Der Lockendown

Kommt Zeit, kommt Schnitt: Wer zum Coiffeur will, braucht etwas Geduld.

So schön es für manche ja sein mag, dass der Lockdown ab morgen weitgehend gelockert wird – einen Nachteil hat die Aktion auf jeden Fall: Sämtliche Verschwörungstheoretiker, Besserwisser, Oberlehrer und Berufshysteriker (die Frauen sind ausdrücklich mitgemeint), die man in den letzten Wochen aus der Facebook-Freundesliste geputzt hatte, sind ab morgen wieder da, live und in Farbe, in den Läden, in den Beizen, im Bus und am Emmeufer, und rund um die Uhr im Modus „Mission“.

Sich ihrer im echten Leben zu entledigen, ist rein technisch betrachtet nicht viel umständlicher, als sie virtuell aus den Augen und dem Sinn zu streichen, aber juristisch nicht ganz ohne: Wer in der Schweiz vorsätzlich ein Menschenleben auslöscht, wandert für mindestens 5 Jahre hinter Gitter, und zwar unabhängig davon, ob es sich beim Opfer um einen geistig normalen Zeitgenossen handelt oder um jemanden, der oder die auch an diesem Wochenende gegen die Corona-Massnahmen des Bundesrates demonstrierte.

Ein Teil dieser Leute protestiert seit Kurzem (auch) gegen „diese STOPCOVID-App“, denn man habe ja „gesehen, was in China mit diesem Programm passiert“.

Was genau in China mit diesem Programm passierte, erläutern sie nicht, aber Asien = Böse und drum: weg damit, bevor es da ist, und wo liesse sich besser gegen das Teufelszeug wettern als auf Facebook, das die Verfechter des Datenschutzes bisher primär als Abschussrampe für Fotos aus allen Lebenslagen und Meldungen über persönlichste Befindlichkeiten nutzten?

A propos „weg damit“: Gestern ging ich zu einem Coiffeur mit ohne Anmeldung, um das möglichst zügig hinter mich bringen zu können, aber oha: Vor dem Laden sassen auf Klappstühlen zwei Männer und zwei Frauen, drinnen wurde im Akkord weggeschnippelt, was auf den Köpfen in den vergangenen Monaten gesprossen war.

Bevor auch ich mich in die Warteschlange einreihen durfte, begehrte ein Mann mit Mundschutz von mir zu wissen, wie ich heisse, woher ich komme und unter welcher Nummer und Mailadresse ich erreichbar sei, nur für den Fall. 25 Minuten könne es schon dauern, bis ich drankomme, sagte er. An dieser Prognose hatte ich leise Zweifel, aber er war der Profi, nicht ich.

Knapp eine Stunde später sagte der Mann, jetzt aber. Mit einer Pinzette und ziemlich etepetetig reichte er mir ein Paar hauchdünner Handschuhe und eine Gesichtsmaske.

Die Maske aufzusetzen, war kein Problem, doch jedesmal, wenn ich die Finger ausstreckte, riss das Latex, worauf der Mann zwei neue Händschli aus dem Truckli zupfte, die bei der kleinsten Bewegung erneut kaputtgingen, und so weiter und so fort, aber schliesslich war ich soweit sterilisiert, dass ich den Salong betreten durfte. So, dachte ich, muss sich Dr. House jeweils gefühlt haben, wenn er den Operationssaal enterte.

Nein: Wegen dieser Masken aus China beginnt man nicht zu schielen. Das ist nur wegen des Selfies.

Eine junge Frau beorderte mich auf einen frisch desinfizierten Sessel hinten rechts. Sie sei gleich wieder da, zwitscherte sie, und entschwand in den Backstagebereich, wo sie die nächsten zehn oder so Minuten damit zubrachte, für eine Kollegin, die gerade mit beiden Händen in einer hochkomplex auftoupierten Frise herumfuhrwerkte, Farbe zusammenzumischen.

