Live aus den Bäumen

Irgendwie ist es ein kleines Wunder: Jeden Morgen, wenn ich das Fenster aufmache, höre ich ein unglaubliches Vogelkonzert.

Falls ich je daran denken sollte, von hier wegzuziehen: Ein Ohr voll davon würde genügen, um die Idee so schnell verfliegen zu lassen, wie sie gekommen ist.

Bei den Höllenengeln

Jetzt kann ichs ja sagen: Wenn ich- rein hyphotetisch hypotheth hypothet – nur einmal angenommen – nicht Journalist geworden wäre, würde ich heute als Undercover-Agent für das FBI arbeiten.

Mit meinen Tätowierungen, dem leichten Bauchansatz, dank meines messerscharfen Verstandes, meines extrem ausgeprägten Antizipationsvermögens und überhaupt, eigentlich allem, wäre ich die Topbesetzung für eine Infiltration der Hells Angels.

Wie ich dabei vorgehen würde, beschreibt der reale FBI-Fahnder Jay Dobins verblüffend präzise in seinem Buch „Falscher Engel„: Monatelang lebte er mit Hells Angels zusammen. Er begleitete sie, wohin sie auch fuhren. Er verhöhnte mit ihnen jede Frau, die ihm über den Weg lief. Er hörte sich mit ihnen „Steppenwolf“-Songs an, bis ihm die Ohren wackelten. Er beteiligte sich an ihren Partys und Schlägereien und Besäufnissen (was in der Regel ein und dasselbe ist) und fädelte für seine „Brüder“ Waffengeschäfte ein. Irgendwann war er akzeptiert. Nachdem er ein Mitglied einer konkurrierenden Gang umgebracht hatte (als Beweis dafür zeigte er den Angels Bilder, auf denen ein Mensch an viel Blut und Gehirnmasse zu sehen ist), war er festes Mitglied des sagenumwobensten und wohl skrupellosesten Männerclubs dieses Planeten.
Und fühlte sich dennoch einsamer als je zuvor.

Für Dobyns wäre es ein Leichtes gewesen, sich in seinem Buch zum grossen Helden emporzustilieren. Wer die Gerüchte kennt, die sich seit der Gründung der Hells Angels (es heisst übrigens „Hells“, nicht „Hell’s“, weil die Angels davon ausgehen, dass es, je nach Typ, verschiedene Höllen gibt); wer also auch nur ein paar der Legenden gehört hat, die sich um die Hells Angels ranken, würde dem Autor jede auch noch so abstruse Erzählung abnehmen.

Doch genau darauf verzichtet der Agent. Stattdessen schildert er immer wieder, in welche Gewissensnöte er sich bringen liess und wie seine Frau und seine Kinder je stärker unter seinem Job litten, desto ernster er ihn nahm. Irgendwann fragt er sich, was seine Gattin sich schon lange fragt: Ob er noch Polizist oder bereits Hells Angel sei. Sehr zur Glaubwürdigkeit seiner Aufzeichnungen trägt auch der Umstand bei, dass Dobyns jede Menge Fehler einräumt und kein Geheimnis macht aus den Alpträumen und Ängsten, die ihn bisweilen Tag und Nacht umtrieben und die ihn schliesslich zu Mitteln greifen liessen, die ihn ebenso stark wie gleichgültig machten: Alkohol und Tabletten.

„Falscher Engel“ ist ein Buch, das man einmal zur Hand nimmt und erst wieder weglegt, wenn man ganz sicher ist, dass es darin nun wirklich keinen ungelesenen Buchstaben mehr hat. Sensiblen Gemütern ist es eher nicht als Bettlektüre zu empfehlen. Aber es erlaubt einen Einblick in eine Welt, zu der nur sehr, sehr wenige Menschen Zutritt erhalten; und Polizisten schon gar nicht. Es sei denn, sie nehmen ihr Ziel mit einem derartigen Ehrgeiz und Willen zur Selbstaufgabe in Angriff, dass sie, wenn sie endlich am Ziel sind, nur noch einen Wunsch haben: zu sterben. Und damit: Alles zu vergessen.

Nur eine Frage

Jetzt haben sie mich also gefunden: Sie waren hier, am alten Markt 6 in Burgdorf; am heiterhellen Tag.

Es war ihnen egal, ob sie von anderen Leuten gesehen werden. Sie maskierten sich nicht einmal. Sie gingen durch den Garten zur Türe, hinter der ich wohne, klingelten…

…aber oha.

„Da Sie nicht zuhause angetroffen wurden, erlaube ich mir, Sie durch dieses Schreiben zu erreichen“, teilte mir einer der Besucher nun mit. Der Brief, den ich vorhin leicht überrascht aus dem Briefkasten fischte, war handgeschrieben, mit Chugi, und praktisch frei von Fehlern, sieht man von einigen Wortwiederholungen und inhaltlichen Redundanzen ab.

Wahrscheinlich, dachte ich, während ich die Augen über die schnurgeraden Zeilen fliegen liess, wahrscheinlich schreibt V. M. aus K. ziemlich regelmässig solche Briefe, weil niemand daheim ist, wenn er vor der Türe steht, oder weil die Leute, die er besuchen will, gerade duschen oder lesen oder schlafen oder zu den Klängen von Ozzy Osbourne Sektentraktate verbrennen.

Jedenfalls: Er beteilige sich „an einem Werk, das weltweit von ehrenamtlichen Mitarbeitern durchgeführt wird“, liess mich M. wissen. Und stellte in Aussicht, „in diesen schwierigen Zeiten Antworten auf verschiedene Fragen“ zu haben.

„Schwierige Zeiten“? Ich weiss nicht. Wie schwierig sind die Zeiten für jemanden, der (bald) eine fantastische Frau, ein oberlässige Familie, ein tolles Umfeld, eine wunderbare Wohnung, ein festes Einkommen und keine gesundheitlichen Probleme hat?

Und „Fragen“…nun…ja, klar: Immer wieder, jeden Tag, aber die sind eher beruflicher Natur. Wenn ich keine Fragen mehr hätte, hätte ich auch keinen Job und damit „schwierige Zeiten“ indeed. Aber sonst? Eigentlich nicht. Jedenfalls keine, die ich jemanden beantworten liesse, der mich nicht einmal vom Sehen her kennt.

Das heisst: Doch. Eine Frage habe ich: Ich möchte gerne wissen, weshalb man jemandem, der in der Regel um spätestens 3 Uhr morgens putzmunter ist, ein Heftli mit diesem Titel schenkt: