Hundert Stunden Nichtstunmüssen: Wie habe ich mich danach gesehnt! Dank des langen Auffahrtswochenendes komme ich endlich dazu, meine inzwischen nicht mehr ganz neue Wohnung zu inspizieren, gründlich zu putzen, den Ghüder zu entsorgen und den einen oder anderen der vielen Filme zu geniessen, die sich in meiner Swisscom-Box arbeitsbedingt immer höher stapeln.
Einen schönen Teil der vielen freien Zeit werde ich tagsüber schlossbestaunend auf dem Balkon und nächtens batterienaufladend im Bett verbringen (oder umgekehrt), und falls alles läuft, wie es laufen sollte, bleibt mir sogar noch ein Eggeli Zeit, in dem ich mir zur Abwechslung von all den Auswärtsfuttereien der letzten Monate wieder einmal selber etwas kochen kann.
Auch die Leute in meinem Quartier scheinen die kurze Pause vom Alltag zu schätzen: In der Burgdorfer Altstadt herrscht eine Ruhe wie schon ewig nicht mehr, dabei ist die Auffahrt noch keine fünf Stunden alt.
Es fliesst nach wie vor recht gemächlich dahin, das Leben, wie „Der lange, ruhige Fluss“ von Étienne Chatiliez (diesen Film habe ich nie gesehen, aber immerhin weiss ich, dass er eine Familie porträtiert, bei der sich alles um den Fernseher dreht, und von daher passt er gar nicht schlecht in die langsam zu Tode bemühten „Zeiten wie diese“), und alles ist wieder gut oder zumindest dabei, besser zu werden, ausser in Basel,
aber wenn wundert das bei einem Stamm, dessen Angehörige in grosses Wehklagen ausbrechen, wenn sie einmal in zweitausend Jahren darauf verzichten müssen, Ende Winter in aller Herrgottsfrühe piccolölend und trümmelend durch die Gassen zu wanken, und die ausser inhaftierten Tieren und einem Tennisspieler nichts haben, womit sie vor dem Rest der Welt bluffen können, oder ämu sehr viel weniger als, sagen wir, Burgdorf mit seiner Altstadt und dem Schloss und überhaupt?
Imposanter als jedes Zoozebra: das Schloss aller Schlösser.
Nadisna kehren die Leute aus ihren Home Offices an die Arbeit in ihre Büros zurück. Das dürfte nicht allen gleich leicht fallen: Der eine oder die andere hat sich mit seinen Aktenstapeln und ihren Kundendossiers in den letzten zwei Monaten womöglich so gäbig zwischen Schlafzimmer und Küche eingerichtet, dass er oder sie keinen Grund für ein übereiltes Comeback im vom Chef überwachten Massenschlag sieht.
Meine Zeit als Dauerheimwerker ist ebenfalls abgelaufen, aber ich kann meine geschäftlichen Habseligkeiten im Gegensatz zu vielen anderen Erwerbstätigen freiwillig und ohne nennenswerte Gemütlichkeitseinbussen von hier nach dort verlegen:
Home Office, extended Version.
Wie wird das wohl sein in einigen Jahren, wenn die Eltern ihren Kindern von früher erzählen? „Weisst du, Max: Bevor wir dich an einem dieser langweiligen Aprilnachmittage des Jahres 2020 eher versehentlich zeugten, weil uns das ewige Netflixen grad etwas verleidet war, gab es sogenannte Festivals, an denen Tausende von Menschen miteinander Musik hörten, und glaubs oder nicht: zur Begrüssung küssten sich auch wildfremde Leute dreimal auf die Wangen.“
Was wir zu Jahresbeginn noch als undenkbar abgetan hätten, wurde fast über Nacht Wirklichkeit. Das Abnormale von gestern ist die Normalität von heute (und morgen. Und übermorgen. Und so weiter). Die Markierungen, mit denen wir in den Beizen, in den Läden und auf den Märkten seit Kurzem auf Abstand gehalten werden, sind bald überflüssig. Die meisten von uns haben sich bereits daran gewöhnt, einander distanziert zu begegnen, aufs Händereichen zu verzichten und schriftlich oder in Videokonferenzen zu klären, was sie zuvor von Angesicht zu Angesicht regeln konnten.
Dadurch sind die Infektionszahlen rapide gesunken, doch irgendwie mag ich mich trotzdem nicht recht darüber freuen, dass wir diese Massnahmen schon soweit verinnerlicht haben, dass sie uns als alltäglich erscheinen.
