn man lange genug darüber nachdenkt – was man in Ermangelung anderer Beschäftigungsmöglichkeiten ja ad Libido tun kann – kommt man zum Schluss: erschütternd nichts.

Ich gehe davon aus, dass in den christlich geprägten Coronakasernen heute alles plusminus so läuft, wie es unter den gegebenen Umständen halt laufen kann, das heisst: Papi guckt, in seinen täglich dichter werdenden Kokon aus Spinnweben gehüllt, auf dem Sofa fern, s Mami versteckt in den Zahngläsern und hinter der Gottfried Keller-Gesamtausgabe in der Ikea-Wohnwand Eier, Leo und Lea büffeln am Laptop Astrophysik (und zwar nicht für die Schule, sondern für sich selber!, wie der Lehrer bei seinen regelmässigen Videokonferenzen mit der Klasse nicht müde wird zu betonen).

Gegen Punkt 12 Uhr – also: genau dann, wenn der Hackbraten verzehrbereit wäre – ruft Tante Martha an, um sich nach dem Befinden der lieben Verwandten zu erkundigen, und sobald die Bratenscheiben, längst erkaltet, auf den Tellern liegen, klingelt das Telefon erneut, und alle wissen: das ist Onkel Max, und das dauert länger.

Die neue Virklichkeit (26)

Selten haben die Menschen einem Datum dermassen entgegenplanget wie dem 19. 26. April dieses Jahres. Dann verkündet der Bundesrat, ob er den Corona-Hausarrest ganz oder nur ein bisschen aufhebt oder ihn bis Ende Mai oder bis zu den Sommerferien 2020 (der Vermerk der Jahreszahl könnte irgendwann noch wichtig werden) verlängert, weil die cheibe Kurve noch immer nicht comme elle faut abgeflacht ist.

Wenn man von mir wissen möchte, was an diesem 26. April aller 26. Aprille passieren wird – was garantiert niemand wird wissen wollen; mich fragt ja grundsätzlich nie jemand etwas, aber mich hat bekanntlich auch niemand gern und wenn doch, läufts am Ende immer nur auf den Körper hinaus, obwohl die Innereien ungleich mehr zählen -, würde ich sagen: eher nicht allzuviel.

Simonetta Sommaruga, Karin Keller, Alain Berset, Guy Parmelin und Daniel Koch werden der Nation für ihre Solidarität danken und ihr dann mitteilen, dass die Lage immer noch „ernst“ bis „schwierig“ sei. Nach wie vor gehe es darum, die besonders gefährdeten Menschen zu schützen und alle anderen zu stützen, und deshalb und so weiter, und so fort.

Nach „schützen“ können sich 99 Prozent der Ladenbesitzer und Beizer aus der Liveübertragung ausklinken. Mit ihnen müssen auch die Präsidenten von Sportclubs, die Veranstalter von Grossanlässen und die freischaffenden Künstlerinnen und Künstler alle Hoffnungen auf eine baldige Auferstehung wenn nicht gleich fahren lassen, so doch zweckoptimistischer denn je aufrechtzuerhalten versuchen.

Jubeln können allenfalls die Angehörigen der haareschneidenden Branche, aber bitte nicht zu laut, um keine Neidgefühle zu wecken. Die Frisuren mancher Schweizerinnen (und in Einzelfällen auch Schweizern) gemahnen inzwischen Storchennestern nach Stürmen vom „Sabine“-Kaliber.

Nicht wenige Zeitgenossinnen (und, nochmals, auch wenns vor allem der Political Correctness geschuldet ist: auch Zeitgenossen!) stehen heute mit demselben Look an den Kassen der Grossverteiler wie vor 35 Jahren vor dem Gesichtskontrolleur des „Blackout“ in Kloten, und jetzt kommt mir grad das Augenwasser. Im „Blackout“ feierte unsere KV-Klasse ihre Afterabschlussfeierparty, und wenig später gings für uns in einem ziemlich furchterregenden Tempo ab ins Leben B und zack: war die Zeit des unbekümmerten Seins vorbei, bevor wir realisierten, wie sehr wir sie geniessen sollten.

