Auf der Homeoffinsel (31)

Mittwoch, 3. März 2021, 10.40 Uhr

Mittwoch ist Wüstentag, jedenfalls heute, und drum stand ich vor 9 Uhr auf einem Sandhügel mitten im Nichts.

Um mich herum war kein Mensch zu sehen und auch kein Tier und abgesehen von ein paar Zyperngräsern (dem Lateiner waren diese Pflanzen bis zu seinem Aussterben beim Untergang Roms als Cyperus laevigatus bekannt, der spanische Landschaftsarchitekt nennt sie Junquillos, was aber nichts mit unseren Junkies zu tun hat, ausser vielleicht, dass sie so verdorrt wirken – also die Büsche, nicht die Junkies, wobei: Letztere stehen Ersteren in Sachen Verdorrtwirken bisweilen ja nur in wenig nach -, dass man sie vermutlich frischgerupft rauchen könnte) auch sonst nichts.

Während ich so, wie weiland Napoleon auf dem Gipfel von Waterloo, die öde Wildnis überblickte, fiel mir auf einmal ein, was diese wunderschönen Dünen schon alles erlebt haben: Invasionen mallorquinischer Mönche, Machtübernahmen katalonischer Könige, Eroberungen durch Portugiesen, tosende Stürme, jahrelangen Wassermangel, Heuschreckenplagen, tonnenweise Abfall hinterlassende Touristen, totalenthemmte Openair-Swingerinnen und -Swinger und, als ob das alles nicht genug der Schändungen gewesen wäre, ein Gastspiel des ZDF-„Fernsehgartens“ mit der Schleichwerbeikone Moderatorin Andrea Kiewel, Marquess, Stereoact, Namika, Cesár Sampson, Parallel, Körner, S!sters, Jonas Monar, Michael Leonardi und vielen anderen längst zurecht wieder dem Vergessen anheimgefallenen Playbackenden.

All das und noch viel Schlimmeres (auch Jürgen Drews liess sich dem Vernehmen schon öppedie auf der Insel blicken) überstanden die Dünen unbeschadet. Entsprechend stoisch nehmen sie auch die seit einem Jahr über sie hereinsschwappenden Coronawellen hin.

Sie klagen nicht ständig, trötzeln nicht dauernd und fordern im Namen von, sagen wir, Desertosuisse auch nicht an an drei Medienkonferenzen pro Woche sofortige Lockdownlockerungen, ganz im Gegenteil: sie warten einfach ab, bis auch dieses Unheil vorbeigezogen ist, und nutzen die ruhige Zeit, um sich einmal so richtig von den Strapazen der Vergangenheit zu erholen.

Es hätten mehr Menschen als Dünen geboren werden sollen, denke ich, während ich durch den Sand in die Stadt zurückstapfe.

Auf der Homeoffinsel (30)

Dienstag, 2. März 2021, 11 Uhr

Psychologen, Suchtberaterinnen und RAV-Mitarbeitende sind sich einig: um strukturiert durch seine Tage zu kommen, braucht der Mensch eine Tagesstruktur.

Zu meiner gehört, dass ich jeden Morgen, wenn die Ausgangssperre vorbei ist, spazieren gehe zu einem zweistündigen Powerbummel ausrücke.

Am Anfang lief ich wie ein Tourist, der zum ersten Mal Playa del Inglés besucht, kreuz und quer durch die Stadt. Wichtig war und ist mir, dass der Weg mindestens 10 Kilometer lang ist.

Inzwischen habe ich eine Strecke gefunden, die exakt meinen Wünschen entspricht. Sie führt ohne Schattenabschnitte durch belebte Quartiere, in blumenumrankte Winkel und an den Atlantik. Die drei grossen Kreisel auf der langen Geraden umrunde ich zur Schärfung meines Orientierungs- und Gleichgewichtssinns manchmal mehrfach.

