Chly schräg, das alles

Die Arbeitslosenzahlen steigen, aber die grosse Frage ist: Wann kann ich wieder in die Ferien fliegen?

Wer anderen eine Grube gräbt, sollte nicht im Glashaus sitzen, und doch: Vor zwei Wochen Vollmond, jetzt diese Daueraffenkälte, ständig Corona und am 29. Mai auch noch eine neue CD von Roland Kaiser – das muss es jetzt sein, das anus horribilis, und wann, wenn nicht jetzt, wo alle rundumverunsichert in ihren Wohnungen höcklen oder mit einem schon fast routinierten „Komm mir nicht zu nahe“-Habitus durch die Gassen huschen, wäre der perfekte Zeitpunkt, um eine Sekte zu gründen, die Jünger und Älter ein paar Monate lang zünftig auszunehmen und mit der Kollekte dann an einen Ort in einer fernen Galaxie zu verschwinden, an dem es keine Viren gibt und an dem immer nur die Sonne scheint und an dem nicht jede Mail mit „Ich hoffe, es geht dir gut“ beginnt und mit „Bleib gesund“ endet und wo die Lobbyisten sich nicht einen irrwitzigen Wettbewerb darum liefern, welche Branche von dieser Krise am schwersten betroffen ist und folglich der üppigsten staatlichen Unterstützung bedarf, und zwar sofort und zinslos, und an dem zumindest theoretisch die Wahrscheinlichkeit besteht, dass ich meinen Brüetsch real häufiger treffe statt immer nur in der Zeitung?

Von wegen „Sonne“: Einerseits malen Wirtschaftsfachleute täglich neue Horroszenarien (Rezession! Konkurse!! Arbeitslose!!!) an die Wand. Andererseits treibt eine verblüffend grosse Anzahl von kurz, kaum oder gar nicht mehr werktätigen Menschen primär eine Frage um: Kann ich vielleicht doch noch in diesem Sommer in die Ferien fliegen?

Es ist sowieso alles chly schräg: Während ich am frühen Morgen des 15. Mai schreibe, „während ich am frühen Morgen des 15. Mai schreibe“, wabern dicke Nebelschwaden durch den Wald, als ob November wäre. Dieselben Leute, die noch vor Kürzestem das Hohelied auf die lokalen Geschäfte sangen, füllen ihre Einkaufschörbli nach wie vor im Coop, in der Migros und im Denner, statt die aus dem künstlichen Koma erwachten local Dealers zu supporten oder sich auf dem Markt grundzuversorgen.

Ohne Pöstler, die plusminus rund um die Uhr Pakete in Hauseingängen deponieren, wäre das Stadtbild so unvollständig wie ohne Schloss, dabei ist ein grosser Teil dessen, was in den vergangenen Wochen hochtourig online bestellt wurde, wieder in nächster Nähe zu haben, und überhaupt: Wieso dürfen Tausende durch die Ikea bummeln, aber Dutzende nicht Minigolf spielen?

Lichtblicke gibts allerdings. Nach und nach merken die Leute, dass es noch andere Gesprächsthemen gibt als Corona, Corona oder Corona. Auf unserem gestrigen Waggu zum Beispiel unterhielten wir uns über alles ausser das Naheliegende, und das tat cheibe gut.

Auf der Strasse traf ich eine Bekannte, die – „man darf das ja fast nicht sagen“ – berichtete, sie habe die zweimonatige Zwangspause „richtig genossen“. Bisher hörte ich meist, der Hausarrest sei „schon nicht ganz einfach“ oder „ziemlich mühsam“ oder sogar „kaum zum Aushalten“ gewesen. Die Beizen erfreuen sich dem Vernehmen nach eines regen Zulaufs, und inzwischen haben es offenkundig auch die allermeisten Mitbürgerinnen und -bürger geschafft, einen Termin beim Coiffeur zu bekommen.

Das alles ist noch nicht wahnsinnig viel an Positivem, aber geng sövu, het s Müsli gseit.

Von Tisch zu Tisch

Jetzt läuft es also wieder, das normale Leben, oder ämu das, was wohl noch für eine sehr lange Weile als „normal“ gelten muss. Seit Montag sind die meisten Geschäfte und Restaurants wieder geöffnet, wenn auch mit Einschränkungen.