Als sie ganz bei mir war, sagte ich ihr, sie solle mit dem Zwölfer einfach einmal rundherum fräsen, worauf sie sagte, so schnell gehe das nicht mehr: erst werde gewaschen. Das hätte ich heute Morgen bereits erledigt, erwiderte ich, aber der Frau wars nicht ums Diskutieren zumute: Waschen sei jetzt Vorschrift, erläuterte sie mir im Tonfall eines Kompaniekommandanten, der frisch eingerückte Rekruten mit den Dos und Don’ts des Kasernenlebens vertrautmacht.

Nach einer weiteren Ewigkeit warf sie die Maschine an und machte sich mit dem Eifer eines neuseeländischen Schafscherers ans Stutzen meiner pflotschnassen Locken. Kaum hatte sie damit begonnen, war sie fertig. Zum Abschluss stutzte sie fast schon andächtig die Filets in Form, dann liess sie den Nacken auslaufen und schwupp – hatte ich meine Coiffvid 19-Premiere überstanden.

Was die Haarlänge betrifft, könnte der Sommer jetzt also kommen.

Andererseits: Man hat ja gesehen, was mit dem Sommer in China passierte.

Flasche leer, Leben voll

„Quarantäne wird zwangsverordnet: Die amerikanischen Zöllner dürfen ab sofort ankommende Fluggäste festnehmen, wenn sie Sars-Symptome zeigen. Und britische Ärzte warnen: Sars führe weitaus häufiger zum Tod als bisher angenommen“, berichtete die Nachrichtenagentur sda am 8. Mai 2003. Der „Bund“ teilte mit, der Nationalrat greife der kränkelnden Hotellerie mit 100 Millionen Franken unter die Arme und Madonna verriet einem amerikanischen TV-Sender, sie liebe neuerdings Gerstensaft.

(Für die U40-Fraktion: Madonna war eine Sängerin, die – wenn überhaupt – BHs trug, die aussahen wie ein Doppelmatterhorn und die auf dem Flugplatz in Dübendorf das einzige von zwei Konzerten gab, das ich rückblickend lieber verpasst hätte; das andere war jenes der „Zillertaler“ auf dem Militärflugplatz von Interlaken 2001, was beweist: Konzerte auf Flugplätzen sind unbedingt zu meiden, aber die Frage, „Konzerte auf Flugplätzen besuchen: ja oder nein?“ dürfte sich inzwischen ja sowieso bis auf Weiteres erledigt haben).

Doch das alles interessierte mich an jenem Tag nicht. Den 8. Mai 2003 verbrachte ich auf der Gartenterrasse eines Hauses in Solothurn. Zu mehr, als Nachbars Katzen beim Spielen zuzuschauen, mochte ich mich nicht aufraffen.

Erinnerungen und Pläne, Hoffnungen und Träume, Gewissheiten und Unsicherheiten, Chancen und Ziele, Anfang und Ende, Alles und Nichts: In meinem Kopf und meinem Gemüt war viel zu viel los, als dass ich mich auf etwas Bestimmtes hätte konzentrieren können.

Gegen Abend holte ich ein weiteres Feldschlösschen aus dem Kühlschrank, und als ich den Deckel mit dem Feuerzeug von der Öffnung drückte, wusste ich: das ist mein letztes Bier. Am übernächsten Morgen rückte ich ins Bürgerspital Solothurn ein, um einen fünftägigen Alkoholentzug zu absolvieren. Anschliessend gings ohne Umwege weiter in die Südhang-Klinik in Kirchlindach, wo ich loswurde, was mich seit meiner Teenagerphase lang begleitet hatte.