Sie sorgen zwar für Sicherheit. Aber auch dafür, dass sich der Frühsommer 2020 seltsam kühl anfühlt.
„Es gab eine Zeit, lieber Max, in der die Menschen nicht ängstlich durch die Bahnhöfe hasteten, und manchmal dicht an dicht nebeneinander standen, um schöne Musik zu geniessen.“
Seit bald einer Woche habe ich einen Mann aus einem Haus gegenüber nicht mehr aus dem Fenster gucken sehen. Die Läden sind geschlossen und die Wand dahinter macht ganz den Eindruck, als ob sie ein paar Streicheinheiten vertragen könnte.
Jetzt stecke ich in einem Delirium: Macht man sich in so einem Fall Sorgen (gelebte Nachbarschaftshilfe braucht sich ja nicht darin zu erschöpfen, Angehörigen von Risikogruppen regelmässig seine Essensreste vor die Türe zu kippen), oder geht man einfach davon aus, dass auch in einer abgedunkelten Wohnung alles in Ordnung sein kann?
Bis am nächsten Freitag rede ich mir nun einfach ein, dass der Herr vor lauter Lockdown-Lockerung eine gottsjämmerliche Migräneattacke erlitt, die nur im Stockfinsteren halbwegs aushaltbar ist. Wenn bis dann kein menschliches Antlitz zu sehen sein sollte, alarmiere ich die Maler.
Noch fast mehr Bedenken habe ich, was die Zukunft von uns allen betrifft, und zwar: Als Webmaster der Minigolf Burgdorf AG erachtete ich es gestern als meine Pflicht, den Freundinnen und Freunden dieses Spielparadieslis auf dessen Facebookseite mitzuteilen, weshalb sie ihrem Hobby frühestens ab dem 8. Juni wieder frönen können.
Um meine Worte mit etwas Zusatzgewicht zu beschweren, stellte ich dazu einen Brief online, den die Wirtschafts-, Energie- und Umweltdirektion den Betreibern der Anlage geschrieben hatte.
Die Tinte auf dem Bildschirm war noch am Trocknen, als die Nachricht auch schon kommentiert wurde:
Wenn ich noch trinken würde – ich hätte spontan zur Flasche gegriffen. Aber weil ich ein vernünftiger Hannes bin, beliess ich es dabei, meinen Kopf ein paar Mal mit Anlauf auf den Schreibtisch zu hauen.
Burgdorf feierte am Wochenende ein kleines Comeback: der Samstagsmarkt ist wieder da. Gemüse, Käse, Brote und so weiter und so fort sind ab sofort wieder openair zu haben, wenn auch unter etwas erschwerten Bedingungen. Mit Markierungen, Schildern, Seilen und anderen Mitteln wurden die Menschenströme coronakompatibel kanalisiert.
An die meisten dieser Massnahmen habe ich mich gewöhnt, an andere noch nicht ganz. Jedesmal, wenn ich ein rotes Absperrband sehe, wähne ich mich in einem Krimi, nur ohne Leiche und einen Kommissar, der zu seinem Assistenten sagt, „Schlag auf den Hinterkopf mit einem stumpfen Gegenstand. Das waren Profis. Geh mal die Leute fragen, vielleicht hat wer was gesehen“, worauf der Assistent, dessen Freundin die Nacht mit dem Kommissar verbracht hat, was der Assistent aber erst im Laufe der Ermittlungen und natürlich als Letzter erfahren wird, missmutig von dannen zottelt und in einem abgewrackten Mehrfamilienhaus alsbald vor einem Mann in ausgeleierten Feinrippunterhosen und schmuddeligem T-Shirt steht, der lallt, er sei gerade dabei, Buchhaltungsarbeiten für die Firma XY zu erledigen, und der frustrierte Vize-CEO welcher Firma steckt, wie sich in den letzten drei Minuten herausstellt, wohl hinter dem Mord, welcheriwelcher?