Nun wollte ich mit drei Freundinnen und Freunden herausfinden, wie sich ein Beizenbesuch in Coronazeiten anfühlt. Als Studienobjekt wählten wir das „Serendib“ im Burgdorfer Kornhausquartier.

Nachdem wir uns an der Hygienestation die Hände desinfiziert hatten, betraten wir das Lokal. Tabea Hölterhoff, die Pächterin, winkte uns zur Begrüssung mit schwarzbehandschuhten Händen freundlich zu und teilte uns durch ihre Gesichtsmaske mit, sie habe für uns im hinteren Bereich Plätze reserviert. Dort fühlt sich Tess, die dieser Premiere selbstverständlich ebenfalls beiwohnen wollte, am wohlsten.

Die Plexiglaswände zwischen den Tischen fallen kaum auf und wenn doch, dann nicht negativ, ganz im Gegenteil. Irgendwie wirken sie schick und beinahe so, als ob sie schon immer ein Teil des Konzepts gewesen wären.

Auf weissen Tüchern lagen die „Spielregeln“ sowie ein Papier, auf dem wir unsere Koordinaten angeben konnten, aber nicht mussten. Abgesehen davon liess nichts darauf schliessen, dass wir uns auf einem Terrain befanden, das von der Landesregierung soeben noch als verboten taxiert worden war.

In den folgenden drei Stunden verbrachten wir, was zu verbringen dürfen wir kaum gehofft hatten: einen rundumentspannenden Abend. In dieser Ambiance schafften wir es sogar, uns über Themen zu unterhalten, die nicht das Geringste mit Covid-19 zu tun hatten (an dieser Stelle: Herzliche Gratulation ans Regionalspital Emmental! Dort fand Chefarzt Robert Escher heraus, dass starke Blutverdünnung bei der Genesung von Corona-Patienten hilft).

Der Service, das Essen, die Stimmung: alles war tiptoppstens wie eh und je. Obwohl das Abschmecken mit Maske vermutlich nichts ist, woran ein Koch sich von einer Minute auf die andere gewöhnt, zauberten Manuel Hölterhoff, der das Restaurant mit seiner Tabea betreibt, und Muhim Ademi einen Hit nach dem anderen aus ihren Töpfen und Pfannen.

Wenn wir zwischendurch nach draussen gingen, um unseren Nikotinhaushalt zu regeln, sahen wir viele weitere Gäste, die ihren ersten Ausgang seit Ewigkeiten offensichtlich genossen. Dem Wirtepaar hätte auch ein Blinder angesehen, wie sehr es diesem Tag entgegengeplangt haben muss.

In der ganzen Zeit spürten wir weder, dass wir unter erschwerten Bedingungen tafelten, noch hatten wir Bedenken, uns irgendwo mit irgendetwas anstecken zu können, und nur schon, Mitte Mai 2020 sagen zu dürfen, man habe sich angstfrei ausserhalb seiner eigenen vier Wände bewegt, ist schon deutlich mehr, als man noch Mitte März 2020 erwarten konnte.

Gänzlich unerwartet war für mich auch die Ehre, die mir gestern Morgen im Regionalgericht Emmental-Oberaargau zuteil wurde: Den Angeklagten begleitete nicht nur seine Verteidigerin, sondern auch der Vater, eine Anwaltspraktikantin und eine Mitarbeiterin der Bewährungshilfe an den Prozess, weshalb es in den hinteren Reihen im Saal 3 chly eng wurde. Die Gerichtspräsidentin erlaubte mir kurzerhand, an dem Tisch Platz zu nehmen, an dem normalerweise der Vertreter oder die Vertreterin der Staatsanwaltschaft sitzt.

Aus einer noch privilegierteren Warte lässt sich ein Strafverfahren kaum mitverfolgen. Aber wer weiss: Wenn wieder einmal eine fünfköpfige Einbrecherbande samt juristischem Gefolge vor dem Gericht in Burgdorf antraben muss, gibts für mich amänd noch ein Upgrade. Dann darf ich vielleicht ganz vorne höcklen.

Ganz oben auf dem Rock’n’Roll-Thron sass jahrzehntelang David Coverdale, der frühere Sänger von Deep Purple und Gründer von Whitesnake. Statt mit seiner Band, wie geplant, auf einer grossen US- und Europatournee Nacht für Nacht Zigtausende von Fans zu begeistern, verbringt er seine Tage im Hausarrest. Die viele freie Zeit nutzt er unter anderem dazu, vor allen Leuten in seiner randvollen musikalischen Erinnerungskiste zu kramen.

Regelmässig setzt er sich an den Stubentisch, um unplugged Schmankerl aus seiner gloriosen Vergangenheit darzubieten. Es gibt nur ihn und seine Gitarre, ab und zu einen falschen Ton und gelegentlich einen Texthänger.

Doch was auch immer er wie auch immer zusammenklampft: Jedes einzelne Stückli kommt von Herzen und lässt hoffen, dass er diese naturbelassenen Perlen irgendwann auf einem Album „From the dining room table“ aneinanderreiht.

Alles Burgdorf, alles bestens

Natürlich wollte ich diesen Beitrag mit einem „Daumen hoch“-Bild illustrieren, aber diese Fotos sind im Moment – wie auch Plexiglaswände – leider ausverkauft.

Wer vor Corona je einen Montag in der Burgdorfer Altstadt verbrachte, weiss, wie sich ein Huhn in einer Massentierhaltungshalle fühlt. Vor den Läden drängelten sich die zum Teil von weither angereisten Leute lange vor 8 Uhr wie Teenager am Vorverkaufsschalter eines Justin Bieber-Konzerts, und sich bei einem Kafi von den Shoppingstrapazen zu erholen, war nur jenen vergönnt, die vor den bumsvollen Beizen stoisch auch stundenlange Wartezeiten in Kauf zu nehmen bereitwaren.

Auch wenn die Burgdorferinnen und Burgdorfer die zwei Monate Hausarrest mit einer schweizweit einzigartigen und damit wakkerpreiswürdigen Gelassenheit und Disziplin absassen, blickte ich diesem 11. Mai aller 11. Maie deshalb mit leisen Zweifeln in Sachen „Abstandhalten“ entgegen.

Doch als er sich langsam seinem Ende zuneigte, musste – nein: durfte – ich sagen: gut gemacht, Burgdorf, einmal mehr, oder, um genau zu sein: wie immer, wobei „gut“ weit untertrieben ist, aber wir wollens nicht übertreiben.

Bis zur nächsten Welle folgen ja noch ein paar weitere Tage der offenen Laden- und Restauranttüren, und wer weiss schon, ob wirklich alle Männer und Frauen, die in Bern gegen die Corona-Massnahmen protestierten, nach der Demo wieder in ihre Kliniken zurückkehrten, oder ob der eine und die andere von ihnen nicht auf einmal am Schlossfuss auftaucht um, zum Beispiel, Gratis-Schülertaxis für alle zu fordern.

Aber, eben: Zumindest aus meiner Optik verlief der Tag 1 n.Ld. ruhig. Ich sah weder ein Gstungg in der Schmiedengasse noch wurde ich Zeuge wüster Szenen im Gastrobereich. Soweit ich es überblicken konnte, brauchte die Polizei in Burgdorf wesentlich unhäufiger einzuschreiten, um die neue Ordnung aufrechtzuerhalten, als überall sonst.

Ich hörte aus den Lokalen keine verbotene Musik dröhnen und brauchte mich beim Anblick sich um ein Paar Socken prügelnder Zeitgenossen nicht fremdzuschämen.

Das lag, einerseits, sicher am überdurchschnittlich ausgeprägten Verantwortungsgefühl meiner fast schon sprichwörtlich vernünftigen Mitbürgerinnen und Mitbürger, und andererseits vielleicht auch daran, dass ich meine Wohnung nur für fünf Minuten verliess, um Tess‘ Hüeti mit hausgemachter Bolo zu versorgen.

Abgesehen davon waren die meisten Geschäfte und Beizen gestern sowieso noch geschlossen.

*Lots to take and lots to give. Time to breathe and time to live“: Das war, plusminus, das Motto am Tag 1 nach dem Lockdown. Vor allem ist das Zitat aber ein gäbiger Grund dafür, hier mal wieder chly Abba unterzubringen.

Der Lockendown

Kommt Zeit, kommt Schnitt: Wer zum Coiffeur will, braucht etwas Geduld.

