Auf der Homeoffinsel (30)

Dienstag, 2. März 2021, 11 Uhr

Psychologen, Suchtberaterinnen und RAV-Mitarbeitende sind sich einig: um strukturiert durch seine Tage zu kommen, braucht der Mensch eine Tagesstruktur.

Zu meiner gehört, dass ich jeden Morgen, wenn die Ausgangssperre vorbei ist, spazieren gehe zu einem zweistündigen Powerbummel ausrücke.

Am Anfang lief ich wie ein Tourist, der zum ersten Mal Playa del Inglés besucht, kreuz und quer durch die Stadt. Wichtig war und ist mir, dass der Weg mindestens 10 Kilometer lang ist.

Inzwischen habe ich eine Strecke gefunden, die exakt meinen Wünschen entspricht. Sie führt ohne Schattenabschnitte durch belebte Quartiere, in blumenumrankte Winkel und an den Atlantik. Die drei grossen Kreisel auf der langen Geraden umrunde ich zur Schärfung meines Orientierungs- und Gleichgewichtssinns manchmal mehrfach.

Weil ich immer zur plusminus gleichen Zeit losmarschiere, sehe ich unterwegs oft dieselben Leute. Die einen stellen Waren vor die Läden, andere rauchen in den Eingängen von Bürokomplexen und Zahnarztpraxen so diskret wie wir einst als Teenager hinter dem Beinwiler Bahnhofschuppen, manche führen ihre Hunde aus.

Bis zur Verbrüder- und -schwesterung mit diesen Menschen wirds nochly dauern. Hier und da längts aber doch schon für ein kurzes gegenseitiges ¡Hola! (das verkehrte Ausrufezeichen geht mir inzwischen so leicht über die Lippen wie den Eingeborenen) oder ein munteres „buen día“.

Nach 8,4 Kilometern lande ich in der „Klamotte“ am Meer unten, um zwei Liter Agua con gas zu tanken und mit einem der beiden Kellner zu plaudern, die Corona noch nicht von der Lohnliste gefegt hat. Vor anderthalb Jahren wuselten in dieser Beiz sechs Servicekräfte zwischen den Gästen herum.

Am Ende lege ich einen 5 Euro-Schein auf den Tisch, rufe „Hasta la vista!“ in Richtung Küche, montiere die Maske und nehme ohne zurückzuschauen

die Strasse obsi die letzte Etappe zu meinem Hotel in Angriff.

Dann beginnt der Arbeitstag. Um 13 Uhr herum verputze ich einen Teller Meeresfrüchte oder einen Fisch mit Gemüse. Anschliessend gehts zurück ins Büro.

Am Feierabend schwimme ich anderthalb Kilometer im Pool. Zum Znacht gibts ein Salätli. Im Zimmer lese oder schreibe ich oder schaue ich fern, bis meist ziemlich zeitig das Sandmännchen kommt. Es hat vom Strand her ja nicht weit.

Wenn ich gerade so darüber nachdenke: Ich habe hier mindestens soviel Struktur wie zuhause. Und erst noch mehr Bewegung.

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