Weil ich immer zur plusminus gleichen Zeit losmarschiere, sehe ich unterwegs oft dieselben Leute. Die einen stellen Waren vor die Läden, andere rauchen in den Eingängen von Bürokomplexen und Zahnarztpraxen so diskret wie wir einst als Teenager hinter dem Beinwiler Bahnhofschuppen, manche führen ihre Hunde aus.

Bis zur Verbrüder- und -schwesterung mit diesen Menschen wirds nochly dauern. Hier und da längts aber doch schon für ein kurzes gegenseitiges ¡Hola! (das verkehrte Ausrufezeichen geht mir inzwischen so leicht über die Lippen wie den Eingeborenen) oder ein munteres „buen día“.

Nach 8,4 Kilometern lande ich in der „Klamotte“ am Meer unten, um zwei Liter Agua con gas zu tanken und mit einem der beiden Kellner zu plaudern, die Corona noch nicht von der Lohnliste gefegt hat. Vor anderthalb Jahren wuselten in dieser Beiz sechs Servicekräfte zwischen den Gästen herum.

Am Ende lege ich einen 5 Euro-Schein auf den Tisch, rufe „Hasta la vista!“ in Richtung Küche, montiere die Maske und nehme ohne zurückzuschauen

die Strasse obsi die letzte Etappe zu meinem Hotel in Angriff.

Dann beginnt der Arbeitstag. Um 13 Uhr herum verputze ich einen Teller Meeresfrüchte oder einen Fisch mit Gemüse. Anschliessend gehts zurück ins Büro.

Am Feierabend schwimme ich anderthalb Kilometer im Pool. Zum Znacht gibts ein Salätli. Im Zimmer lese oder schreibe ich oder schaue ich fern, bis meist ziemlich zeitig das Sandmännchen kommt. Es hat vom Strand her ja nicht weit.

Wenn ich gerade so darüber nachdenke: Ich habe hier mindestens soviel Struktur wie zuhause. Und erst noch mehr Bewegung.

Ungeplante Mailschwetti

Ich kann nur um Entschuldigung bitten: Einige Neuabonnentinnen und -abonnenten dieses Blogs erhielten nach ihrer Anmeldung heute Morgen zig Mails, welche das System ihnen automatisch schickte, und denen die Kontaktkoordinaten anderer Leserinnen und Leser entnommen werden konnten.

Ich habe keine Ahnung, wieso das passierte. Beim grössten Teil der Registrierungen klappte offenbar alles tadellos.

Nachdem ich erste Reaktionen aus der Leserschaft erhalten hatte (siehe Bild), deaktivierte ich in den Einstellungen sämtliche Funktionen, die auch nur entfernt damit zu tun gehabt haben könnten.

Seither scheint der Fall behoben zu sein. Wenn nicht: bitte lasst es mich wissen.

Auf der Homeoffinsel (29)

Montag, 1. März 2021, 5.10 Uhr

Schlaflose Nächte haben auch ihr Gutes: Man kann vom Balkon aus beobachten, was sich während einer coronabedingten Ausgangssperre so tut.

„In XY werden die Troittoirs um 19 Uhr hochgeklappt“, heisst es über Kleingemeinden, in denen am Abend nichts los ist. Genau dasselbe lässt sich seit Monaten über meinen Wohnort auf Zeit sagen: sobald die Sonne untergegangen ist, kommt das öffentliche Leben in Playa del Inglés und Maspalomas praktisch zum Erliegen.

Um kurz nach 22 Uhr, wenn schon alle zuhause und in ihren Hotels oder Ferienwohnungen sein sollten, sind nur noch einzelne Menschen unterwegs. Dann wird es ruhig und ruhiger. Gegen Mitternacht ist ausser dem Summen eines Generators im Hotel gegenüber und dem Gezwitscher einiger Vögel nichts mehr zu hören. In fast allen Häusern sind die Lichter erloschen.

Bis gegen 1 Uhr passiert nichts, ausser, dass eine braune und eine weisse Katze miteinander über die Strasse laufen.

