Donnerstag, 18. März 2021, 5.45 Uhr
Als ob ich an einem Flussufer sitzen und beobachten würde, wie Blätter an mir vorbeitreiben: so kommt es mir manchmal vor, wenn ich Hotelgäste kommen und gehen und kommen und gehen und kommen und gehen sehe.
Plusminus zweihundert Personen checkten in den anderthalb Monaten, in denen ich schon hierbin, ein und aus. Manche übernachteten nur zwei- oder dreimal. Die meisten quartierten sich für eine Woche ein.
Ihre Aufenthalte laufen nach einem Muster ab, das bestimmt seit ewig besteht. Es erschliesst sich mir aber erst jetzt in voller Pracht, wo es über längere Zeit vor mir liegt.
Den Anreisetag nutzen die Neuen zum Auspacken, Einräumen, Vorrätekaufen und, sobald die Sonne wie eine gigantische Blutorange hinter der Skyline von Playa del Inglés verschwindet, Aaen und Ooen auf dem Balkon.
Am nächsten Morgen stecken sie ihr Revier ab: erst sichern sie sich mit ihren Tüechli Plätze am Pool; sie können noch nicht wissen, dass sich auf den 20 Liegen jeweils höchstens vier Personen fläzen werden. Dann besetzen sie im Restaurant den Tisch, der am nächsten bei der Küche steht.
Vermutlich kommt das noch von früher her: wer direkt beim Höhleneingang hauste, hatte das vorbeischlurfende Mammut erwürgt, enthaart, filetiert und in Gefrierbeutel abgepackt, bevor die Mitbewohner im hinteren Teil auch nur darüber zu werweissen begannen, wer heute mit Jagen dran ist (damals entstand auch die bis heute gültige Jass-Faustregel, dass immer der oder die gibt, der oder die fragt, wer gibt).
Die weiteren Stunden verbringen die Bleichgesichter planschend, sünnelend und erste Kritikpunkte tripadvisorend („Immer die gleiche Musik im Lift“, „Aschenbecher nur auf Nachfrage“, „Zimmer nie vor 9 Uhr gereinigt“).
Beim Eindunkeln bitten sie den Diensthabenden an der Rezeption, für sie ein Taxi zu organisieren, obwohl freie Taxis im Halbminutentakt am Hotel vorbeifahren, und lassen sich zu einem original echt kanarischen Restaurant ausserhalb der Stadt chauffieren. Diesen Geheimtipp („Da essen die Einheimischen!“) hatte ihnen ein Kollege verraten.
Im „Playa Blanco“ sind dann weder Menschen aus dem Dorf noch andere Kundinnen und Kunden zu sehen, was insofern erstaunt, als es dem Lokal mit seinen weissblau gekachelten Wänden, Plastikpalmen, von der Decke baumelnden Styropormöven und Adriano Celentano im Lautsprecher keineswegs an südländischen Flair mangelt.
Der Mann checkt mit seiner Übersetzungs-App das Angebot
und ordert beim mässig motiviert wirkenden Kellner schliesslich das XL-Schnitzel mit Pommes, Ketchup und Mayo.
Die Frau entscheidet sich nach einigem Hin und Her – das Hin besteht aus Pouletschenkeln mit Kartoffeln und Gemüse, das Her aus einer Tortilla mit Schinken drin und einem Spiegelei drauf – für einen halben Tomaten-Mozzarellasalat „mit nix Käse“.
„Mozarellasalat mit nix Käse“, murmelt der Kellner, schüttelt kaum merklich den Kopf und tippt die Bestellung in sein iPad.
Mit den Worten „Meine Frau hat jetzt eben diese…Sache“ versucht der Mann, den beim Servicemitarbeiter offenkundig entstandenen Eindruck zu zerstreuen, eine Kundin vor sich zu haben, die ahnungslos durch die weite Welt der iberischen Spezialitäten tappt.