Jedenfalls: Ich scheine nicht der einzige zu sein, der mit diesen Bändern chly Mühe hat. Ein Beizer in Downtown Burgdorf empfindet offensichtlich ähnlich, weshalb er die Benutzer (die weibliche Form kann ich mir in diesem Zusammenhang glaub schenken ohne zu riskieren, in einen Tschendershitstorm zu geraten) der Versäuberungszelle seines Restaurants mit anderen Mitteln auf Distanz hält:
Es dürfte nicht lange dauern, bis sich Männer, deren Blasen nicht mehr über die Power einer Feuerwehrspritze verfügen, auf dem Bundesplatz zusammenrotten, um schweigend gegen diese menschenunwürdigen Bedingungen zu protestieren und dabei Kartonschilder mit der Aufschrift „So ein Seich“ hochzuhalten.
Wo werden mehr Viren umhergeschleudert? Auf der Minigolfanlage oder in der Ikea?
Sehr geehrte Bundesrätinnen und Bundesräte, werte Regierungsräte und Regierungsrätinnen
Eine Woche nach dem 11. Mai aller 11. Maie kann ich aus Burgdorf melden: Die Lockerungen der Anticorona-Massnahmen zeitigen erste Erfolge. Die Menschen gehen nicht nur raus auf die Strassen und Gassen, sondern auch rein in die Beizen und Läden, und viele von ihnen – wenn auch längst nicht mehr alle – halten sich dabei vertrauensvoll und verantwortungsbewusst an Ihre Verhaltensregeln.
Sie, geschätzte Oberbefehlshabende, wissen aus eigener Erfahrung: In Schreiben, die so beginnen, kommt früher oder später ein „Aber“. In diesem Fall kommt es eher früher, nämlich jetzt.
Aber bei aller Freude darüber, dass das soziale und wirtschaftliche Leben langsam wieder Fahrt aufnimmt, stelle ich doch fest, dass Einiges nicht zusammenpasst. Ich mache Ihnen das nicht zum Vorwurf. Niemand kann ernsthaft von Ihnen erwarten, dass Sie jedesmal, wenn Sie etwas beschliessen, an sämtliche Mitmenschen, Geschäfte, Vereine und Institutionen denken, die von diesem Entscheid betroffen sein könnten.
Und doch wäre da, einerseits, die Sache mit den Restaurants. Ich kenne Gastronomen, die fünfstellige Summen investierten, um ihre Lokale mit Plexiglaswänden und anderen Massnahmen coronakompatibel umzugestalten. Während sie versuchen, ihren Gästen auch unter widrigen Umständen ein kulinarisch-gesellschaftliches Erlebnis zu bieten, machen andere Betriebe plusminus da weiter, wo sie am 16. März aufhören mussten.
Jene Beizer, die Ihren Anweisungen gefolgt sind, kommen sich deshalb etwas – entschuldigen Sie bitte den Ausdruck – verarscht vor. Nach dem Motto „Es ist, wie es ist“ sind sie zwar weit davon entfernt, sich zu beklagen. Sie freuen sich vielmehr darüber, wieder für ihre Kundinnen und Kunden dasein zu dürfen. Was sie stört, ist die Tatsache, dass der Kampf um die Klientel mit ungleich langen Spiessen geführt wird, beziehungsweise, dass kaum jemand konsequent kontrolliert, wie lange die Spiesse sind.
Mir ist schon klar, dass die Polizei noch anderes zu tun hat, als Tag für Tag durch Restaurants zu patrouillieren, um nachzusehen, ob alles ist comme il faut. Nur muss, wer A wie „Auflage“ sagt, auch B wie „Besonderes Augenmerk darauf legen, ob A eingehalten wird“ sagen, sonst gibt das nur Irritationen und Frustrationen oder kurz: Probleme, und an solchen herrscht aktuell ja auch so schon kein Mangel.
Und da sind, andererseits, die Betreiberinnen und Betreiber von unzähligen Spiel- und Sportstätten. Sie bekommen auf ihren privaten Poschtiausflügen mit bemühender Regelmässigkeit mit, wie Heerscharen sich vom frühen Morgen bis am späten Abend durch grosse Einkaufszentren wälzen, beissen mit ihrem Wunsch, ebenfalls wieder Geld verdienen zu dürfen, allerdings auf Granit.
Ich bin kein Gesundheitsexperte, aber trotzdem ziemlich sicher, dass ein paar Dutzend Personen auf einem – sagen wir – Minigolfparcours oder Pétanqueplatz im Freien weniger Viren umherschleudern als Tausende von Leuten in der Ikea.