Dann überstürzen sich die Ereignisse: vor einem heruntergekommenen Shoppingcenter hält ein Taxi. Gleichzeitig streichen die Scheinwerfer eines Polizeiwagens über den Asphalt in einem Bungalowquartier. Vor lauter Action weiss ich kaum, wohin schauen. Das Taxi fährt los und biegt nach links ab. Die Polizei patrouilliert offenbar nur. Schüsse sind jedenfalls keine zu hören.

Um 2.30 Uhr verstummt die Maschine im Hotel vis-à-vis. Jetzt ist es wirklich totenstill.

3.10 Uhr: Ein leerer Bus rollt über die Kreuzung. Er wirkt seltsam fehl am Platze.

3.15 Uhr: Der Abfluss des nachts leeren Whirlpools 12 Stöcke unter mir gurgelt minutenlang. Wenn ich Stephen King wäre, würde ich auf der Stelle eine Kurzgeschichte über eine vollbusige Versicherungsvertreterin schreiben, die sich nach einem harten Arbeitstag in diesem Becken entspannt. Auf einmal verspürt sie einen Wirbel unter dem Hintern. Sie ahnt nichts Böses und döst weiter. Kurz darauf wird sie durch das kleine Loch im Boden rübis und stübis in die Kanalisation gerissen.

Bevor der Hauswart den Whirlie im Morgengrauen mit frischen Wasser füllen kann, muss er Blut wegfegen, Gehirnmasse herausklauben und Knochensplitterchen entsorgen. Dazu hört er Musik. Als ihm der Zufallsgenerator ein Lied von Xavier Naidoo in die Kopfhörer spült, wird ihm übel.

Ich weiss nicht, wie King immer auf solche Ideen kommt. Das ist doch einfach krank.

20 Minuten später schleicht ein Schatten über die Wand eines Ferienhäuschens neben meinem Hotel. Ich denke: hoppla, ein Einbrecher. Die Silhouette verschwindet im Dunkeln. Etwas scheppert. Wenig später höre ich hinter dem Haus ein Plätschern. Bislet der Dieb in den Garten? Wenn ja: wieviele Liter kann ein Mensch trinken? Das Plätschern kommt näher. Auf einmal sehe ich einen Mann in einer Windjacke. Er hält etwas in der Hand; einen Schlauch. Daraus spritzt Wasser. Ich kombiniere: Der Mann ist nicht zum Klauen hier, sondern zum Rasengiessen.

Gegen 4 Uhr fahren drei Taxis zum Yumbo-Einkaufszentrum. Sechs oder sieben Leute steigen ein. Ihr Lachen ist bis hierher zu hören. In mehreren Häusern wirds hell. Playa del Ingles scheint langsam zu erwachen. Ich sehe das erste Privatauto dieses Tages und weitere Taxis. Dann wieder einen Bus.

Der Gärtner hat seine Arbeit getan. Ein Bäcker parkiert vor dem Hotel. Er entnimmt seinem Lieferwagen eine Kiste und schletzt die Hintertür mit dem Ellenbogen zu. Eine junge Frau stellt ihren Roller auf dem Trottoir vor einem Mehrfamilienhaus ab. Im kalten Licht des Eingangsbereichs sucht sie nach einer Klingel. Die beiden Katzen sind wieder da. Vögel pfeifen.

In zwei Stunden wird die Sonne aufgehen. Ich denke schon lange nicht mehr ans Schlafen. Jetzt wäre es dafür sowieso zu spät.

Abgesehen davon: es war noch spannend, stundenlang nichts zuzuschauen.

Auf der Homeoffinsel (28)

Sonntag, 28. Februar 2021, 6.20 Uhr

Wie jeden Sonntag bleibe ich länger als üblich im Bett liegen, um über den Raum und die Zeit und gewisse Dinge dazwischen nachzudenken.

Gründe dafür gibt es genug. Bei zweien handelt es sich um Fotos.

Die eine

schickte mir Chantal gestern Morgen per Whatsapp.

Ich hatte keine Ahnung, an welchen Ort Tess mit ihr gerade unterwegs war, und mochte sie auch nicht danach fragen. Tess kann sich schliesslich chauffieren lassen, wohin sie will.

Ein halbe Stunde danach wusste ich es dennoch. Denn dann übermittelte mir Marvin Portmann, der Geschäftsführer des Hotels Stadthaus an meinem Zweitwohnsitz, die andere Aufnahme:

Tess war mit Chantal also nach Burgdorf gefahren, um in der ihrer Oberstadt posten zu gehen. Dort traf sie mit Marvins Sohn einen langjährigen Fan.

Ich schickte Chantal Marvins Schnappschuss sofort. Vermutlich poppte er in dem Moment auf dem Bildschirm ihres iPhones auf, in dem sie den Laden, in welchem sie einkaufen war, verliess, Marvin samt Junior sah und mit ihnen zu plaudern begann.

Als mir das bewusst wurde, begann es in meinem Kopf zu „wärche“, wie der Ämmitauer sagt, und zwar in einem Mass, dass das Gehirn mit der Arbeit bis jetzt nicht fertig wurde.

Eine Frage beschäftigt mich besonders: Wie hätte sich das vor 30 Jahren abgespielt?

Abgesehen davon, dass in dem Fall eine Primarschülerin am Steuer ihres Autos einen neben ihr sitzenden Hund fotografiert hätte, der erst in einem Vierteljahrhundert geboren würde: es wäre auch technisch und finanziell mit etwelchem Aufwand verbunden gewesen und hätte, um zumindest ähnlich zu enden, einer – eben – unheimlich anmutenden zufälligen Synchronisation des Raum/Zeit-Kontinuums bedurft, wobei selbst dann nicht gesagt gewesen wäre, dass sich die Dinge letztlich so zusammengefügt hätten, wie sie nun, 30 Jahre später, vollautomatisch miteinander verschmolzen.

(Wenn das kein simpler Satz war: was wäre dann einer?)

Chantal hätte den Film, sobald er irgendwann voll gewesen wäre, aus der Kamera genommen, zum Entwickeln gebracht und nach ein paar Tagen die Abzüge geholt. Einen davon hätte sie mir vielleicht, vielleicht aber auch nicht (Porto!), per Post nach Gran Canaria geschickt, wo ich ihn zwei Wochen oder so später erhalten hätte.

Weiter hätte Marvin am selben Morgen seinen Fotoapparat mit auf den Marktbummel nehmen und, wenn auch sein Film in 24 oder 36 bunte oder schwarzweisse Papiere verwandelt worden wäre, auf die Idee kommen müssen, mir auf demselben Weg eine Kopie der Bub-mit-Tess-Aufnahme zukommen zu lassen.

Beim Betrachten der Bilder hätte ich mich sehr über die Grüsse aus der Heimat gefreut. Zur Erkenntnis, dass sie etwas miteinander zu tun haben könnten, wäre ich aber kaum je gelangt.

Heute senden wir Fotos, die wir vor zwei Sekunden geschossen haben, mit einer so abartigen Geschwindigkeit rund um den Erdball, dass die Empfänger sie betrachten können, bevor wir unser Handy nach dem Abdrücken in der Hose verstaut haben. Wir brauchen nicht nach Adressen zu suchen, Couverts zu kaufen, Marken draufzukleben und zum Briefkasten zu laufen.

Das alles läuft, wie endlos viel anderes, praktisch von selber, und wir denken, während wir es laufen lassen, keine Sekunde darüber nach, dass alles, was wir mit unseren Smartphones, Tablets und artverwandten Gerätschaften in grösster Achtlosigkeit anstellen, vor vergleichsweise sehr kurzer Zeit bestenfalls eine Vision war und im Grunde genommen ein unfassbares Wunder darstellt.