„Milchlaktose! Ich leide an einer Milchlaktose!“, korrigiert ihn die Frau in einer Lautstärke, die sicherstellen würde, dass sämtliche Umsitzenden von ihrer gastroenterologischen Indisposition Kenntnis nehmen müssten, falls um jemand sässe.
In aller Herrgottsfrühe gehts eine fast schlaflose Nacht („Die Matratzen sind viel zu weich“) später hinunter ans Meer für einen unbeschwerten Tag in den weltberühmten Dünen und kurz darauf sandgestrahlt zurück ins Hotel. Im windgeschützten Openair-Whirlpool erholt sich das Paar allen neuerlichen Widrigkeiten zum Trotz („Sprudel stellt immer wieder ab“) von den Strapazen des über 38 Höhenmeter führenden Aufstiegs von der Atlantikküste zur Unterkunft.
Er schläft, sie liest, und das nächste Mal, dass sie miteinander reden, wird sein, wenn sich beim Abendessen die Frage stellt, obs dazu ein Weisser oder ein Roter sein soll, wobei sie sich auch dieses Gespräch schenken könnten. Er will sowieso „erstmal ein Bier“ haben und sie einen Gin Tonic, und dabei bleibt es dann auch.
An den Tagen 3 und 4 ist von den beiden nicht viel zu sehen. Sie haben ein Auto gemietet, um „das andere Gran Canaria“ zu entdecken, von dem der Bekannte mit der Beiz so geschwärmt hat („Da sind Millionen von Mandelblüten. Die müsst ihr einfach gesehen haben!“).
Der Mann tuckert planlos über holprige Nebenstrassen und Feldwege, während seine Partnerin auf Google Maps nach Sehenswürdigkeiten Ausschau hält, oder umgekehrt. Letzteres ist zermürbender, als es klingt: die Qualität des Handyempfangs im mässig bevölkerten kanarischen Hinterland entspricht nicht ununterbrochen jener in, sagen wir, der Wolfsburger Innenstadt.
Mandelblüten entdecken sie keine, was auch daran liegen mag, dass diese nur von Januar bis Mitte Februar spriessen; auf Mallorca. Kurz vor der Deadline für die Wagenrückgabe eröffnet sich dem Duo dafür die einmalige Chance, sich bei einer Tankstelle in der Pampa für 5 Euro pro Person mit einem Eseli fotografieren zu lassen.
In meiner Fantasie teilt der lederhäutige Besitzer des Tieres den Fremden, die es mit dem letzten Tropfen Benzin zu seiner Garage geschafft hatten, nach ihrer Once in a Lifetime-Experience beiläufig mit, aus den Zapfsäulen nebenan fliesse seit Monaten kein Most mehr; „Covid, comprende? Economia kaputt.“
Der Virus trägt zweifellos auch die Hauptschuld daran, dass der von der Frau für den letzten Ferientag fixierte Shoppingbummel zu einer Sightseeingtour durch heruntergekommene Einkaufspassagen verkommt, in denen verlebte Gestalten um Almosen betteln. Die Souvenirausbeute erschöpft sich in Flipflops mit aufgedruckten Delfinen für sie und einem lustigen T-Shirt („Ich bin nicht perfekt, aber ganz nahe dran“) für ihn.
Um 7.20 Uhr hält ein Bus vor dem Hotel, der die rundumgerötetem Rundumerholten zum Flughafen in Las Palmas bringt. Kaum sind sie eingestiegen, verwandelt mein Gedächtnis ihre Gesichter in unidentifizierbare graue Flächen.
D E R kassenschlager, unschlagbar :):)
Danke Hannes! Treffend beschrieben! Aber ich hoffe dass es bei den 200 Feriengästen doch noch Die oder Den etwas anderen Gast(weibliche Form ist mir grad nicht geläufig,sorry)als beschrieben gab!????
So guet! Grad wi weme säuber dert wär. Danke Hannes 🙂