17 Jahre sind seither vergangen. In dieser Zeit erschütterten zig Naturkatastrophen die Erde, fand in Deutschland eine mutmasslich gekaufte Fussball-WM statt, wurde zum ersten Mal ein Schwarzer Präsident der USA und ein Deutscher Papst, avancierte Roger Federer zum nach Albert Einstein berühmtesten Schweizer, demonstrierten in arabischen Ländern Hunderttausende gegen ihre Regimes, gab es unzählige Terroranschläge und Kriege und eine weltweite Finanzkrise, feierte die beste Band des Planeten ein grandioses Comeback.

sah sich Europa auf einmal mit endlosen Flüchtlingsströmen konfrontiert und so weiter, und so fort.

Vor allem aber verschwanden seither zig Leute, die mir nicht so gutgetan hatten, wie von selber von meinem Radar.

An ihre Stelle traten Menschen, die mein Leben jeden Tag zu einer rundum gefreuten Sache machen, und wenn ich jetzt gerade so darüber nachdenke, hat es sich „nur“ schon wegen ihnen gelohnt, am späten Nachmittag des 8. Juni 2003 einfach vor der leeren Flasche höcklenzubleiben statt in den Coop hinunterzugehen, um mir kurz vor Ladenschluss eine neue Kiste zu besorgen.

Die neue Virklichkeit (50 und Schluss)

Gemischte Gefühle: Der Lockdown-Lockerung blicken nicht alle gleich euphorisch entgegen.

Der römische Kaiser Hauteuchdrum irrte, als er den Spruch „Ein Mann, ein Wort – eine Frau, ein Wörterbuch“ prägte. Mit dem Sichkurzfassen haben etliche Herren genausoviel Mühe wie manche Damen.

Den Beweis dafür lieferten knapp 50 Personen aus meinem Umfeld. Einen Monat nach meiner ersten Corona-Umfrage wollte ich von ihnen wissen, mit welchen Gefühlen sie der Lockdown-Lockerung vom nächsten Montag entgegenblicken.

Die einzige Vorgabe war: die Antwort sollte aus einem Wort bestehen. Daraufhin trudelten aus beiden Geschlechterlagern folgende Stellungnahmen ein:

„Wirtschaftlich gseh sicher en Schritt vorwärts….gsundheitlich gseh hani Angst dasmer e riese Schritt rückwärts mache. Die Lüt nähmes ez scho z locker und wemmers ez ‚lockeret‘ händs s Gfühl sie müend uf gar nüt me ufpasse.“

„Skeptisch, vorsichtig und vor allem rebellisch und gegen den Strom, weil ich lieber verzichte, als beim Coiffeur eine Maske zu tragen und in der Beiz von Burka (sorry Masken)tragendem Personal bedient zu werden und ausserdem dem Schutzkonzept der Beizer nicht so richtig traue.“

„Bangen und hoffen“

„’Warum‘ (so viele Öffnungen auf einmal, zumal gewisse Erkenntnisse unklar oder neu sind wie Blutgefässe-Problematik-Syndrom bei Kids zum Beispiel).“

„Ich habe schon ein Bitzeli ein Lockout.“

„Leicht säuerlich“

„Zwei Stimmen, die sehr laut sind. Herz und Kopf. Der Kopf sagt: Cool down…die Dynamik der Ereignisse ist fast zu schnell und unberechenbar, um richtig agieren zu können…aber das Herz sagt: Power on…scheiss drauf. Sich besser auf das Kommende vorzubereiten, ist fast unmöglich! Egal, was wie oder wo: Wir kämpfen und geben alles, was wir haben…bis zum Schlusspfiff.“

Anderen Teilnehmenden fehlte das eine Wort. Also erfanden sie kurzerhand ein eigenes:

„Fürmichalszurrisikogehörendepersonirrelevant“

„Zaghaftigkeitsfreude“

„Happylockup“

„Ändlichwiderminilütxeh“

„Vorsichtigzuversichtlich“

„Obdasgutgeht“

Weitere Begriffe waren „Silberstreifen“, „Schule“, „Erleichterung“, „Freude“, „mutig“, „Sorgen“, „Skepsis“, „Unsicherheit“, „Gleichgültigkeit“, „Zuversicht“, „erleichtert“, „Geselligkeit“, „neugeboren“, „Bedauern“, „unsicher“, „gedankenlos“, „beklemmend“, „ambivalent“ und „Zwiespalt“.

Kein Thema war der Verzicht. Darüber machte sich der Bergsteiger Reinhold Messmer in der „Süddeutschen“ Gedanken:

Das ganze Interview kann hier nachgelesen werden. Es ist hinter einer Bezahlschranke versteckt, kostet aber nicht mehr als, sagen wir, eine Familienpackung Toilettenpapier.

Falls ich mich gefragt hätte: Ich hätte mir mit „gschmuch“ geantwortet. Meiner Ansicht nach kommt die weitgehende Wiederöffnung zu früh (aber gut: Ich habe leicht reden. Ich betreibe nicht ein Geschäft, von dessen Florieren das Wohl und Wehe von zig Leuten abhängt).

Obwohl ich in was auch immer stets das wo auch immer versteckte Positive zu sehen versuche, kann ich mir einfach nicht vorstellen, wie eine auf Egopflege und Ellbögle getrimmte Gesellschaft mit dem Geschenk, das ihnen die Landesregierung mit dieser Öffnung macht, verantwortungsvoll und vernünftig umgehen soll.

Dass die Läden und Restaurants – wenn auch mit Einschränkungen – wieder zugänglich sind, dürften sehr viele Schweizerinnen und Schweizer als Signal dafür auffassen, dass die Krise vorbei ist und sie die Regeln, nach denen sie ihr Leben in den letzten Wochen richten mussten, bestenfalls noch als unverbindliche Empfehlungen betrachten können.

Ein Kollege brachte es in einem Kommentar zu diesem Beitrag auf den Punkt: „Bi scho gspannt wie au die Lüt de i de Gartebeize ungerwägs si. Ah ihrne Vierertischli hocke, mit Abstand enang zueproschte u we si de zahle u gö ungerwägs no am Heiri u am Gritli no sälü säge wüu die ja ou do si.“

Zäme höckle, zäme gniesse, zäme pläuderle: Das Gemütliche von gestern ist das Gefährliche von morgen geworden, und wenn es kommt, wie es hoffentlich nicht kommt, sind wir schon bald wieder gleichweit wie heute, und dabei wäre es doch so einfach: Die Wirtschaft lässt sich immer irgendwie wiederbeleben, aber ein toter Mensch nicht, und wenn jetzt jemand kommt und behauptet, „dermassen viele Tote hats wegen Corona ja gar nicht gegeben!“, häscherets.

Dieser 50. Beitrag in der Reihe „Die neue Virklichkeit“ ist zugleich der letzte. Sooo neu ist die Wirklichkeit, in der wir wegen der Viren leben, inzwischen nicht mehr, und wies aussieht, sind immer mehr Menschen dabei, das Abnormale langsam als normal zu betrachten (zu versuchen) und sich mit der Lage so gut, wies halt geht, zu arrangieren.

Das gilt auch für mich und meinen Blog. Selbstverständlich schreibe ich hier weiter, aber nicht mehr in einer speziellen Rubrik, sondern, wie vor dem 16. März 2020, über alles, was im Alltag von mir und anderen Leuten so passiert oder kurz: darüber, was ist oder zumindest sein könnte.

Die neue Virklichkeit (49)

Gefährlicher als ein Massagesalon: Von einer Öffnung der Minigolfanlagen wollen die Lockerungsleute beim Kanton noch nichts wissen.

Kurz vor 13 Uhr telefonierte mir gestern Fredi von der Burgdorfer Minigolfanlage. Hörbar strahlend berichtete er, laut seinem Gewährsmann von der Corona-Hotline des Kantons dürften er und seine Andrea ihren Betrieb nach der zweimonatigen Zwangspause am 11. Mai wieder hochfahren, samt dem Openairrestaurant.

Wenig später sass ich mit Andrea in ebendiesem Beizli. Während wir miteinander plauderten, fuhr Fredi auf den Parkplatz. Wir sahen ihn telefonieren und telefonieren und zwischendurch die Hände verwerfen, dachten uns aber nichts dabei.

Dann stieg er aus. Das erste, was er sagte, war nicht „Tschou zäme“ oder so, sondern: „Kei Minigouf am elfte Mai.“ Sein Hotliner habe ihm soeben mitgeteilt, das gehe doch erst frühestens am 8. Juni wieder. Gäste zu bewirten, sei ab Montag erlaubt. Sie nebenan spielen zu lassen, bleibe hingegen verboten.

Ich lasse das jetzt einfach einmal unkommentiert so stehen. Nichts liegt mir ferner, als darauf hinzuweisen, dass es wahrscheinlich nur wenige Orte gibt, an denen die Leute in Rudeln und doch distanziert Zeit verbringen können, als Minigolfplätze. Oder zu fragen, wo sich Menschen und Viren wohl näher kommen: beim Kneten und Knetenlassen in einem munzigen Massagestudio oder beim Vonbahnzubahnschlendern im Freien?

Wies Bisiwätter löschte ich den „Juhuu! Wir sind gleich zurück“-Eintrag, den ich als Hüttenwart der Minigolf-Facebookseite nach Fredis Anruf gepostet hatte, und den viele Fans leikten, bevor die Tinte auf dem Bildschirm getrocknet war. Eine Frau hatte darunter geschrieben, diese Meldung sei für sie „die schönste Nachricht seit Langem“.

Nur so: Woher wusste Reinhard Fendrich schon 1991, dass 29 Jahre später nix mehr fix sein würde? Und wieso klingt dieser Song erst mit einem 5G-Anschluss richtig gut?

Was war noch?

Nicht viel, wie eigentlich immer seit dem 16. März, und wie vermutlich noch lange (ich betreibe ja keinen Coiffeursalon und kein Restaurant und – bhüetis I! – keinen Baumarkt), aber das ist ja egal, wie eigentlich alles seit dem 16. März, und wie vermutlich noch lange (ich leite schliesslich kein Gartencenter und kein Museum und – bhüetis II! – keine Schule).

Wobei: Langsam ziehts auch bei mir wieder an, und das erst noch ohne Masken und Händsche: Am Montag war ich für die BZ an einer Gerichtsverhandlung, an deren Ende ein junger Mann zu einer bedingten Geldstrafe und einer Therapie verurteilt wurde, weil er Tausende von Kinderpornos aus dem Darknet geladen hatte. Heute gehts im selben Saal um eine angebliche Vergewaltigung. Nächste Woche versucht vor den verbundenen Augen von Justitia ein mutmasslicher Brandstifter an Vorwürfen zu löschen, was möglicherweise noch zu löschen ist.

Weiter ist bei mir die Anfrage eines Unternehmers pendent, der die Website seines Betriebes neu betexten lassen will. Er hat ein Puff.

Aber gut: Das haben inzwischen bald alle, nur anders.

Bevor die Metoofraktion routinemässig überbeisst: In diesem Video (mit Kondensstreifen!) wirkt auch die Tennislegende John McEnroe mit. Der Anstand bleibt also gewahrt.

Die neue Virklichkeit (48)

Ein Fröööind, ein guter Fröööind, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt.

In meinem Kopf spielte sich diese Nacht Gruseliges ab: Unzählige Menschen, mit denen ich jahrelang mehr oder weniger regelmässig Kontakt hatte und die am 16. März von einer Stunde auf die andere von meinem Radar verschwanden, tauchten in einem Traum auf, und zwar buchstäblich: Ich ruderte an einem wunderprächtigen Sommertag über den Hallwilersee, als aus dem Wasser links und rechts und vor und hinter mir Figuren an die Oberfläche trieben, die genauso aussahen wie, eben, diese Menschen, nur verwester.

