Nach allen Regeln der Kunst

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„Grenzen wurden überschritten und verschoben, Werte deklamiert und gleich wieder verraten, Fakten geschaffen, ohne die Folgen zu bedenken“, schrieb Markus Spillmann, der seit zwei Tagen ehemalige Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung, zu seinem Abschied von der „alten Tante“.

Was er damit meinte, war klar: Er erinnerte zum Beispiel an die von der „Schweiz am Sonntag“ losgetretene Selfie-Affäre um den Badener Stadtpräsidenten Geri Müller, die in der „Weltwoche“ veröffentlichte Koran-„Analyse“ des Satirikers Andreas Thiel, den vor allem vom „Blick“ mit einer Endlos-Serie am Köcheln gehaltenen „Carlos-Skandal“ oder, vielleicht, auch an die von seiner eigenen Zeitung öffentlich vorgeführte Sekretärin im Bundeshaus.

Journalisten, führte Spillmann aus, käme nach wie vor und mehr denn je „eine besondere Bedeutung zu“, denn „sie schaffen Ordnung, wo Chaos herrscht, leuchten aus, wo es dunkel ist, trennen Relevantes vom Unsinn – und sie bieten Orientierung in einem Meer des Belanglosen und Vorgefassten“.

Ungefähr zu der Zeit, in der Spillmann seine Betrachtungen in den Computer tippte, vermeldete das Innerschweizer Onlineportal „zentral+“, dass eine verheiratete Zuger Politikerin von einem mit ihr befreundeten Zuger Politiker nach einer Feier am 20. Dezember „möglicherweise mit K.O.-Tropfen betäubt“ und sexuell missbraucht worden sei.

Schon zwei Tage zuvor seien sich die beiden an einem anderen festlichen Anlass „sehr nahe gekommen“, berichteten die internetten Rechercheure, sabbernd vor Enthüllungseifer, weiter. Als Quellen dienten ihnen anonyme Partyteilnehmer, die angaben, sie hätten die beiden „knutschend im Gang vor der Toilette“ gesehen und „in einem Nebenraum beim Sex erwischt“

Um wen es sich bei der Frau und dem Mann handelt, schrieb das Online-Portal nicht. Doch wer Genaueres wissen wollte, brauchte nicht lange auf Aufklärung zu warten: Tags darauf präsentierte der „Blick“ das mutmassliche Opfer und den möglichen Täter mit vollen Namen; im ganz bestimmt ehrlichen Bemühen darum, Verwechslungen vorzubeugen und Missverständnisse auszuschliessen, zeigte das Boulevardblatt auch ein Bild der Frau.

Daraufhin barsten in zig anderen Redaktionen alle Hemmschranken: Das Gratisheftli „20minuten“ liess sich die knackige Story ebensowenig entgehen wie die renommierte „Die Welt“. Bedenken wegen ihres Wahrheitsgehaltes schienen nicht angezeigt. Schliesslich hatte Fridolin Luchsinger, der Chefredaktor des „Blick“, gegenüber „zentral+“ versichert, seine Leute hätten den Fall «nach allen Regeln der Kunst ausrecherchiert».

„Nach allen Regeln der Kunst“ scheint für Luchsinger allerdings ein dehnbarer Begriff zu sein: Die Politikerin wurde von der Redaktion laut „zentral+“ nicht um eine Stellungnahme gebeten. Hätte der „Blick“ bei ihr nachgefragt, wäre die Geschichte um das eine und andere pikante Detail ärmer geworden: Dann hätte die Politikerin darlegen können, dass sie an der Feier, an der das angebliche Techtelmechtel mit dem Politiker seinen Anfang nahm, gar nicht zugegen gewesen sei und von „Knutschen im Gang“ und „Sex im Nebenraum“ weder die Rede noch die Schreibe sein könne.

Wie die als Opfer abgestempelte und als Schlampe diskreditierte Politikerin und dreifache Mutter ihre Feiertage verbracht hat? Niemand weiss es (und niemanden geht es etwas an). Der angeschuldigte Politiker seinerseits sass eine Nacht lang in Untersuchungshaft und verschwand anschliessend in die Ferien ins Ausland. Gegen ihn wird wegen „Handlungen gegen die sexuelle Integrität“ vorermittelt.

Ordnung schaffen, wo Chaos herrscht, ausleuchten, wo es dunkel ist, Relevantes vom Unsinn trennen – und Orientierung in einem Meer des Belanglosen und Vorgefassten bieten: Das sind laut dem über Nacht abgesetzten NZZ-Chef die hehrsten Gebote für ernstzunehmende Journalisten. Markus Spillmann wird gewusst haben, wieso er sie seinen Kolleginnen und Kollegen bei seinem Abgang noch einmal in Erinnerung rief.

Aber kaum ernsthaft daran glauben, dass sich alle daran halten.

Nachtrag 2. März: Blut- und Haaranalysen ergaben, dass bei dem Techtelmechtel keine K.O.-Tropfen im Spiel waren.

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