Die Stunden in der damals angesagtesten Disco zäntume waren von einer grossen Ausgelassenheit geprägt, aber auch von einer leisen Wehmut. Letztere verlor sich irgendwann im Trockeneisnebel. Ihre hartnäckigsten Überreste ertränkten wir in Bacardi Cola.

Dieser Strand! Diese Palmen!!

Dass wir, von „Rock me Amadeus“, „Live is life“ oder „Maria Magdalena“ umtost, soeben unsere Freiheit zig Meter tief unter der Tanzfläche begruben, wussten wir nicht; woher auch. Die Leute, die uns darauf hätten vorbereiten können, texteten uns in den Jahren zuvor endlos mit Nebensächlichkeiten von A wie Algebra über S wie Stenografie bis Z wie Zweifache Buchhaltung zu, doch auf die Idee, uns einmal zu sagen, „hört mal, Leute: So locker wie jetzt könnt ihrs nachher nie mehr nehmen. Wenn das hier vorbei ist, gilts ernst“, kam keiner und keine von ihnen (und wenn – wenn! – jemand auf die Idee gekommen wäre, hätten wir einfach nicht hingehört. Für uns zählte nur, was war und wovon wir träumten. Die Realität hatte daneben an einem kleinen Ort Platz).

In jener Aprilnacht 1985 erlebten wir, um es mit Don Henley zu sagen, der sich mit diesem Thema auskennt wie nur wenige andere, The End of the Innocence, und jetzt machen wir glaub am besten erstmal chly Musig.

„I know a place where we can go
That’s still untouched by man
We’ll sit and watch the clouds roll by
And the tall grass wave in the wind

You can lay your head back on the ground
And let your hair fall all around me
Offer up your best defense.“

Wurden Worte je schöner vertont?

Aber gewiss doch. In „After all these years“von Journey zum Beispiel

oder in „Against the wind“ von Bob Seger

sowie – vor allem! – in „Indiana“ von Melissa Etheridge

und sicher noch in in ein paar anderen Liedern, aber um danach zu suchen, fehlt mir leider die Zeit. Abgesehen davon möchte ich den Eindruck vermeiden, ich sei eine zu Sentimentalitäten neigende Kitschbabe.

Und wenn wir schon dabei sind: als religiösen Fanatiker würde ich mich auch nicht bezeichnen. Trotzdem – nein: deshalb – finde ich ziemlich cool, wie Manuel Dubach, reformierter Pfarrer in Burgdorf, in der Corona-Krise neue Wege nicht nur zu seiner Stammkundschaft findet, sondern auch zu seit Jahren in sehr abgelegenen Tälern weidenden Schafen wie mir, die nicht schon am Montagmorgen darüber nachdenken, was sie am Sonntag anziehen sollen, um angemessen gekleidet z Predig z ga.

Er wendet sich via youtube und Facebook an die Leute – und erreicht damit mehr Publikum als in virenfreien Zeiten bei zig Auftritten zusammengerechnet.

Seine Ansichten zum Thema „Social Distancing“

hörten bisher knapp 1100 Menschen. Gestern machte er sich im Zusammenhang mit dem heutigen Karfreitag Gedanken zum Thema „Humor“.

Wenige Stunden später zeigte der Zähler unter dem Film schon fast 500 Zugriffe an.

500 Zuhörerinnen und Zuhörer: Soviel Publikum haben Pfarrerinnen und Pfarrer sonst höchstens bei Abdankungen ganz prominenter Zeitgenossen und auch nur, wenn der oder die Verblichene das Zeitliche in jungen Jahren gesegnet hat.