Seit dem Lockdown verkehre ich physisch noch mit sieben Personen. Mit ihnen gehe ich waggeln, treffe ich mich ab und zu auf einen Schwatz oder gönne ich mir das eine und andere Nachtessen, aber selbstverständlich nie mit allen zusammen, sondern immer höchstens zu Fünft. Diese Begegnungen sind jedesmal eine rundum gefreute Sache, auch wenn sie manchmal nur zehn Minuten dauern.

Wir hatten uns damals, als der Bundesrat den kollektiven Hausarrest verhängte, nicht feierlich geschworen, diese Zeit gemeinsam durchzustehen. Wir wussten oder spürten einfach, dass da jemand ist, auf den oder die man sich verlassen kann. Alles Weitere ergab sich wie von alleine.

Wenn wir uns sehen, stehen oder sitzen wir mit dem gebührenden Abstand zusammen und diskutieren die Welt in Ordnung. Trübsal blasen wir nie, ganz im Gegenteil, aber jedem Mitglied des exklusiven Zirkels ist klar, dass es jederzeit Trübsal blasen könnte, wenn es Trübsal blasen möchte.

Nur schon das Wissen darum tut besser als jeder Blick auf die Kurve, auch wenn diese unterdessen soweit abflachte, dass wir in einer Woche versuchen dürfen, ein bisschen in unser normales Leben zurückzukehren, was auch immer „normal“ dann heissen mag.

Überhaupt ist es interessant zu beobachten, wie die Menschen wegen Corona ihre ganz eigenen Plätze fanden, um die Überreste ihres Soziallebens zu pflegen. Ob beim Kronenplatzbrunnen, in der Hofstatt, in stillgelegten Beizen, auf Balkonen oder sonstwo: zum Teil plaudern Männer und Frauen, von denen ich nie gedacht hätte, dass sie sich irgendetwas etwas zu erzählen haben könnten, in einer Vertrautheit miteinander, als ob sie schon in der Schulzeit dickste Kumpelinnen und Kumpels gewesen wären.

Von anderen „Freundinnen“ und „Freunden“ habe ich mich am Sonntagabend getrennt, und zwar leichten Herzens und ohne, dass sie es merkten. 28 Facebook-Bekanntschaften, die ich bis vor Kurzem nicht als „ziemlich sehr sonderbar“ bezeichnet hätte, entpuppten sich in den vergangenen Wochen als besserwisserische Nervensägen, die mir regelmässig Videos von „Experten“ und Links zu Dokumenten schickten, die entweder „belegen“, dass Covid-19 von Irren mit Weltherrschaftsambitionen freigesetzt wurde oder „beweisen“, dass diese Krankheit nichts weiter als eine Grippe im XL-Format sei.

Sie alle putzte ich mit einem Mausklick aus meinem Leben, und seither gilt in meinem virtuellen Umfeld dasselbe wie im realen, nämlich: etwas weniger ist einfach viel mehr.

Das trifft jedoch nicht für alles zu, und offenbar ganz besonders nicht auf Barclay James Harvest. Nachdem ich gestern geschildert hatte, wie wir in jüngeren Jahren zu deren Musik…äh…tanzten und den Text mit „Poor Man’s Moody Blues“ anreicherte, schrieb mir eine Leserin: „Das war jetzt schön, wieder einmal B.J.H. zu hören. Von ihnen konnte ich als Teenager nie genug bekommen.“

Nun denn. Wenn unsere Disco gerade – und, wie ich befürchte, noch für eine sehr lange Weile – auf Eis liegt, kann ich Gästewünsche ja hier erfüllen, und zwar dreimal in handlichen Einzelportionen…

…und einmal als all inclusive Indervergangenheitschwelgpaket:

Soviele Menschen. Soviel Unbeschwertheit. Und soviel Mauer.

Von mir aus könnte das noch lange so weitergehen, doch in diesem Moment ist Pam erwacht. Sie braucht jetzt dringend Milch, Bananen und ein Joghurt.