Living next door to Jessie

Streng genommen, leben wir ja in zwei verschiedenen Welten, Jessica Diggins und ich. Wenn sie einen Preis gewinnt, jubeln ihr Zehntausende Fans zu:

Wenn ich einen Preis übergebe, lassen sich die stumm auf die Buffet-Eröffnung wartenden Gäste an drei Händen abzählen:

Abgesehen davon wuchs sie in Minnesota USA und ich in Beinwil am See AG auf, hat sie am 26. August Geburtstag und ich am 16. Oktober, folgen ihr auf Instagram 150 000 und mir auf Facebook 581 Leute und kann sie besser Langlaufen als ich.

Zum Vergleich: so sieht ihr Palmarès aus

und so meines:

Und doch wohnen wir seit gestern unter einem Dach – jenem des Hotels Kessler’s Kulm in Davos-Wolfgang – , Tür an Tür und Wand an Wand; sie im Füf- und ich im Vierzähni.

Bis Mitte Dezember weilt sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen von der US-Langlaufnationalmannschaft im Bündnerland; dann finden die Internationalen Langlauftage statt.

Das Team gehört seit Jahren zu den Stammgästen dieses Hotels. Bei seinen Mitgliedern handle es sich durchs Band weg um „unkomplizierte“, „entspannte“ und „total lässige“ Typinnen und Typen, loben Mitarbeitende, die sich um das Wohlergehen der alles in allem rund 40-köpfigen Equipe kümmern.

Gestern Abend trafen Jessie und ich uns zum ersten Mal. Ich nuckelte auf dem Balkon an einer Mineralwasserflasche, als auf einmal die Frau, die an der Schlusszeremonie der Olympischen Winterspiele 2018 in Pjonj Pönja Pöng Asien die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika ins Stadion getragen hatte, in einem Zuhauseherumsifftrainer zwei Meter neben mir stand.

Wir sagten „Hi!“ und „Hello!“ zueinander. Viel mehr hatten wir noch nicht zu besprechen, dabei würden nur schon ihre Hobbies – Geige und Gitarre spielen, Kanufahren, Klippenspringen, Bungeejumping und Skydiving – Stoff für stundenlange Gespräche hergeben, von meinen (Lesen, Kochen, Minigolf, Musik, Altstadtleist Burgdorf) ganz zu schweigen. Sie bestaunte nochly die sich vor ihr auftürmenden Berge und zog sich dann wieder in ihr Gemach zurück.

Eine halbe Stunde später ging ich auf dem Weg ins Wellness an ihrer Türe vorbei. Der Schlüssel steckte aussen im Schloss. Ich klopfte zweimal. Auf der anderen Seite erklang ein glockenhelles „Coming!“

Im Gegensatz zu vorhin trug ich nun eine Coronamaske. Während sich die Türfalle nach unten bewegte, fiel mir ein, dass ein vermummter Fremder vor dem Hotelzimmer wohl nur in Ausnahmefällen ist, wovon eine junge Frau immer wieder selig lächelnd träumt.

Um mich der Maske zu entledigen, war es jedoch schon zu spät. Deshalb sagte ich, noch bevor Jessie mich sehen konnte, im vertrauenserweckendsten Tonfall, der mir auf die Schnelle einfiel, don’t worry, ich bin just the guy from next door, und here’s the key to your room; you’ll probably need it.

Strahlend nahm sie den klobigen Schlüssel entgegen. Wenn das Leben ein Film wäre, hätte sie mich nun spontan auf ein Glas Gatorade hereingebeten, und spätestens im nächsten September wären wir mit unserem Baby auf der Titelseite der Schweizer Illustrierten („Jessie und Hannes: Auf der Loipe ins Glück!“) abgebildet gewesen.

Aber das Leben ist kein Film – und, wenn wir schon dabei sind, auch kein Ponyhof – und drum gibts statt einer Homestory nur chly Musig (wobei: was heisst „nur“?):

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