Jetzt aber, wo Gläubige und Atheisten – nur sinnbildlich, versteht sich! – Schulter an Schulter im Seich stecken, scheint parallel zur Nachfrage nach Toilettenpapier auch das Bedürfnis nach geistiger Nahrung zu steigen. Der Pfarrer von Burgdorf – und zwar nur er, wenn ich das in aller Neutralität anfügen darf – hat das erkannt und versorgt die Gemeinde auf eine überaus gmögige Art und Weise mit Stoff, der in diesen schweren Zeiten nicht nur leicht verdaulich ist, sondern auch für willkommene Überraschungen in den gänzlich überraschungsfrei gewordenen Alltagen sorgt.

Den Gedanken zu haben, „Karfreitag“ mit „Humor“ zu verbinden, ist nur das Eine. Daraus etwas zu machen, was nicht allzuviele Menschen allzu heftig in ihren Gefühlen verletzt, dürfte ähnlich herausfordernd sein, wie in einem vollbesetzten Zirkuszelt mit Anderthalbliterflaschen voller Nytroglycerin zu jonglieren. Wenns klappt, sagen alle „Ah“ und „Oh“. Wenn nicht…aber mir wei nid grüble.

Abgesehen davon: In den wenigen Fällen, in denen es schon versucht wurde, funktionierte es ja hervorragend.

Die neue Virklichkeit (25)

Mit Leuten, die einen auf dem Markt in den Wahnsinn treiben, hat der Gründonnerstag nichts zu tun.

Die grössten Fragen stellen sich mir oft in den dümmsten Momenten: Ich war gerade dabei, meine Kauwerkzeuge zu fegen, als es in mir aus dem Nichts heraus darüber zu sinnieren begann, wie eigentlich das Grün in den Donnerstag kam.

Während ich mit dem Bürsteli die Präpo Prähi Pädo Backenzähne schmirgelte, rotierte die Studiermaschine wenige Zentimeter weiter oben aus dem Stand heraus auf Hochtouren, aber nicht für lange.

Gründonnerstag: Dieser Name kann nur daherrühren, dass im österlichen Frühtau die Wälder und Höh’n wieder grünen, fallera, dachte ich, doch mit dieser These lag ich weiter von der Wirklichkeit entfernt als die Nummer 9 von der Nummer 25 in meiner Mundhöhle.

Tatsächlich heisst der Gründonnerstag Gründonnerstag wegen der alten Römer. Sie sprachen vom „Tag der Grünen“, wobei sie mit den „Grünen“ nicht die hipster-bärtchentragenden, xxlkinderwagenschiebenden und lattemacciatoschlürfenden Angehörigen der nachhaltigkeitsversessenen urbanen Mittelschicht meinten, die an den Samstagsmärkten auf jedem verdammten Tomätli herumdrücken und sich mit den Verkäuferinnen und Verkäufern solange darüber unterhalten, wo, wann und vom wem die vor ihnen liegenden Zucchini geerntet wurden, bis die Leute hinter ihnen, die eigentlich nur husch ein Kilo Kartoffeln und ein paar Eier posten wollten, geistig das Sturmgewehr aus dem Kinderzimmer holen, um da vorne endlich Remedur zu schaffen, sondern jene Zeitgenossenden, welche durch die Absolution von den Sünden und Kirchenstrafen befreit worden waren.

Wir Lateiner sprechen in diesem Zusammenhang vom „dies viridium“. Es geht, für die in der Sprache Homers weniger gefestigten Leserinnen und Leser, um Erneuerung und Erfrischung oder, im Sinne des Lukas-Evangeliums 23,31, um „grünes Holz“, und alles Weitere kann, wer mag, hier nachlesen.

Aber item. Wir haben immer noch Corona und damit sicher Gescheiteres zu tun, als unsere Gedanken an eine wohlstandsverwahrloste Gesellschaft im Zentrum Europas zu verplempern, die innerthalb einer verblüffend kurzen Zeitspanne wegen hochnäsig-fahrlässig unterschätzter Ausseneinflüsse (lat. irrtum peanutum) ihres Wohlstands plus eines unschönen Teils ihres Personals oder umgekehrt verlustig ging und wenig später im bodenlosen Schlund der Weltgeschichte versank.