Wer seinen Lebensunterhalt – oder zumindest einen Teil davon – in der Freizeitbranche verdient, verbrachte schon sehr trostlose Ostern. Am Donnerstag beginnt das lange Auffahrtswochenende, dann folgen Pfingsten. Die Wetterfrösche sagen sonnig-warme Tage voraus.
Wäre es mit Blick darauf nicht angezeigt, die eine oder andere Weisung in den nächsten Tagen noch einmal zu überdenken?
Klein, aber mein: Ungefähr so hätte ich auf Jamaica vermutlich gehaust.
Es gab eine Zeit, in der ich halb achtelwegs ernsthaft erwog, nach Jamaica auszuwandern. Dort, stellte ich mir vor, könnte ich unter der rund um die Uhr scheinenden karibischen Sonne tagein und -aus vor verlotterten Openairbars höcklen und den Klängen zotteliger Reggaemusiker lauschen.
Hin und wieder kämen Bob Marley oder Peter Tosh vorbei, um zu berichten, wie es mit ihren neuen Platten vürschigeht, und wenn mir der Sinn nach etwas Bewusstseinserweiterung stünde, müsste ich nur Joe, dem Grashändler meines Vertrauens, winken, und schon würde er mit einen Hämpfeli seines getrockneten Krauts über die staubige Strasse schlurfen.
Hätte ich meinen nicht sonderlich ausgegorenen Plan in die Tat umgesetzt, sässe ich in dem Paradies, für das ich Jamaica damals gehalten hatte, sehr viel tiefer im Seich als heute in dem Land, dem ich wegen all seiner Vorschriften und Regeln und seiner spiessigen Kurtfurglerhaftigkeit einst den Rücken zu kehren trachtete.
Am 10. März wurde auf der Insel der erste Coronafall bestätigt, eine Woche später gab es das erste Todesopfer zu beklagen. Bis heute verstarben acht weitere Personen an Covid-19. Am 1. April verhängte die Regierung eine generelle Ausgangssperre. Sie gilt nach wie vor, wenn auch „nur“ noch zwischen 20 und 5 Uhr. Die Grenzen bleiben bis frühestens Ende Mai geschlossen, die Schulen sicher bis im September. Der Staat ist bis über alle 6 Millionen Ohren verschuldet.
Von den Milliarden, die die Schweiz seit Mitte März in die Wirtschaft gepumpt hat, könnte Jamaica vermutlich bis zum Weltuntergang leben, und zwar unabhängig davon, ob er schon Ende November stattfindet oder erst in 461 Jahren.
„Every little thing’s gonna be alright“: Damit dürfte es auch auf Jamaica noch dauern.
Das führt uns fast zwangsläufig zur Frage: Gibt es überhaupt noch Länder, die von Corona verschont blieben?
Yo Mann, die gibts offenbar. Allseits bekannt ist, dass das offizielle Nordkorea behauptet, sich bester Gesundheit zu erfreuen, aber das war ja schon immer so. Gemäss der Süddeutschen Zeitung wurden auch in Turkmenistan und Tadschikistan bisher keine Infektionen nachgewiesen (dafür stiegen in Tadschikistan die Preise für Knoblauch und Zitronen ins Unbezahlbare, weil sie angeblich gegen Covid-19 schützen).
Die Cookinseln im Südpazifik seien ebenfalls virenfrei, berichtet das Blatt, und man fragt sich bei der Lektüre: Worüber reden die Menschen dort eigentlich, wenn sie sich auf dem Markt begegnen oder am Strand miteinander den Feierabend begiessen? Das Wetter ist ja immer öppe dasselbe, und irgendwann dürften auch Unterhaltungen über die unzähligen Offshore-Bankkonti auf dem Archipel etwas an Spannung verlieren (aber als nicht steueroptimierter Kunde der Berner Kantonalbank kann ich mich zumindest in dieser einen Hinsicht natürlich irren).
Wenn wir schon bei „irr“ sind: Turkmenistan, Tadschikistan oder Nordkorea wären valable Auswanderungsziele für jene Leute, die in Bern auch heute gegen die Anti-Pandemiemassnahmen des Bundesrats demonstrieren: Wo kein Corona, da nie Diktatur.
Mit von der Protestlerpartie ist bestimmt auch wieder Ruth Dürrenmatt,
die Tochter des klugen Friedrich. Sie wird mit ihrer Teilnahme an dieser Grusel-Veranstaltung einmal mehr beweisen, dass der Apfel unter gewissen Umständen halt doch weit vom Stamm fallen kann.