Das Kreuz mit dem Plakat

Ich kanns natürlich nicht beweisen. Aber ich gehe davon aus, dass in diesen Wochen sehr viele Leute vornehmlich damit beschäftigt sind, Zeitungen und Online-Medien nach Texten über ihre Lieblingspartei und deren Exponenten abzuklopfen. Wer etwas findet, faxts oder mailts umgehend an Gleichgesinnte weiter.

Irgendjemand muss bei dieser Suche gestern auf diesen Text gestossen sein (und damit auch auf den hier). Kaum hatte er oder sie ihn gelesen, kopierte er den Link empört in eine Mail, gab in der Adresszeile seine komplette Kontaktliste ein und drückte so beherzt auf „Weiterleiten“, dass sich die Frau in der Küche erschrocken fragte, was im zweiten Stock wohl gerade so getätscht habe.

Nachdem jeder Empfänger den Beitrag seinerseits in seinem Bekanntenkreis gestreut hatte („Lieber Karl. Das habe ich gerade im Internet gefunden. Schaus dir mal an. Ich find das einfach nur schlimm!!!“), liefs in meinem virtuellen Postfach auf einmal rund.

Hier sind ein paar Auszüge:

– „Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie mit solchen Texten die Gefühle von sehr vielen Menschen verletzen?“

– „Was hat Moses Ihrer Ansicht nach mit den Eidg. Wahlen zu tun?“

– „Von mir aus können Sie sich gerne über die FDP oder die SVP mit ihren Auswanderungsplakaten (sic!) lustig machen, aber lassen Sie die CVP in Ruhe!“

– „Sie haben nicht verstanden, um was es geht. Das ist vermutlich eine Frage des Alters.“

– „Einfältiges Geschreibsel.“

– „Machen Sie auf Kosten anderer nur weiter Witze aus der untersten Schublade. Es kommt der Tag, an dem man über Sie lacht.“

– „Hoffentlich werden sie eingeklagt.“

– „Leute wie sie schaden unserer Demokratie.“

– „Wenn das in einer Zeitung stehen würde, müsste ich mich wirklich aufregen. Aber diese „Blogs“ liest ja zum Glück niemand.“

So ging das, bis weit in die Nacht hinein. Insgesamt erhielt ich auf die paar Zeilen über das CVP-Plakat 34 solche und artverwandte Reaktionen plus eine normale Zuschrift. Letztere deponierte ein Leser unter Angabe seines richtigen Namens in den Kommentaren. Die restliche Fanpost wurde mir von vermutlich extra für solche Zwecke angelegten Tarnadressen aus zugestellt. Name, Vorname, Wohnort? Chasch dänke.

Bei der Lektüre der Leserbriefe hatte ich ein merkwürdiges Déjà-lu. Etwas Ähnliches ist mir schon wegen eines Beitrags über den Auftritt einer Mundart-Sängerin in den Hochalpen passiert. Auch damals fluteten entsetzt-empört-fassungslose Leserinnen und Leser meinen Online-Briefkasten – und auch damals hielt es niemand für nötig, unvermummt zu dem zu stehen, was er oder sie denkt.

Ich weiss wirklich nicht: Was zum Teufel hindert jemanden, der jemand anderem seine Meinung sagt, daran, zu eben dieser Meinung zu stehen? Wie diskutieren diese Leute, wenn sie sich unter anderen Menschen befinden? Ziehen sie sich eine Kapuze über den Kopf, wenn sie an der Gemeindeversammlung aufstehen, um etwas zu sagen? Reden sie am Telefon mit verstellter Stimme?

Oder diskutieren diese Leute nie, wenn sie sich unter anderen Menschen befinden? Bleiben Sie an der Gemeindeversammlung sitzen? Reden Sie am Telefon nur über das Wetter?

Wer weiss: Vielleicht ist das, was sie hier – und zweifellos auch in zig anderen Medien – absondern, gar nicht ihre eigene Meinung. Im besten Fall plappern sie nach, was ihnen jemand vorgekäut hat. Im schlimmsten Fall ist diesen Schreibhooligans gar nicht an einem Gedankenaustausch gelegen.

Sondern nur daran, chli in der Gegend herumzubislen und darauf zu hoffen, dass es irgendjemanden preicht.

4 Kommentare

  1. Ich glaube, es ist nicht die Diskussionskultur, die den Bach ‚runtergeht; es sind die Illusionen. Und das führt bei den Betroffenen zum Frust. Und je nach Geschicklichkeit beginnt dann ein Nachdenken – oder man haut eben den Sack (der Esel ist man in dem Fall ja selber :-))

  2. @ Görgu: Es ging mir nicht darum, „es jemandem zu geben“ (das hätte etwas anders ausgesehen). Ich staune nur darüber, wie eine über Jahre gepflegte Diskussionskultur ziemlich rasant den Bach hinunter geht. Es geht nicht mehr um Argumente. Sondern nur noch darum, wer – möglichst noch aus der sicheren Deckung heraus – lauter brüllt.

    @ Hannes: „If you can’t stand the heat, leave the kitchen“, sagte – glaub – Winston Churchill, ämu sinngemäss. Mir (und dir sicher auch) ist schon klar, dass es einem auf den Kopf regnen kann, wenn man selbigen aus dem Fenster streckt. Das kann sogar ziemlich erfrischend sein; oder spannend. Manchmal ist es sogar einfach nur lustig.

    Nur wärs nicht schlecht (oder, um ein grosses Wort zu verwenden: nichts als fair), wenn man erkennen könnte, wer die Gieskanne über einem ausschüttet, damit man ihn fragen kann, was ihm nicht passt. Vielleicht hat er ja Recht. Nur ist mir das völlig wurst, wenn ich nicht weiss, um wen es sich handelt. Das wiederum kann kaum im Interesse des Kritikers liegen. Er will ja – nehme ich an – dass man nicht nur seine Argunente ernst nimmt, sondern auch ihn persönlich – und die Partei/den Verband/die Interessengruppe/das Anliegen, die oder das er vertritt.

  3. Jetzt kannst du dir in etwa ausmalen, welche Reaktionen ich manchmal entgegen nehmen muss, wenn ich mich zum Fenster hinauslehne. Neu ist dank den neuen Medien die unheimlich schnelle Verbreitung. Es erstaunt nicht, dass ideologisches Denken und Verhalten immer mehr Überhand nehmen. Dürrenmatt sagte einmal: Ideologie ist Stillstand auf Kosten des Weiterdenkens. Offenbar wollen sehr viele Menschen heute lieber den Stillstand, weil sie durch die Geschwindigkeit des Fortschritts überfordert sind. Dies ist bitte schön völlig wertfrei. Auch mir geht das zeitweise so und es ist wichtig, dass wir zwischendurch die Dinge entschleunigen. Was wir jedoch nicht können, ist die Entwicklung aufzuhalten.

  4. Aua *:o) Diesen einfühlsamen Moses-Verehrern, die – demokratisch und im richtigen Alter – Auswanderungsplakate aufhängen und sich dabei zwar nicht ärgern, aber dafür sehr auf eine Anklage freuen, die sie dann mit einem letzten Lachen würdigen werden, hast Du’s aber gegeben!

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