So schön es für manche ja sein mag, dass der Lockdown ab morgen weitgehend gelockert wird – einen Nachteil hat die Aktion auf jeden Fall: Sämtliche Verschwörungstheoretiker, Besserwisser, Oberlehrer und Berufshysteriker (die Frauen sind ausdrücklich mitgemeint), die man in den letzten Wochen aus der Facebook-Freundesliste geputzt hatte, sind ab morgen wieder da, live und in Farbe, in den Läden, in den Beizen, im Bus und am Emmeufer, und rund um die Uhr im Modus „Mission“.

Sich ihrer im echten Leben zu entledigen, ist rein technisch betrachtet nicht viel umständlicher, als sie virtuell aus den Augen und dem Sinn zu streichen, aber juristisch nicht ganz ohne: Wer in der Schweiz vorsätzlich ein Menschenleben auslöscht, wandert für mindestens 5 Jahre hinter Gitter, und zwar unabhängig davon, ob es sich beim Opfer um einen geistig normalen Zeitgenossen handelt oder um jemanden, der oder die auch an diesem Wochenende gegen die Corona-Massnahmen des Bundesrates demonstrierte.

Ein Teil dieser Leute protestiert seit Kurzem (auch) gegen „diese STOPCOVID-App“, denn man habe ja „gesehen, was in China mit diesem Programm passiert“.

Was genau in China mit diesem Programm passierte, erläutern sie nicht, aber Asien = Böse und drum: weg damit, bevor es da ist, und wo liesse sich besser gegen das Teufelszeug wettern als auf Facebook, das die Verfechter des Datenschutzes bisher primär als Abschussrampe für Fotos aus allen Lebenslagen und Meldungen über persönlichste Befindlichkeiten nutzten?

A propos „weg damit“: Gestern ging ich zu einem Coiffeur mit ohne Anmeldung, um das möglichst zügig hinter mich bringen zu können, aber oha: Vor dem Laden sassen auf Klappstühlen zwei Männer und zwei Frauen, drinnen wurde im Akkord weggeschnippelt, was auf den Köpfen in den vergangenen Monaten gesprossen war.

Bevor auch ich mich in die Warteschlange einreihen durfte, begehrte ein Mann mit Mundschutz von mir zu wissen, wie ich heisse, woher ich komme und unter welcher Nummer und Mailadresse ich erreichbar sei, nur für den Fall. 25 Minuten könne es schon dauern, bis ich drankomme, sagte er. An dieser Prognose hatte ich leise Zweifel, aber er war der Profi, nicht ich.

Knapp eine Stunde später sagte der Mann, jetzt aber. Mit einer Pinzette und ziemlich etepetetig reichte er mir ein Paar hauchdünner Handschuhe und eine Gesichtsmaske.

Die Maske aufzusetzen, war kein Problem, doch jedesmal, wenn ich die Finger ausstreckte, riss das Latex, worauf der Mann zwei neue Händschli aus dem Truckli zupfte, die bei der kleinsten Bewegung erneut kaputtgingen, und so weiter und so fort, aber schliesslich war ich soweit sterilisiert, dass ich den Salong betreten durfte. So, dachte ich, muss sich Dr. House jeweils gefühlt haben, wenn er den Operationssaal enterte.

Nein: Wegen dieser Masken aus China beginnt man nicht zu schielen. Das ist nur wegen des Selfies.

Eine junge Frau beorderte mich auf einen frisch desinfizierten Sessel hinten rechts. Sie sei gleich wieder da, zwitscherte sie, und entschwand in den Backstagebereich, wo sie die nächsten zehn oder so Minuten damit zubrachte, für eine Kollegin, die gerade mit beiden Händen in einer hochkomplex auftoupierten Frise herumfuhrwerkte, Farbe zusammenzumischen.

Als sie ganz bei mir war, sagte ich ihr, sie solle mit dem Zwölfer einfach einmal rundherum fräsen, worauf sie sagte, so schnell gehe das nicht mehr: erst werde gewaschen. Das hätte ich heute Morgen bereits erledigt, erwiderte ich, aber der Frau wars nicht ums Diskutieren zumute: Waschen sei jetzt Vorschrift, erläuterte sie mir im Tonfall eines Kompaniekommandanten, der frisch eingerückte Rekruten mit den Dos und Don’ts des Kasernenlebens vertrautmacht.