Im selben Loch verrosten auch die zertrümmerten Hoffnungen der Organisations-komitees, die seit spätestens letztem Juni unzählige Stunden darauf ver(sch)wendet hatten, der Bevölkerung über Ostern etwas zu bieten. Ein Blick auf die Website von Schweiz Tourismus lässt erahnen, wieviele Hektolilter von Tränen die Sitzungszimmer und Säli dieses Landes um den 16. März herum geflutet haben müssen:

Die einzigen, die sich über den kahlgeschlagenen Veranstaltungskalender freuen, sind wohl die Bibeli in Freiburg. Sie dürfen diese Tage unbeschwert piepsend und pickend verbringen statt bis zum letzten Chrälleli geschniegelt einem Publikum vorgeführt zu werden, das bei ihrem Anblick sowieso an nichts anders denkt als an marinierte Flügeli und süsssaures Curry.

Die neue Virklichkeit (24)

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„Vollentspannt“, „verunsichert“ oder „demütig“ erleben Freundinnen und Freunde die Corona-Isolation. Einige empfinden sie als „surreal“ oder „bereichernd“. Auch „Frühlingsgefühle“ kommen auf.

Es nahm mich einfach wunder: Wie erleben Menschen aus meinem Umfeld den Dauer-Hausarrest?

Deshalb bat ich 50 von ihnen, mir in einem Wort zu sagen, was ihnen zum Thema „Corona-Lockdown“ einfällt. Um der Sache einen wissenschaftlich-repräsentativen Anstrich zu geben, schickte ich die Anfrage an 25 Männer und 25 Frauen aus allen Alters- und Gesellschaftsschichten.

Weitere 50 Personen bildeten die Kontrollgruppe und erhielten sie folglich nicht.

24 Frauen und 21 Männer schrieben zurück. Einige reagierten so schnell, dass ich mir lebhaft vorstellen konnte, wie sie in ihrer Halbgefangenschaft fingernägelkauend an ihren Schreibtischen sassen und nur darauf warteten, dass auf ihren Compi ein Fensterchen aufpoppte, das sie dazu aufforderte, etwas – irgendetwas! – zu tun.

Für die vielen Banker aus Nigeria, die die Vermögen von längst verstorbenen Superreichen verwalten, müssten dank Corona goldene Zeiten angebrochen sein: Wenn sie 100 Leuten schreiben, sie hätten auf einem Konto 42 Millionen Dollar gefunden, die sie stante pede dem ahnungslos in der Schweiz lebenden Coucousin des Toten überweisen würden, sobald dieser ihnen die Koordinaten ihres eigenen Accounts plus 8000 Franken geschickt habe, rücken mindestens 90 Adressatinnen und Adressaten ohne lange zu überlegen beides heraus, nur, weil sie so glücklich darüber sind, dass sich endlich wieder einmal jemand bei ihnen gemeldet hat.

Eine Totalkatastrophe scheint der Notstand für niemanden darzustellen. „Unsicher“ oder „verunsichert“, „Gefühlschaos“ und „Längiziiti“ waren die negativsten Ausdrücke bei vier weiblichen Befragten. Drei Männer fanden, die Dauerpause sei „mühselig“ und mache „einsam“ und „unsicher“.

Überraschend viele Teilnehmende gewinnen der aktuellen Lage positive Seiten ab: Sechs Frauen notierten „vollentspannt“, „bereichernd“, „Chance“, „ruhig“, „entschleunigend“ und „GanzOkWüuMirHeiJaAues“, eine verwendete Mary Poppins‘ Lieblingsausdruck supercalifraglisticexpialigetisch (das hat jetzt gedauert, bis das abgeschrieben war; schönen Dank auch) und eine freute sich über „Frühlingsgefühle“. Ihr widme ich diesen Song:

Fünf Männer mögen äbefaus nid chlage: Mit Begriffen wie „ruhig“, „Kreativitätssuperboost“, „Shuggabugga“, „geil“, „Entschleunigung“ und „Entschleufantasierelaxed“ signalisierten sie, dass es keinerlei Gründe dafür gibt, sich um sie Sorgen zu machen.