Nach einer weiteren Ewigkeit warf sie die Maschine an und machte sich mit dem Eifer eines neuseeländischen Schafscherers ans Stutzen meiner pflotschnassen Locken. Kaum hatte sie damit begonnen, war sie fertig. Zum Abschluss stutzte sie fast schon andächtig die Filets in Form, dann liess sie den Nacken auslaufen und schwupp – hatte ich meine Coiffvid 19-Premiere überstanden.

Was die Haarlänge betrifft, könnte der Sommer jetzt also kommen.

Andererseits: Man hat ja gesehen, was mit dem Sommer in China passierte.

Flasche leer, Leben voll

„Quarantäne wird zwangsverordnet: Die amerikanischen Zöllner dürfen ab sofort ankommende Fluggäste festnehmen, wenn sie Sars-Symptome zeigen. Und britische Ärzte warnen: Sars führe weitaus häufiger zum Tod als bisher angenommen“, berichtete die Nachrichtenagentur sda am 8. Mai 2003. Der „Bund“ teilte mit, der Nationalrat greife der kränkelnden Hotellerie mit 100 Millionen Franken unter die Arme und Madonna verriet einem amerikanischen TV-Sender, sie liebe neuerdings Gerstensaft.

(Für die U40-Fraktion: Madonna war eine Sängerin, die – wenn überhaupt – BHs trug, die aussahen wie ein Doppelmatterhorn und die auf dem Flugplatz in Dübendorf das einzige von zwei Konzerten gab, das ich rückblickend lieber verpasst hätte; das andere war jenes der „Zillertaler“ auf dem Militärflugplatz von Interlaken 2001, was beweist: Konzerte auf Flugplätzen sind unbedingt zu meiden, aber die Frage, „Konzerte auf Flugplätzen besuchen: ja oder nein?“ dürfte sich inzwischen ja sowieso bis auf Weiteres erledigt haben).

Doch das alles interessierte mich an jenem Tag nicht. Den 8. Mai 2003 verbrachte ich auf der Gartenterrasse eines Hauses in Solothurn. Zu mehr, als Nachbars Katzen beim Spielen zuzuschauen, mochte ich mich nicht aufraffen.

Erinnerungen und Pläne, Hoffnungen und Träume, Gewissheiten und Unsicherheiten, Chancen und Ziele, Anfang und Ende, Alles und Nichts: In meinem Kopf und meinem Gemüt war viel zu viel los, als dass ich mich auf etwas Bestimmtes hätte konzentrieren können.

Gegen Abend holte ich ein weiteres Feldschlösschen aus dem Kühlschrank, und als ich den Deckel mit dem Feuerzeug von der Öffnung drückte, wusste ich: das ist mein letztes Bier. Am übernächsten Morgen rückte ich ins Bürgerspital Solothurn ein, um einen fünftägigen Alkoholentzug zu absolvieren. Anschliessend gings ohne Umwege weiter in die Südhang-Klinik in Kirchlindach, wo ich loswurde, was mich seit meiner Teenagerphase lang begleitet hatte.

17 Jahre sind seither vergangen. In dieser Zeit erschütterten zig Naturkatastrophen die Erde, fand in Deutschland eine mutmasslich gekaufte Fussball-WM statt, wurde zum ersten Mal ein Schwarzer Präsident der USA und ein Deutscher Papst, avancierte Roger Federer zum nach Albert Einstein berühmtesten Schweizer, demonstrierten in arabischen Ländern Hunderttausende gegen ihre Regimes, gab es unzählige Terroranschläge und Kriege und eine weltweite Finanzkrise, feierte die beste Band des Planeten ein grandioses Comeback.

sah sich Europa auf einmal mit endlosen Flüchtlingsströmen konfrontiert und so weiter, und so fort.

Vor allem aber verschwanden seither zig Leute, die mir nicht so gutgetan hatten, wie von selber von meinem Radar.

An ihre Stelle traten Menschen, die mein Leben jeden Tag zu einer rundum gefreuten Sache machen, und wenn ich jetzt gerade so darüber nachdenke, hat es sich „nur“ schon wegen ihnen gelohnt, am späten Nachmittag des 8. Juni 2003 einfach vor der leeren Flasche höcklenzubleiben statt in den Coop hinunterzugehen, um mir kurz vor Ladenschluss eine neue Kiste zu besorgen.