Die meisten Antworten lassen sich unter „Sowohl-als auch“ verbuchen. „Verrückt“, „Gegenwart“, „Uffffff“, „abwartend“, „nachdenklich“, „Wartesaal“, „surreal“, „aussergewöhnlich“, „Homeofficeschoolendemamahausfrau“ „herausfordernd“ und „ambivalent“ schrieben Frauen; eine stellte, das Thema nur um Haaresbreite verfehlend, fest, sie sei „sommerzeitumstellungsmüde“.

Eigentlichtiefenentspanntunddochgespanntwasdanochkommt“ (Schlaumeier!) „Stand-by“, „surreal“, „Metamorphose“, „besäuselt“, „esistwieesist“, „abwarten“, „daheim“, „warten“, „zwiespältig“ und „demütig“ verwendeten Männer, um ihre Gemütszustände zu beschreiben.

Der „Stand-by“-Mann kommt von mir das über,

auch wenn der Titel des Hits allem widerspricht, was der Bundesrat und Daniel Koch vom BAG seit Anbeginn der Zeitrechnung Mitte März predigen.

In einem Monat werde ich dieselben Damen und Herren dasselbe noch einmal fragen, und in einem halben Jahr oder so erhalten sie von mir schon wieder und dann hoffentlich bald öppe zum letztem Mal Post.

Mit der „Supercali“-Frau und dem „Metamorphose“-Mann unternahm ich einen zweiten Bummel der Emme entlang. Diese Waggu werden für uns langsam zu einer lieben Gewohnheit, um nicht zu sagen: zu einer kaum mehr wegzudenkenden Tradition. Mir hei no kei Verein, um sie zu pflegen, aber mir ghöre drzue; zu den vielen Leuten nämlich, die es verstehen, ihre massig vorhandene freie Zeit zwischendurch aufs Sinnvollste zu nutzen.

Nicht nur den unermüdlich homeschoolenden Veronikas können wir nach unserem Abstecher ins Freie berichten: der Lenz ist da, und wie! Überall wächsts und blühts und spriessts und knospsts. Die von uns so geschundene Mutter Natur hat alles gegeben, um für uns das Grau des Winters mit allen Farben, die der Regenbogen hergibt, zu übermalen.

Während die Liveticker rund um den Globus die Zahlen der Corona-Toten addieren, zwitschern an den lauschigen Gestaden des Burgdorfer Hausflusses munter die Vögelein in den Bäumen und reiben sich die soeben aus dem Winterschlaf erwachten Bären den Ziger aus den Augen.

Ohne, dass wir uns abgesprochen hatten, schafften wir es über eine Stunde lang, das Thema „Corona“ zu umschiffen. Doch als wir uns vor einer stillgelegten Oberstadtbeiz mit awaytaketer Tranksame von den Strapazen erholten, diskutierten wir auf einmal über die im Herbst stattfindenden Gemeindewahlen – und ehe wirs uns versahen, hatten wir den kleinen Schritt vom Burgdorfer Stapi Stefan Berger zu dessen Amtskollegen Boris Johnson in London getan (an dieser Stelle: good bettering!).

Von dem Moment an war jeder Gesprächsstoff, den wir von den Regalen unserer Gedanken holten, schneller von diesem Virus verseucht, als wir Bap sagen konnten.

Wenn wir am nächsten Dienstag ein paar Momente lang nichts von Corona hören wollen, bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als schweigend zu waggeln und anschliessend in stiller Kontemplation versunken zämezhöckle.